Luthers Kindheit. 1483 — 1497

Bei der großen Dürftigkeit, in welcher die Eltern Luthers lebten, und bei der düsteren, hauptsächlich auf Werkheiligkeit gerichteten Anschauung der damaligen Christenheit, wurde die Erziehung des kleinen Martin mit großer Strenge, ja Härte gehandhabt. Obwohl er selbst später an vielen Orten sich zu Gunsten einer strengen Kinderzucht äußert und die Eltern ermahnt, dass sie sich doch ja nicht durch Schwäche, allzu große Zärtlichkeit und falsche Liebe von ernstlicher Bestrafung der bösen Neigungen und Fehler ihrer Kinder abhalten lassen möchten, urteilt er doch noch als Mann in missbilligender Weise über die Behandlung, die er als Kind von Eltern und Lehrern erfahren hat. Er sagt: „Mein Vater stäupte mich einmal so sehr, dass ich ihn floh und ward ihm gram, bis er mich wieder zu sich gewöhnte. — Die Mutter stäupte mich einmal um einer geringen Nuss willen, dass das Blut darnach floss, und ihr ernstes und gestrenges Leben, das sie führte, das verursachte mich, dass ich darnach in ein Kloster lief und ein Mönch wurde. Aber sie meinten es herzlich gut und konnten nur die ingenia nicht unterscheiden, darnach man die Strafe abmessen muss. Denn man muss also strafen, dass der Apfel bei der Rute sei.“ In der Schule, die er seit dem siebenten Jahre besuchte, wurde er mit noch größerer Strenge behandelt, wie denn damals die Schulmeister überhaupt zu den rohesten Leuten gehörten und gemeinhin auf nichts weiter bedacht waren, als sich ihren Unterhalt auf möglichst leichte Weise zu erwerben. Luther erwähnt gelegentlich: „Ich bin einmal Vormittags in der Schule fünfzehn Mal nach einander gestrichen worden.“ — Es beruht zuverlässig auf Selbsterlebtem, wenn er 1523, als er an die Ratsherren aller Städte Deutschlands die Mahnung ergehen lässt, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, sagt: des Zuchtmeisters könne ein Kind nicht entbehren, müsse ihn haben, dass er es strafe, unterweise und zum Besten ziehe; es werde sonst nichts Gutes aus ihm. Allein den Zuchtmeister könne es nicht lieben, der es wie im Kerker halte, es werde dem Unfreundlichen nicht mit Lust gehorchen, in seiner Abwesenheit die Rute zerbrechen, der nicht mehr könnte und täte, denn immerdar die Schüler plagen und stäupen, sie aber nichts lehren. „Wie vor dieser Zeit die Schulmeister gewesen sind, da die Schulen rechte Kerker und Höllen, die Schulmeister aber Tyrannen und Stockmeister waren; denn da wurden die armen Kinder ohne Maß und ohn alles Aufhören gestäupet, lerneten mit großer Arbeit und unmäßigem Fleiß, doch mit wenigem Nutzen.“ Er habe, sagt er anderswo, als er ein Knabe gewesen, der Lehrer viele gesehen, die ihre Lust daran gehabt, die Schüler zu bläuen. Die ganze Methode, die Examina, das Hersagen wären eigentliche Martern für die Schüler gewesen; man müsse Kinder strafen, sie aber auch lieb haben. „Vorzeiten ward die Jugend allzuhart gezogen, dass man sie in den Schulen Märtyrer geheißen hat.“ Man müsse dem jungen Volke Lust machen und lassen, wie denn nun auch nicht mehr sei „die Hölle und das Fegfeuer der Schulen, da wir innen gemartert sind über den Casualibus und Temporalibus, da wir doch nichts denn eitel nichts gelernt haben durch so viel Stäupen, Zittern, Angst und Jammer.“

Die Züchtigungen, die Luther als Kind in Schule und Haus erfuhr, schüchterten ihn zwar ein, und erzeugten oder nährten in ihm den Hang zur Einsamkeit, sie nahmen ihm aber nicht seine Lernbegierde, und noch weniger schmälerten sie den Gehorsam, den er Eltern und Lehrern schuldig war. Der wesentlichste Teil jeder guten Erziehung ist das Beispiel, das die Eltern den Kindern geben. Es wirkt um so tiefer und ist um so nachhaltiger auf das ganze spätere Leben, je mehr es bewusstlos und also auch absichtslos geübt wird. Die strenge Sittlichkeit des Vaters und die wahre Gottesfurcht der Mutter mussten auf den Knaben einen viel günstigeren Einfluss haben, als die einzelnen Missgriffe, die gelegentlich in der Erziehung vorkamen. Das Kind fühlt sehr gut heraus, ob die Strenge, mit der es behandelt wird, aus Liebe hervorgeht und zu seinem Besten angewendet wird, oder ob sie in Leidenschaft oder eigennützigen Absichten ihren Grund hat. Die Lernbegierigkeit des Knaben scheint übrigens schon früh sich deutlich gezeigt zu haben, denn Mansfeldische Verwandte erzählten später, selbst gehört zu haben, dass der Vater an dem Bette des Knaben Gott angefleht habe, ihn mit seiner Gnade zu erfüllen und mit seinem Lichte zu erleuchten. Auch spricht dafür, dass er öfter, vermutlich wenn Weg und Wetter zu schlecht waren, in die Schule getragen wurde. Auch muss man einen solchen Grund annehmen, da der Vater von seinen vier Söhnen, von denen zwei älter als Martin gewesen sein sollen, gerade ihn zum Studium bestimmte, was ohnehin schon in diesem Stande und bei den anfänglich außerordentlich geringen Vermögensverhältnissen der Familie etwas Auffallendes hat. Martin blieb bis zu seinem 14. Jahre, bis 1497, in der Schule zu Mansfeld. Ob er immer dieselbe, oder ob er eine Vorschule und dann erst die sogenannte lateinische Schule besucht habe, ist nicht zu ersehen. Jedenfalls war der Umfang der Kenntnisse, die er sich hier erwarb, nicht groß. Hauptgegenstände waren: die zehn Gebote, der Kinderglaube, das Vater-Unser, eine Kinder-Grammatik und Cisio Janus, der eine Art von Kalender zur Erlernung der Feier- und Heiligentage war. Das Latein in den beiden letzteren Büchern war barbarisch, wahres Mönchslatein. Dabei fehlte es in jener Zeit noch sehr an gedruckten Schriften, und in der Regel war nur ein Exemplar vorhanden, das dem Lehrer oder der Schule gehörte, und das dann von den Knaben abgeschrieben und auswendig gelernt werden musste. Auf ein richtiges Verständnis dessen, was vorgetragen ward, wurde nicht gesehen, und alle Gelehrsamkeit bestand in den auswendig gelernten, schwer und unverständlich abgefassten Regeln und Beispielen. Die Schulen waren, wie Luther häufig wiederholt, ausschließlich auf die Erhaltung des geistlichen Standes gerichtet, und wer sich demselben nicht widmen wollte, wurde möglichst von dem Unterrichte und jeder Entwicklung des Geistes ausgeschlossen und fern gehalten. Da dieser Stand aber ohne alles innere Leben meist nur weltlichen Vorteilen nachjagte, so machte es sich von selbst, dass seine Mitglieder mehr nur zu ihrer Tätigkeit und Wirksamkeit abgerichtet, als dazu entwickelt wurden. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, war überall ein großer Andrang zum geistlichen Stande. Die Mütter, die ihre Söhne in denselben hineingebracht hatten, „achteten sich selig“. Sie ließen die Kinder in die Schule gehen, damit sie „Mönche und Pfaffen würden, junkerisch lebten und nicht arbeiten dürften.“ Alles wollte „Bischof, Pfaff und Mönch werden, nicht um Gotteswillen, sondern dass sie versorget, in fremden Gütern wohl lebten und gute Tage hätten, nicht dürften durch eigene Mühe sich ernähren und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen, wie alle Menschen schuldig sind.“ Die Kirche glaubte sich berufen, die Welt nicht nur zu belehren, sondern zu beherrschen. Sie konnte daher eine allgemeine Bildung, eine wahre Geistesentwicklung nicht fördern, weil diese ihre Herrschaft untergraben haben würde. Es entstanden daher häufig Streitigkeiten zwischen ihr und den weltlichen Obrigkeiten, wenn dieselben Ansprüche auf die Beaufsichtigung und Pflege des Unterrichts erhoben. Auch der häusliche Unterricht wurde missgünstig angesehen und meist verhindert. Dazu herrschte sowohl beim Adel wie beim Bürgerstande allgemein die Ansicht, dass alle wissenschaftliche Bildung, außer zum geistlichen Stande, überflüssig sei. Zum Gedanken einer Lehrkunst oder Pädagogik war die Zeit noch nicht gelangt, und Luther klagt daher bis in sein Alter hinein über die Mangelhaftigkeit und Schädlichkeit des Unterrichts, den er in seiner Jugend empfangen.


Sein Vater, Hans Luther, war ein Mann von unbefangener Frömmigkeit und gesunden Ansichten über alle Lebensverhältnisse, doch folgte er im Allgemeinen den Ansichten der Zeit und verkehrte mit den Geistlichen und Lehrern auf das Freundlichste. Dem Mönchswesen war er zwar abhold, wie es damals schon Viele waren, aber im Ganzen ließ er es doch gelten, und der Sohn nahm daher die Anschauungen in sich auf, welche der Zeit angehörten. Erst später, als er diesen Dingen eine denkende Betrachtung zuwandte, kann das freisinnige Verhalten des Vaters einen Einfluss auf seine Urteile ausgeübt, und es können Sprichwörter und Redensarten des Volkes, welche schon in der vorreformatorischen Zeit in Gebrauch waren, in ihm den Trieb nach Umgestaltung der Verhältnisse verstärkt haben. Dahin gehören z. B.: Wer will haben rein sein Haus, der behalt Pfaffen und Mönche draus; — Wer nichts tun und doch einen guten Tag haben will, der werde ein Priester; — Unter dem Mönchskleid ruht ein schlimmes Herz; — Wer dem Satan dienen will, gehe in ein Kloster; — Wer einen guten Tag haben will, brate eine Gans; wer ein Jahr gut leben will, nehme eine Frau; wer es sein ganzes Leben gut haben will, werde ein Mönch u. s. w.“ Dergleichen Sätze kann man hören und sogar selbst gebrauchen, ohne auch nur entfernt daran zu denken, dass die Zustände, die sie bezeichnen, geändert werden müssen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben
Abb. 007. Das Elternhaus zu Mansfeld.

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