Luthers Professur in Wittenberg 1508 — 1510.

Der Kurfürst Friedrich V. der Weise von Sachsen wurde von seinem Bruder, dem Erzbischofe Ernst von Magdeburg, einem echt deutschen, frommgesinnten Manne, angegangen, in seinem Lande eine Hochschule zu gründen. Es ist eigentümlich, dass in einer Zeit, in der das deutsche Volk geistig beinahe tot war und, von dem fremden römischen Wesen niedergedrückt, gleichsam in Nacht und Finsternis nur noch ein Traumleben führte, die meisten wissenschaftlichen Anstalten errichtet wurden. Man könnte dies eine Satire der Zeit auf sich selbst nennen. Friedrich der Weise folgte dem Andringen seines Bruders, und die Doktoren Martin Pollich von Melrichstadt und Johann von Staupitz wurden mit den Vorbereitungsarbeiten beauftragt. Der Kurfürst war wegen der Wahl Wittenbergs bedenklich, weil es nur aus einer geringen Zahl Lehmhütten bestand und keine einladende Umgebung hatte; aber Pollich erwiderte auf diese Einwände, der Fürst möge Gott nicht misstrauen; er sei diesen Landen und dieser Stadt Dankbarkeit halber solche Wohltat schuldig! seine Vorfahren hätten da das Kurfürstentum erlangt, und die an diesem allerdings nicht glänzenden Orte errichtete Universität werde alle deutschen Hochschulen durch das von ihr ausgehende Licht verdunkeln. Pollich und Staupitz bemühten sich nun, so gute Lehrkräfte heranzuziehen, wie es der damalige Zustand der Wissenschaften möglich machte, und 1502 wurde die Stiftung vollzogen. Bei der großen Armut der Stadt und der Beschränktheit der Mittel überhaupt war es ein Glück, dass man sich einigermaßen der kirchlichen Kräfte bedienen konnte.

Das Leben diente in jener Zeit ganz der Kirche, und auch die Wissenschaft stand im Solde derselben, wie wenig dies auch ihrer höheren Natur entspricht; und so gaben Priester und Mönche sich gern dazu her, ihre Bildung und Kenntnisse zum Nutzen der jungen Anstalt zu verwerten.


Staupitz, der auf den jungen Augustiner-Mönch in Erfurt seit dessen Eintritt ins Kloster seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte, empfahl ihn dem Kurfürsten als einen geschickten und frommen Bruder und bewirkte im Sommer 1508 seine Berufung nach Wittenberg. Er sollte eine philosophische Professur übernehmen, aber dabei Ordensbruder bleiben und in einer Zelle des Augustiner-Klosters zu Wittenberg wohnen. Luther war abgeneigt, aber Staupitz, der ihn wohl kannte, wusste seine Bedenklichkeiten und Einwürfe zu heben, und so siedelte er nach der neuen Hochschule über. Die Veränderung war zunächst nur örtlich, aber er kam zugleich auch in eine andre geistige Athmosphäre und erhielt, was die Hauptsache war, einen äußeren Wirkungskreis.

Luther war ein Mann der Tat, nicht der Wissenschaft. Er rang nach Wahrheit, aber nicht als Zweck, sondern als Mittel. Die neue Erkenntnis, die er sich aneignete, befriedigte ihn nicht an und für sich, sondern durch ihre Anwendung aufs Leben. Er war ein praktischer Mensch, und was er nicht für seine Praxis geltend machen konnte, das hatte überhaupt keine Geltung für ihn. Er beschäftigte sich eifrig mit der lateinischen und deutschen Sprache, weil er lateinisch und deutsch sprechen wollte. Philologe im strengen Sinne war er nicht. Als es ihm später Bedürfnis wurde, das Neue Testament in der Ursprache zu lesen, lernte er das Griechische. Ebenso geschah es mit dem Hebräischen. Die scholastische Philosophie diente ihm nur dazu, seine römisch-kirchlichen Ansichten zu begründen und sich über ihre Berechtigung aufzuklären. Die humanistischen Studien, welche die alten Sprachen und die Altertumskunde zum ausschließlichen Zwecke hatten, und deren Vertreter sich nur gelegentlich herabließen, die herrschende kirchliche Richtung anzugreifen und herabzusetzen, blieb ihm bis zu der Zeit fremd, wo in ihm das Bewusstsein von der Abgestorbenheit des römischen Systems in Deutschland erwachte und er selbst seine religiöse Anschauung veränderte. Die heilige Schrift und der Kirchenvater Augustinus gewannen nur ganz allmählich Verständnis und Bedeutung für ihn, wie er auch nur allmählich in seiner Religionserkenntnis fortschritt.

Solche Menschen, die ausschließlich dem Leben dienen, müssen einen Wirkungskreis nach außen haben; denn haben sie nur ihr eigenes subjektives Dasein zum Ziele ihrer Tätigkeit, sind ihre Handlungen mehr nur passiver als aktiver Natur, so werden sie in einen unseligen Kampf mit sich selbst verwickelt, und martern und arbeiten sich ab, ohne zu einem befriedigenden Ziele zu gelangen. Wenigstens wird dies der Fall sein, wenn ihre gesamte Geistesrichtung nicht eine volksmäßige, wenn sie nicht aus Ort und Zeit unmittelbar hervorgewachsen, wenn sie eine fremdländische, bloß traditionelle ist. Luther würde in der Erfurter Klosterzelle geistig und leiblich zu Grunde gegangen sein, und es ist daher eine segensreiche Fügung Gottes gewesen, dass er nach Wittenberg berufen wurde. Freilich ist das nicht weiter zu bewundern, denn wer Gott nur wahrhaft dienen will, dem dient Gott wieder und bringt ihn in solche Stellungen und Verhältnisse, in denen er seiner Neigung und seinen Kräften angemessen zu Ehren Gottes wirken kann. Luther war auf dem Katheder und auf der Kanzel ein anderer Mensch, als im Kloster, denn hier hatte er nicht sich zum Objekte seiner Wirksamkeit, sondern die Seelen seiner Zuhörer. Hier konnte sich der Strahl seiner Geistestätigkeit entfalten, und er hatte ein äußeres Ziel vor sich, das durch ihn erleuchtet und erwärmt werden sollte, dort brach sich der Strahl in sich selbst und wirkte häufiger beunruhigend und verwirrend, als erleuchtend und erwärmend.

Es war auch nicht ohne Bedeutung für ihn, dass er gerade nach Wittenberg, einer im eigentlichen Norddeutschland belegenen Stadt und an eine erst vor wenigen Jahren begründete Universität berufen wurde. Wie durch die allgemeinen Weltverhältnisse damals Europa sein Antlitz gleichsam von Süden nach Norden umwandte, und die nördlichen Länder des Erdteils vor den südlichen eine weltgeschichtliche Bedeutung zu erhalten anfingen, so wandte sich auch der Einfluss, den das südliche und westliche Deutschland während des Mittelalters auf die Gesamtrichtung des deutschen Volkes ausgeübt hatte, nach dem Norden und Osten unseres Vaterlandes, wo deutsche Bildung und deutscher Geist erst später Grund gefasst hatten als im Westen, wo aber auch die ursprüngliche Seelenkraft noch weniger abgenutzt und daher frischer und unmittelbarer war. Die Erneuerung des christlichen Lebens fand in Wittenberg eine geeignetere Stätte, als dieselbe in Ingolstadt, Würzburg oder Erfurt würde gefunden haben, weil Gegend und Volk in der Weltgeschichte noch jung und neu waren. Ebenso hatte die sächsische Hochschule noch keine bestimmte Richtung angenommen, sie war noch nicht mit den Einrichtungen des alten Kirchensystems so verwachsen, dass sie bei einer Veränderung desselben auch ihre innerste Natur hätte aufgeben müssen. Sie musste sich erst einen geistigen Kern bilden, aus dem sich ihre äußere Gestaltung, ihr sichtbarer Leib hervorbilden und entwickeln konnte. Selbst auf die deutsche Sprache übten diese Zeit- und Ortsverhältnisse einen Einfluss aus. An der Elbe, der Grenze des mittelhochdeutschen und niederdeutschen Sprachgebietes, konnte sich die jetzt allgemein herrschende, neu hochdeutsche Sprache entwickeln und alle anderen Mundarten überflügeln.

Luther war als Professor der philosophischen, d. h. der scholastischen Wissenschaften berufen worden, und er las daher zunächst auch über die Physik und Dialektik des Aristoteles, ohne natürlich noch ein wahres Verständnis von der Bedeutung des griechischen Denkers zu haben, ohne selbst nur zu ahnen, welchen hohen Platz derselbe in der Entfaltung des philosophierenden Geistes einnimmt. Er kannte ihn nur aus dem verstümmelten System, welches die Scholastiker sich aus seinen Schriften zurechtgelegt und zur Begründung ihrer spitzfindigen Kirchenlehren verwendet hatten. Luthers Polemik gegen ihn und gegen die Philosophie überhaupt hat daher nicht die Bedeutung, welche heute solchem Verfahren zu Grunde liegen würde. Er ist nur ein Gegner der philosophischen Forschung, wie das große Ideal seines religiösen Lebens, wie der Apostel Paulus ein solcher gewesen war, der auch nicht gegen das lebendige und ursprüngliche philosophische Denken angekämpft hatte, denn sonst hätte er gegen sich selbst ankämpfen müssen, da er nur auf anderem Gebiete denselben Prinzipien folgte, sondern der es ebenfalls mit einer bereits erstorbenen nur in den Formen noch bestehenden und sich auf Kosten der lebendigen Geistesbedürfnisse breit machenden Philosophie zu tun hatte. Deshalb aber sehnte sich der junge Universitätslehrer auch aus dem übernommenen Wirkungskreise fort, der weder seiner eigentümlichen Natur, noch der von ihm eingeschlagenen religiösen Richtung angemessen war und wünschte, in das theologische Gebiet, zu dem ihn eben so sehr seine natürlichen Anlagen, wie sein tiefes Gemütsleben hintrieben, überzugehen. Dies wurde denn auch schon nach einem halben Jahre bewerkstelligt. Er trat am 9. März 1509 als Baccalaureus in die theologische Fakultät ein, und vermochte nun erst bei Auslegung der heiligen Schriften des alten und neuen Testaments die Lebendigkeit und die Tiefe seines Geistes zu entfalten. Wenn es uns auch nicht ausdrücklich gesagt würde, dass seine Vorlesungen sehr besucht waren, und dass sich ihm seine Zuhörer mit großer Liebe hingegeben hätten, wir würden es doch als gewiss annehmen, denn es ist eine Notwendigkeit, dass das, was wahrhaft von Herzen kommt, auch zu Herzen geht, dass ein unmittelbar empfundenes Wort in den Seelen der Hörer Anklang findet.

Luther verstand damals weder das Hebräische noch das Griechische, also keine der beiden Ursprachen, in denen die Bibel abgefasst ist; er folgte der lateinischen Übersetzung, der Vulgata; aber, was einigermaßen damit zusammenhängt, er war auch weit davon entfernt, schon eine Exegese auszuüben, die mit der hergebrachten Auslegungsweise in entschiedenem Widerspruche gestanden hätte. Was ihn von andern Exegeten seiner Zeit unterschied, war nur dies, dass er das Dogmatische, in welcher Rücksicht er durchaus die römischen Grundsätze verfolgte, etwas mehr bei Seite liegen ließ und den Ton auf das praktische Christentum legte, auf eine Frömmigkeit, die erlebt, erfahren, errungen werden musste. Er brachte nur diejenigen Elemente zur Geltung, welche in dem alten Kirchensystem auch noch Raum hatten, und auch von Andern, wie von Thomas von Kempen, Johann Tauler und dem Verfasser der deutschen Theologie als Höhenpunkte des christlichen Lebens angesehen, ausgebeutet und empfohlen worden waren. Es ist also in dieser Zeit noch durchaus nicht an eine reformatorische Wirksamkeit Luthers zu denken: er ist vielmehr noch ganz römischer Priester und scholastischer Theologe, nur dass er es treu und ernst mit dem meint, was er sagt. Im Convente las er für seine Klosterbrüder auch noch über die früheren scholastischen Gegenstände.

Wer viel hat, von dem wird viel gefordert. Staupitz, sein guter Engel in dieser Zeit, forderte, er solle predigen. Der schüchterne und etwas unbehilfliche Luther weigerte sich und sagte, es sei keine schlechte Sache, an Gottes Statt mit den Leuten zu reden und ihnen zu predigen. Er brachte wohl fünfzehn Gründe als Einwürfe vor und schloss endlich: „Herr Doktor, Ihr bringt mich um mein Leben, ich werde es nicht ein Vierteljahr treiben.“ Staupitz erwiderte: „Wohlan, in Gottes Namen, dem sei gleich also, unser Herr Gott hat große Geschäfte und bedarf droben auch kluger Leute.“ Luther fügte sich, predigte anfangs im Remter vor den Mönchen und dann auch vor der Gemeinde. Das Kirchlein wird also beschrieben: „Im neuen Augustinerkloster zu Wittenberg waren die Fundamente der Kirche zwar angelegt, aber nicht weiter gebracht, als der Erde gleich. Mitten darin stand noch eine alte Kapelle von Holz, mit Lehm geklebt, sehr baufällig und auf allen Seiten gestützt, etwa 30 Schuh lang und 20 breit. Sie hatte ein kleines, altes rußiges Emporkirchlein, worauf mit Not 20 Menschen stehen könnten. An der Wand gegen Mittag war ein Predigtstuhl von alten ungehobelten Brettern, etwa anderthalb Ellen hoch von der Erde. In Summa, es hatte allenthalben das Ansehen, wie die Maler den Stall zu Bethlehem malen, darin Christus geboren war.“

Luther blieb auch nicht lange in dieser Kirche, da sie seine Zuhörer nicht fasste, und es ward ihm befohlen, in der Pfarrkirche zu predigen.

Er lehrte auf dem Katheder und predigte auf der Kanzel mit solcher Innigkeit und Überzeugungskraft, mit solcher Begeisterung für die Wahrheiten des Christentums, dass der alte gelehrte Dr. Pollich von ihm sagen konnte: „Der Mönch wird alle Doktores irre machen und eine neue Lehre aufbringen und die ganze Römische Kirche reformieren; denn er legt sich auf der Propheten und Apostel Schrift und stehet auf Jesu Christi Wort, und das kann Keiner mit der ganzen scholastischen Philosophie umstoßen oder dawider fechten.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben