Luthers Reise nach Rom. 1510 — 1511.

Luther hatte im Kloster zu Erfurt zweimal das Gelübde getan, dass er um seiner Sünden willen nach Rom pilgern und sich des Ablasses teilhaft machen wolle, der für solche Wallfahrt vom Papst verheißen worden. Nun bot sich 1510 eine Veranlassung zur Ausführung dieses Gelübdes dar. Es sollten zwei Augustiner-Mönche in Geschäften des Ordens, über deren Natur wir nicht genau unterrichtet sind, dahin abgehen, und Luther wurde vermutlich auf Betrieb seines Gönners Staupitz mit einem Andern dazu erwählt. Wer der Begleiter gewesen, wird nicht gesagt, auch scheint derselbe in keiner Weise hervorragend gewesen zu sein; denn Luther erwähnt seiner nur als seines Gefährten auf der Reise und führt niemals Etwas von ihm an, das auf seine Individualität irgend eine Art von Schluss machen ließe. Der Weg wurde zu Fuß gemacht, und die Klöster, die überall in großer Zahl vorhanden waren, wurden als Asyl für die Nachtruhe aufgesucht und benutzt. Von Reisegeld ist keine Rede. Nur zehn Dukaten wurden ihm mitgegeben, damit er sich in Rom bei Ausrichtung seines Geschäftes einen Fürsprecher verschaffen könne, weil ohne Bestechung dort nichts zu erreichen war. Die Reise ging über Heidelberg durch Schwaben, Bayern und Tirol nach Mailand. Es waren damals nur zwei Pässe über die Alpen gangbar und gewöhnlich, über Innsbruck und den Brenner das Etschtal hinunter nach Mailand, und über Basel, Bern, Lausanne und Genf über den Mont-Cenis nach Turin. Der letztere wurde hauptsächlich nur von den Rheinländern benutzt. Wenn Luther Paduas erwähnt, das er auf seiner Reise berührt, so muss er einen bedeutenden Umweg gemacht haben. Weiter reiste er über Bologna und Florenz nach Rom, wo er, in einem Kloster gleich beim Eingange, bei der Porta del Popolo, seine Wohnung nahm. Die Nachrichten sind sehr dürftig und nur aus späteren gelegentlichen Äußerungen und Mitteilungen zu entnehmen. Er rühmt die entgegenkommende Gastfreundlichkeit der Schwaben und Bayern, und dass man daselbst für sein Geld auch gut bedient werde, woraus hervorgeht, dass es ihm wenigstens nicht ganz an einem Zehrpfennige gefehlt habe. Wo sich die Gelegenheit bot, trat er in priesterliche Tätigkeit. Es ist überall viel von vollzogenen Messopfern, Predigten und Disputationen die Rede. In Italien findet er die Menschen sehr verschieden von denen in Deutschland. Sie sind klüger, gewandter, geschickter, aber die Religion ist ihnen nicht Herzenssache, sondern äußeres Tun, wie es allerdings bei den alten Römern schon so gewesen war, und wie es auch heute noch so ist. Viel Kultus und Zeremonien, so dass sie das religiösesteVolk zu sein scheinen, während daneben das äußerlichste, weltlichste Treiben besteht. Was bei den Deutschen wenigstens noch teilweise Gegenstand des Glaubens war, war dort schon ganz Gegenstand des Aberglaubens. Die Wahrheiten des Evangeliums, so weit sie überhaupt bekannt waren, und die Satzungen der Kirche wurden nicht mit dem Gemüte erfasst und vollzogen, sondern nur mit dem Verstande, daher denn auch neben dem Aberglauben bei den Aufgeklärteren der Unglaube ein breites Feld gewinnen konnte. Man hielt meist die Fasttage, aber die Mahlzeiten an denselben waren kostbar und üppig. Man hatte die vortrefflichsten Fisch- und Mehlspeisen und starke Weine, nur das Fleisch fehlte. In einem Kloster, dessen Mönche auch an einem Freitage Fleisch aßen, soll Luther mit dem Tode bedroht, sich nur durch die Flucht gerettet haben, weil er sich tadelnd über diese Verletzung der päpstlichen Verordnungen ausgesprochen. In Betreff des Klimas erwähnt er nur, dass man in der Nacht nicht bei offenem Fenster schlafen dürfe. Er habe dies einst mit seinem Gefährten getan und am Morgen darauf einen sehr dumpfen Kopf gehabt, so dass sie an demselben Tage nur eine Meile hätten vorwärts kommen können. Durch den Genuss eines Granatapfels seien sie wieder hergestellt worden. Sonst hat ihm das Land sehr gefallen. „Italien“, sagt er, „ist ein sehr fruchtbar, gut und lustig Land; sonderlich Lombardia ist ein Tal zwanzig deutscher Meilen Wegs breit; mitten dadurch fleußt der Eridanus, gar ein sehr lustig Wasser, so breit als von Wittenberg gen Brate ist: auf beiden Seiten sind die Alpen und Apenninusgebirge.“ —

Mehrere Jahrzehnte später rühmte er noch das Obst in Welschland, die großen Weinbeeren und Pfirsiche, „dagegen die in unserm Lande wie die Schlehen sind.“ — Für die Kunstwerke der damals in höchster Blüte stehenden Malerei hatte er ein offenes Auge. Von den welschen Malern sagt er: „wie geschickt und sinnreich sie wären, wenn sie könnten der Natur so meisterlich und eigentlich nachfolgen und nachahmen in Gemälden, dass sie nicht allein die rechte natürliche Farbe und Gestalt an allen Gliedern gäben, sondern auch die Gebärde, als lebten und bewegten sie sich.“


Wenn er später, nachdem er sich von der römischen Kirche getrennt hatte, äußerte, er wolle nicht hunderttausend Goldgulden dafür nehmen, dass er Rom nicht selbst gesehen haben solle, so bezieht er dies auf die Erfahrungen, die er rücksichtlich des Kirchentums daselbst gemacht hatte: aber die Reise war auch in anderer Beziehung von unendlichem Werte für ihn. Das Reisen hat auch heute noch großen Nutzen und gewährt viel Vergnügen, aber die Bedeutung jener Zeit hat es nicht mehr. Wir kennen Italien jetzt, ohne es gesehen zu haben, viel genauer durch zahllose Beschreibungen und Abbildungen der verschiedensten Art, als es die Menschen damals selbst durch unmittelbare Anschauung kennen zu lernen im Stande waren. Reisen wir dahin, so werden unsere Kenntnisse davon gleichsam nur bestätigt oder hin und wieder berichtigt, aber unser geistiger Gesichtskreis wird nur wenig erweitert. Damals aber, als Bücher und Abbildungen überhaupt viel seltener waren, und Reisebeschreibungen fast noch gar nicht gedruckt wurden, musste der Eindruck des Neuen, das sich dem Wanderer darstellte, viel großartiger und gewaltiger sein, besonders wenn derselbe aus so engen und dürftigen Verhältnissen hervorgegangen war wie Luther. Seine allgemeine Bildung war die eines heutigen Handwerksburschen, für den eine größere Reise auch noch den Wert des Besuches einer Hochschule hat. Ihm erschließt sich, wenn er durch Tirol und über den Brenner wandert, die ganze ungeheure Alpenwelt mit ihren Überraschungen und Wundern. Er erblickt unter der italienischen Sonne die Erzeugnisse einer andern Natur. Sein Auge schweift erstaunt über die unabsehbare Fläche des Meeres dahin, wovon er vorher nie einen Eindruck empfangen hat. Die Bauwerke und Ruinen untergegangener Zeiten, an denen Italien damals noch sehr viel reicher war als jetzt, machen ihm einen Teil der Weltgeschichte lebendig und gegenwärtig, und erzeugen in ihm die Vorstellung von der Vergänglichkeit aller Dinge, von der Notwendigkeit des Unterganges alles Endlichen. Luther, der Mönch und Priester, kehrte als Mönch und Priester aus Italien zurück, wie er dahin gegangen war; aber der Mensch Luther war ein anderer, ein höherer geworden, sein Selbstgefühl war gewachsen, sein Charakter gestählt, sein Vertrauen zu seiner Menschenwürde hatte sich gehoben. Darin bestehen die Wirkungen seiner Römerfahrt.

Als er sich von Florenz her über Siena und Perugia der ewigen Stadt näherte, und er ihre Türme und Kuppeln am Horizonte erblickte, warf er sich auf seine Knie nieder und rief: Sei mir gegrüßt, du heiliges Rom! Es war nicht heilig. Zweimal hat es die Welt beherrscht, einmal weltlich durch das Schwert, dann geistlich durch den päpstlichen Bannstrahl, und beide Male hat es mit der Knechtschaft seiner Hörigen geendigt. Wo die Knechtschaft waltet, werden nicht bloß die Unterworfenen sittlich und geistig zu Grunde gerichtet, sondern die Herrschenden auch. In Rom war, wie zu Jugurtha's Zeiten, so unter den Päpsten des fünfzehnten Jahrhunderts, Alles feil. Auf den lasterhaften Papst Alexander VI. war 1503 bis 1513 Julius II. gefolgt, ein stolzer, kriegerisch gesinnter, prachtliebender und grausamer Mann, der an allen Kriegen, Bündnissen und Intrigen seiner Zeit Anteil hatte, und seine geistliche Würde ausschließlich dazu benutzte, weltlichen Interessen zu frönen. Der deutsche Ritter Ulrich von Hutten, der mit Luther ungefähr um dieselbe Zeit in Rom war, singt von diesem Papst:

„Alle Begriffe sind wirr, und Alles liegt bunt durch einander:
Andre macht selig ein Mann, der nur in Sünde gelebt! —
Du, der so viele durch Schwert und scheußliches Gift hat gemordet,
Dessen Verbrechen schon längst tausend von Leichen gehäuft;
Der kein andres Geschäft betreibt, als Kriege voll Unheil,
Dessen Musse von tierartiger Wollust nur weiß,
Der nichts spricht als Schlechtes, und nichts als Schändliches übet,
Gleichwohl spendest uns du, Julius, den Himmel noch aus!
Glaub' es ein Anderer, dem nie gesunder Geist in gesundem
Körper, dass solch' ein Mensch Christus vertrete und Gott!“

Luther, der ernste, treue, gläubige Deutsche, ein wahrer Heiliger unter der verderbten Priesterschaft Roms, sah das Unwesen, gestattete sich aber kein tadelndes Wort, weil ihm das Kirchliche und Päpstliche noch gleichbedeutende Begriffe mit dem Christlichen und Göttlichen waren. Erst nach Jahren, als sein Geist von dem römischen Banne befreit war, unter welchem mit ihm das ganze deutsche Volk' seufzte, fand er Worte des Abscheu's und der Empörung über das, was er in Rom gesehen und erlebt hatte, und da erhielt sein Wort auch erst Einfluss und Wichtigkeit; denn es kommt rücksichtlich der Wirksamkeit eines Ausspruches oft weniger darauf an, was gesagt wird, als dass es von einem Manne gesagt wird, dem die Welt ein gründliches und wahres Unheil zutraut. Da sagt er nun: Niemand glaube, was zu Rom für Büberei und gräuliche Sünde und Schande gehe, man könne es keinen bereden, er sehe, höre und erfahre es denn. Daher man im Sprichwort sage: Ist irgend eine Hölle, so muss Rom darauf gebaut sein. — „Da hörte ich unter andern groben Grumpen über Tische Courtisanen lachen und rühmen, wie Etliche Messe hielten und über dem Brote und Weine sprächen diese Worte: Brot bist du, und Brot wirst du bleiben; Wein bist du, und Bein wirst du bleiben! Was sollte ich denken? Redet man hier zu Rom frei öffentlich über Tisch also, wie wenn sie allzumal beide, Papst, Kardinäle samt ihren Courtisanen also Messe hielten? Und zwar ekelte mir sehr daneben, dass sie so sicher und fein rips raps konnten Messe halten, als trieben sie ein Gaukelspiel; denn ehe ich zum Evangelio kam, hatte mein Nebenpfaff seine Messe ausgericht und schrie, zu mir: Passa, passa immer weg, komm davon!“ u. s. w.

Ein anderes Mal sagt er: „Ich war in Rom auch so ein toller Heiliger, lief durch alle Kirchen und Klüfte, glaubte Alles, was daselbst erlogen und erstunken ist. Ich habe auch wohl ein Messe oder zehn zu Rom gehalten und war mir dazumal sehr leid, dass mein Vater und Mutter noch lebten, denn ich hätte sie gerne aus dem Fegefeuer erlöset mit meinen Messen und andern trefflichen Werken und Gebeten mehr. Es ist zu Rom ein Spruch: Selig ist die Mutter, deren Sohn am Sonnabend zu St. Johannis (im Lateran, einer Kirche am Palast gleiches Namens, die dem heiligen Johannes gewidmet ist) eine Messe hält. Wie gern hätte ich da meine Mutter selig gemacht. Aber es war zu drange und konnte nicht hinzukommen und aß einen rustigen Hering dafür.“

Ehe er von Wittenberg abreiste, stieß er bei seinem Bibelstudium im Römerbrief 1, 17, auf die Worte, die der Apostel dem Propheten Habakuk entlehnt: Der Gerechte wird seines Glaubens leben. Sie machten ihm einen ungewöhnlich tiefen Eindruck, und blieben in Gedanken seine ununterbrochenen Begleiter auf der italienischen Reise. Er konnte den Begriff des Wortes Gerechtigkeit nicht finden, und war deshalb sehr böse auf das Wort. Er bezeichnete es als dasjenige, dem er von allen Worten der heiligen Schrift am meisten Feind gewesen sei. Wie er es nahm, war es die strenge Gerechtigkeit des jüdischen Gottes, welcher kein Mensch ein Genüge tun kann, während nach der Anschauungsweise des Heilands die Gerechtigkeit allein darin besteht, dass der Mensch sich im Glauben mit Gott vereinigt, dass er Gott in sich walten fühlt und diesem Walten in sich Raum gestattet. Die Gegenwart Gottes im Menschen ist die Gerechtigkeit, welche vor Gott gilt, und der Mensch findet in diesem Gefühle seine Erlösung und seine Seligkeit. Luther aber sah nach der römischen Auffassung eine Befriedigung seines zerrissenen Gemütszustandes, also eine Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes nur in der Vollbringung zahlloser guter, d. h. kirchlicher Werke, und diese geben allerdings den Frieden der Seele nicht, auch wenn sie zu Bergen angehäuft würden. Er machte die Reise nach Rom aus Andacht, er hoffte, durch sie selig zu werden oder wenigstens seine Seligkeit vorzubereiten, und überall auf der Pilgerfahrt und an der heiligen Stätte selbst klangen die Worte in seinem Geiste an: Der Gerechte lebt seines Glaubens.

In Rom befand sich die sogenannte Pilatusstiege, welche nach der Überlieferung von dem Gerichtshause in Jerusalem nach Rom versetzt sein soll. Diese Stiege auf den Knien hinauf zu rutschen, war von den Päpsten als das äußerste gute Werk und als die höchste Gnade, die dem Sünder zu Teil werden könne, bezeichnet, und ein großer Ablass daran geknüpft worden. Luther unterzog sich natürlich als der gläubigste Anhänger und Verehrer aller päpstlichen Satzungen auch dieser Bußübung, und da war ihm nach seinen eigenen Worten nicht anders zu Mute, als wenn ihm unter solchem Werk eine Donnerstimme mit großem Schrecken zugerufen würde: Der Gerechte lebt seines Glaubens.

Später dachte er heller über diese guten Werke, aber zur der Zeit, da er in Rom gewesen, war es eine kindlich gläubige Tat, die er in ihnen vollzog, und sein späterer, reinerer Glaube ruhte mit auf diesem Tun. Er traute damals im Dienste Roms auf Gott, wie nachher im Kampfe gegen dasselbe, und Gott ist ihm immer ein stützender und stärkender Geist, ein liebender Vater gewesen, dessen segnende Hand auf ihm geruht hat, wie sehr sich seine Anschauungen von Gott und Menschheit auch im Laufe der Zeit veränderten.

Über die Dauer seines Aufenthalts in Rom haben wir keine genauen Nachrichten, doch scheint sie sich nicht über einige Wochen erstreckt zu haben. Auch über seine Rückreise ist wenig bekannt. Er soll einen anderen Weg genommen haben; doch da er, wie es ausdrücklich heißt, Augsburg berührt hat, so muss wenigstens die Überschreitung der Alpen auf derselben Straße, wie auf der Hinreise, über den Brenner stattgehabt haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben