Luther vor dem Richterstuhl der römischen Kirche. 1518.

Die römische Kirche stand am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts genau auf dem Standpunkte, auf welchem sich das Judentum vor der Erscheinung Christi auf Erden befand. Alles tieferen Gottesgefühles bar, stützte sie sich auf Glaubenssätze, welche eine frühere, geistvolle Zeit sich erarbeitet hatte. Ein Verständnis der frohen Botschaft, die der Heiland zur Erlösung der Menschheit verkündet, hatte sie entfernt nicht.

Der Mensch ist ein Wesen doppelter Art, ein göttliches und ein natürliches. Die Religion, sei sie, welche sie wolle, hat die Aufgabe, das göttliche Teil in ihm zu nähren, zu entwickeln und zur Herrschaft zu bringen; tut sie das nicht, wie es das Papsttum nicht tat, so fühlt sich jeder nach sittlicher Vervollkommnung Strebende unselig, ohne inneren Frieden, ja unter Umständen in Verzweiflung. Christus hatte, als er zum Bewusstsein seiner gelangte, sich als Sohn Gottes erkannt und folgerte daraus, dass alle Menschen Kinder Gottes, seine Brüder und Miterben sein könnten, wenn sie ihm nachfolgten. Ihm nachfolgen heißt aber, das göttliche Teil des Menschen zur Herrschaft über sein irdisches Teil erheben, so jedoch, dass das Natürliche und Individuelle an ihm gewahrt bleibe und sich selbstständig entwickle, nur durchdrungen, geweiht und verklärt durch jenes. Das despotische Ich unterwirft sich aber nur mit äußerstem Widerstreben dem göttlichen Geiste, obwohl sein Joch sehr sanft und seine Last sehr leicht ist. Die Selbstverleugnung ist diejenige christliche Tugend, aus welcher alle anderen entsprießen, und ohne sie ist der Mensch gar kein Nachfolger Christi. Verleugnet er aber sich, sein Ich, sein irdisches Teil, wozu auch sein Verstand gehört, so wird er gefeit und geweiht durch den Geist Gottes; er lebt in Einigkeit mit Gott, er ist gerechtfertigt durch den Glauben, hat die Seligkeit und den ewigen Frieden.


Diesen Grundpfeiler der Kirche Christi hatte das Papsttum bei Seite gelassen und dafür Stützen und Säulen aufgerichtet, die nichts waren als eitel Menschenwerk, Verordnungen, Satzungen und Dekrete, die sich mehr oder weniger selbst widersprachen, aber den Vorzug hatten, vom Papst ausgegangen zu sein und leicht kontrolliert werden zu können. Die Not war groß, und Luther war zum Retter berufen. Alles, was geistig wie leiblich geboren wird, hat Vater und Mutter. Das Christentum hat das erhabene, in den heiligen Schriften des alten Bundes lebendig bewahrte Judentum zur Mutter, und das die freie, schöne Menschlichkeit verherrlichende Griechenthum zum Vater. Zur Zeit Herodes des Großen durchdrangen sich in Palästina beide Elemente, das jüdische und hellenische, und in Folge dieser Durchdringung war die Zeit erfüllet worden. Das Luthertum hat auch seine Eltern: seine Mutter sind die Schriften des neuen Testamentes, in denen die ewigen Wahrheiten von dem Leben, den Taten und den Lehren des Sohnes Gottes, und der Einheit des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes niedergelegt sind, und sein Vater ist der deutsche Volksgeist, der Jahrhunderte lang von dem römischen unterjocht gewesen war, sich aber jetzt durch die neubelebte Weltanschauung erweckt und gestärkt fühlte.

So hatte die Erfüllung der Zeit oder die Berufung Luthers zum Reformator ihren Grund in den allgemeinen Weltverhältnissen, im Laufe der Weltgeschichte. Die römische Kirche, ganz veräußerlicht und verweltlicht, begriff überhaupt nichts vom Göttlichen und daher auch nichts von der wahren Bedeutung des Heilands für das Menschengeschlecht, und vollends von dem nichts, was Luther wollte, denn an dessen Verständnis hinderte sie nicht bloß ihre allgemeine Blindheit, sondern ganz besonders noch der große Verlust, den sie durch ihn an Ehre, Ansehn und Vermögen erlitt. Versetzen wir uns auf den Standpunkt des Papstes und seiner Anhänger, so müssen wir zugeben, dass sie über Luther nicht anders, als sie getan, denken und urteilen konnten. Die heilige Schrift, auf die er sich berief, war ihnen ein versiegeltes Buch, und den deutschen Volksgeist missachteten sie im höchsten Maße. Sie sprachen von der deutschen Bestie, wie die Franzosen von der bête allemande.

Leo X. war ein wohlwollender, weltlich gesinnter Mann, wie Kaiphas und Pilatus es waren, aber sehr konservativ und von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen, dass die bestehende und seit Jahrhunderten begründete Ordnung der Dinge nicht nur ihm, sondern auch der ganzen Christenheit zum Heile gereiche. Luther war ihm also ein Empörer, ein Ketzer, ein unruhiger Kopf, wegen dessen die Welt nicht umgestaltet werden könne, und der also widerrufen oder durch jedes Mittel unschädlich gemacht werden müsse. Er ernannte daher den Kardinal Sylvester Mazolini und den Bischof Genucci von Ascoli zu Richtern über ihn und berief ihn nach Rom. Luther weigerte sich dahin zu gehen, und sein Kurfürst vermittelte es, dass er von dem Kardinallegaten Thomas de Vio von Gaëta (Cajetan) in Augsburg verhört werden sollte. In der päpstlichen Zuschrift an den Kardinal heißt es: Luther sei zur Verantwortung nach Rom vorgeladen, habe auch von dem Bischof von Ascoli ein Vermahnungsschreiben erhalten. Weil er aber die päpstliche Güte missbrauche, immer tollkühner werde und in seiner Ketzerei beharre, so solle Cajetan nach Empfang dieses Schreibens, da die Sache notorisch sei und keine Entschuldigung zulasse, Luther auch von dem genannten Bischof schon für einen Ketzer erklärt sei, ohne weitere Verzögerung ihn vor sich zu erscheinen zwingen und dabei den Arm des Kaisers und aller geistlichen und weltlichen Fürsten zu Hilfe rufen; sobald er ihn aber in sicheres Gewahrsam gebracht habe, ihn bis auf weiteren Befehl verwahren, um ihn vor den apostolischen Stuhl stellen zu können. Stelle sich Luther freiwillig, bitte wegen seiner Tollkühnheit um Verzeihung und zeige wahre Buße, so solle der Kardinal die Macht haben, ihn in die Gemeinschaft der heiligen Mutter-Kirche wieder aufzunehmen. Wenn er aber hartnäckig bleibe, den weltlichen Arm verachte und nicht zu erlangen sei, so solle er und Alle, die ihm anhängen, als Ketzer, Verbannte, Verfluchte, Vermaledeiete öffentlich ausgerufen und angeschlagen werden, alle geistlichen und weltlichen Mächte (mit Ausnahme des Kaisers) sollten unter Androhung des Bannes aufgefordert werden, ihn und seinen Anhang gefangen zu nehmen und auszuliefern.

Luther zog im September zu Fuß gen Augsburg. In Weimar, wo sein Kurfürst damals Hof hielt, ward er gastfrei empfangen, predigte in der Schlosskirche und setzte am dreißigsten September seine Reise fort. In Nürnberg borgte er sich eine Kutte, weil die seinige gar zu abgetragen war. Der Kurfürst hatte ihm schon vor zwei Jahren Tuch zu einer neuen versprochen, aber der Kämmerer hatte die Besorgung immer verschoben. Am 7. Oktober traf er in Augsburg ein, und machte dem Kardinal sogleich Meldung davon. Er war bei den Augustinern eingekehrt, zog aber bald zu seinem Freunde, dem Carmeliter-Prior Johann Frosch. Es sammelten sich viele Anhänger und Verehrer um ihn, die seinetwegen sehr besorgt waren, vielleicht mehr als er selbst. Sie forderten, er solle nicht eher zu dem Kardinal gehen, bis ihm sicheres Geleit vom Kaiser, der in der Nähe war, und vom Rate der Stadt zugesichert wäre. Die Empfehlungsbriefe seines Landesherrn wirkten dazu kräftig mit, doch vergingen einige Tage, ehe er die Zusage erhielt.

Unterdessen kamen täglich vornehme Beamte des Kardinals zu ihm, welche ihn der Gnade ihres Herrn versicherten und ihn aufforderten, sich nicht zu fürchten sondern sich sogleich zu stellen. Die Absicht dabei war, Luthern zu imponieren und ihn einzuschüchtern. Sie rieten ihm einfach, zu widerrufen, denn Widerspruch oder Streit gegen einen so hohen Herrn sei gegen Sitte und Anstand. Man fragte ihn: wenn der Kurfürst von Sachsen ihn aus seinem Lande vertreibe, und das werde und müsse er tun, wo er dann zu bleiben gedenke. Luther antwortete: „Unter dem Himmel.“ Die Haltung Luthers war menschlich groß, aber der Kardinal zweifelte dennoch nicht, dass der arme deutsche Mönch sich vor der Macht seines Wortes und vor seinem Ansehen beugen werde.

Am 12. Oktober erschien Luther mit einigen Freunden vor dem Prälaten, vor dem er sich niederwarf, was ihm, als der Etikette gemäß, geboten war. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, und der Kardinal schwieg, nahm Luther das Wort: „Ehrwürdiger Vater, auf päpstlicher Heiligkeit Zitation und meines gnädigsten Herrn, des Kurfürsten zu Sachsen, Erforderung, bin ich als ein gehorsamer, untertäniger Sohn der heiligen christlichen Kirche erschienen und bekenne, dass ich die Disputationssätze habe lassen ausgehen. Und bin in Gehorsam erbötig und willig, zu hören, was man mich beschuldigt, auch so ich geirrt hätte, mich eines Bessern unterweisen zu lassen.“ Der Kardinal, von vielen italienischen Höflingen umgeben, war die personifizierte Väterlichkeit und Herablassung. Er sagte ihm, der Papst fordere drei Punkte: 1) dass er in sich gehe und seine Irrtümer widerrufe; 2) dass er verspreche, auch in Zukunft davon abzustehen; 3) dass er sich alles dessen enthalte, was Verwirrung in die Kirche bringen könne. Der Widerruf beziehe sich aber vornehmlich auf zwei Behauptungen, die in seinen Streitsätzen und sonstigen Schriften enthalten wären: 1) dass das Verdienst oder das Leiden Christi nicht den Ablassschatz bilde; 2) dass der Mensch den Glauben haben müsse, welcher das Abendmahl empfangen wolle.

Luther hatte sich gründlich vorbereitet. Er hatte nicht nur das canonische Recht, das mit dem Jahre 1313 abgeschlossen war, sondern auch die sogenannten Extravaganzen der späteren Päpste, die nicht ganz das Ansehen des Kirchenrechts hatten, zu diesem Zwecke durchstudiert, Luther erwiderte, das Leiden Christi sei nicht der Ablassschatz selbst, sondern er fließe nur daher; was er auch zwei Tage später zur Überraschung und Beschämung des Kardinals aus den Extravaganzen nachweisen konnte. Was seine zweite Behauptung betreffe, sagte Luther, dass ein Communicant an die Gnade, welche ihm im Sakramente angeboten werde, glauben müsse, wenn er sie erlangen solle, so wolle und könne er sie nicht widerrufen, weil dies wider die heilige Schrift und wider sein Gewissen sein würde. Der Kardinal rief: „Du wollest oder wollest nicht, so musst Du ihn heute widerrufen, oder ich will um dieses einigen Artikels willen alle Deine Lehre verwerfen und verdammen.“ Was der Prälat sprach, wurde mit tiefem Schweigen angehört, was Luther redete, auch wenn es Worte der Schrift waren, von Lärmen und Zischen begleitet. Er bat schließlich um einen Tag Bedenkzeit und empfahl sich.

Wenn Personen hohen Standes sich darauf eingerichtet haben, einem Geringeren zu imponieren und ihn durch die Macht ihres Ansehens und ihr herablassendes Wesen nach ihrem Willen zu lenken, und sie dann doch trotz ihres Komödienspieles, zu dem sie sich erniedrigt haben, den beabsichtigten Eindruck nicht machen, sondern vielmehr Widerspruch erfahren, so überkommt sie das Gefühl einer erlittenen Niederlage, besonders wenn sie, wie Cajetan in diesem Falle, im Rechte zu sein glauben. Es ist daher in der Ordnung, dass der Kardinal und alle seine italienischen Anhänger Luther einen ungeschliffenen Ketzer nannten. Die Geschliffenheit besteht eben darin, nicht Gott und der Wahrheit zu dienen, sondern der Konvenienz und Etikette.

Als Luther zu den Carmelitern zurückkehrte, fand er Staupitz angekommen, was ihm zu großer Freude gereichte. Es wurde beraten, wie er sich weiter verhalten solle und beschlossen, die angegriffenen Sätze schriftlich zu verteidigen. Dazu bedurfte es aber der Zustimmung des Kardinals. Staupitz aber, um sich selbst die Macht über Luther zu entziehen, entband ihn des Gehorsams gegen den Orden.

Am nächsten Tage erschien Luther vor dem Kardinal, aber diesmal umgeben von drei kaiserlichen Räten, dem kursächsischen Gesandten von Feilitzsch, dem Generalvicar seines Ordens, einem Notar und mehreren Zeugen, vielleicht um dem königlichen Pompe des päpstlichen Stellvertreters einigermaßen das Gleichgewicht zu halten. Er sprach: Er sei sich nicht bewusst, etwas gesagt zu haben, was gegen die heilige Schrift, die Kirchenväter oder die päpstlichen Decretalen oder die gesunde Vernunft sei; doch sei er ein Mensch, der irren könne, und habe sich daher unterworfen, unterwerfe sich auch noch dem Urteil und der rechtmäßigen Entscheidung der Kirche und Aller, die es besser wüssten. Zum Überfluss erbiete er sich auch für seine Person, hier oder anderwärts, auch öffentlich Rechenschaft über das, was er gesagt, zu geben. Und wenn dies dem Legaten nicht gefalle, so sei er bereit, auf dessen Einwürfe, wenn er welche gegen ihn aufstellen wolle, schriftlich zu antworten und darüber das Urteil der Universitäten Basel, Freiburg, Löwen und auch der zu Paris zu hören. Der Kardinal antwortete hierauf, es bedürfe dessen nicht, er ermahne ihn vielmehr noch einmal väterlich, in sich zu gehen, der Wahrheit die Ehre zu geben und den Widerruf auszusprechen. Nach einigen vergeblichen Worten Luthers nahm Staupitz das Wort, der Kardinal möge doch die schriftliche Verantwortung gestatten, was endlich auch mit großer Mühe erreicht ward.

Luther entwarf nun seine Antwort. In Betreff der Entstehung des Ablassschatzes sagt er: Die Decretalen irreren oftmals und wären wider die heilige Schrift und christliche Liebe. Es seien auch viele frühere Decretalen durch spätere berichtigt worden. Er sei nicht so unbesonnen, wegen einer einzigen dunkeln und zweideutigen Decretale des Papstes, der ein Mensch sei, so viele und so wichtige, ganz klare Zeugnisse der heiligen Schrift aufzugeben; doch wolle er auch versuchen, seine Sätze mit der Extravaganz in Übereinstimmung zu bringen. Nachdem er dies mit sieben Gründen getan, schließt er, dass die Extravaganz für ihn und wider die Meinung des hochwürdige Herrn Kardinals sei, dass seine 58ste These also noch feststehe, dass die Verdienste Christi nicht seien der Schatz des Ablasses, sondern dass sie ihn erworben hätten. In Betreff des zweiten Satzes vom Glauben beweist er mit vielen Schriftstellen, dass der Mensch nur gerecht werde durch den Glauben an Gott, und dass er nur durch den Glauben an die Worte Christi geschickt werde, das Sakrament zu empfangen. Er schließt: „Darum bitte ich demütiglich, hochwürdigster Vater in Christo, mit meinem Gewissen Mitleid zu haben und mir ein Licht zu zeigen, wie ich dies könne anders verstehen, nicht aber mich zu zwingen, etwas zu widerrufen, dem mein Gewissen beizutreten mich nötigt. So lange diese Beweisstellen noch fest stehen, kann ich nichts anders tun, denn ich weiß, man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Am nächsten Tage übergab Luther diese Schrift. Der Kardinal warf sie bei Seite und hielt mit großer Heftigkeit eine lange scholastische Rede, wonach er Widerruf forderte. Luther versuchte wohl zehn Mal das Wort zu erhalten, aber eben so oft donnerte der Kardinal von Neuem los. Endlich fing Luther auch an zu schreien: „Wenn es bewiesen werden kann, dass die Extravaganz behauptet, die Verdienste Christi seien der Schatz des Ablasses, so will ich widerrufen!“ Da ergriff der Kardinal mit Hohngelächter das Rechtsbuch und las die päpstliche Bestimmung vor. Als er aber bei den Worten war: dass Christus durch sein Leiden den Schatz erworben habe, unterbrach ihn Luther und sprach: „Wohlan, hochwürdigster Vater, erwäget wohl das Wort: erworben. Wenn Christus durch seine Verdienste den Schatz erworben hat, so sind also nicht die Verdienste der Schatz, sondern das, was die Verdienste verdient haben, das heißt: die Schlüssel der Kirche. Also ist mein Satz richtig.“ Der Kardinal geriet in Verlegenheit, brach ab und wollte das Gespräch gewaltsam auf einen anderen Gegenstand lenken; aber Luther hielt sich nicht mehr, sondern brach rücksichtslos in die Worte aus: „Meinet nur nicht, dass wir Deutsche die Grammatik nicht verstehen. Etwas Anderes ist es, ein Schatz sein, etwas Anderes, einen Schatz erwerben.“ Da rief der Kardinal: „Geh und komm mir nicht wieder unter die Augen, es sei denn, dass Du widerrufest. Nachher sagte er: Ich will mit dieser Bestie nichts mehr zu tun haben, denn er hat tiefe Augen und unbegreifliche Gedanken im Kopfe.“

Diese Worte verdienen einen Jubelruf der Deutschen. In den Augen findet das Gemüt seinen Ausdruck, das die Welschen nicht haben, außer etwa in der Form flammender Leidenschaft. Die Vernunft gibt die unbegreiflichen Gedanken. Bei den Italienern herrscht der Verstand. Da wird alle göttliche Wahrheit von dem Weltverstande aufgezehrt, wie eine glühende Atmosphäre die segnenden Regenwolken aufzehrt, welche die schmachtende Erde erquicken sollten. Dem Kardinal schaudert vor den Augen und den Gedanken des Deutschen, denn das sind Geister, die er mit seinen Bannsprüchen nicht zu bannen vermag.

Es folgten noch mehrere Unterhandlungen, die durch Staupitz und Dr. Link geführt wurden, aber sie hatten nur den Erfolg, dass diese Männer selbst in Verdacht gerieten und eiligst und heimlich von Augsburg fliehen mussten. Luther wartete noch acht Tage und schrieb noch zwei Mal an den Kardinal. Er bat demütig wegen seiner Heftigkeit um Verzeihung, versprach auch, widerrufen zu wollen, wenn man ihn belehre und überzeuge, so dass er es mit Zustimmung seines Gewissens tun könne. Es erfolgte keine Antwort, und diese Stille verkündete Gefahr. Am 20. Oktober floh auch er heimlich aus Augsburg.

Diese Unterhandlungen mit dem römischen Kirchenfürsten, dem Stellvertreter des Papstes, haben Luther auf den Höhepunkt seiner reformatorischen Entwicklung gehoben. Die Sätze, dass der Mensch durch den Glauben gerecht werde, und dass die Rechtfertigung durch den Glauben die Zustimmung des Gewissens in sich schließe, sind die unerschütterliche Grundlage aller christlichen Wahrheiten, sind das A und das O der evangelischen Freiheit. Die römische Kirche nennt die Reformation die revolutionäre Emanzipation der sündhaften Subjektivität und Luther einen Empörer gegen die geoffenbarte Religion und gegen die bestehende Weltordnung. Sie hat Recht, tut aber Luther doch Unrecht, denn nicht er ist der Empörer, der revolutionäre Emanzipator der Subjektivität, sondern der Sohn Gottes selbst. Es ist dem Menschen kein Heil gegeben außer in diesen beiden Sätzen. Der Glaube allein rechtfertigt ihn vor Gott, d. h. er macht ihn einig mit ihm, und die Stimme des Gewissens drückt das Siegel der Wahrheit auf diesen rechtmäßigen Zustand des Geisteslebens. Die heilige Schrift ist der Weg, der uns in den Zustand des Glaubens erheben kann, wenn wir uns nämlich mit freiem Geiste, mit kindlicher Einfalt und mit Liebe ihren Eindrücken hingeben; aber sie kann auch zu einer toten Rechtgläubigkeit führen, wenn wir mit vorgefassten Meinungen, mit der Begierde, irgend ein abgeschlossenes Kirchensystem darin vertreten zu finden, wenn wir sie dem Buchstaben, nicht dem Geiste nach in uns aufnehmen. Der Glaube, der uns vor Gott rechtfertigt, soll lebendig sein! Er ist aber nur lebendig, wenn uns das Gewissen darüber gewiss macht, dass unser menschlicher Wille geheiligt und verklärt ist durch den Willen Gottes. Diese Freiheit aber, welche die Christen als Kinder Gottes und als Miterben des Heilands besitzen, nennt die römische Kirche und nennen unsere Rechtgläubigen subjektive Willkür. Sie fordern Rechtgläubigkeit, wie die Satzungen der Kirche sie festgestellt haben, aber nicht rechte Gläubigkeit. Ihnen ist der Glaube nur die buchstäbliche Annahme des Inhalts der heiligen Schrift, nicht das Leben in Gott, nicht der nur aus dem Schriftstudium herfließende göttliche Zustand. Luther leugnet, dass das Verdienst Christi unser Schatz sei, es erwerbe uns nur den Schatz, wenn wir in Glauben und Gebet danach ringen: so ist die heilige Schrift nicht an sich unser Schatz, sondern nur, wenn wir sie uns im Geist und im Leben lebendig machen.

Luther hatte vor seiner Flucht von Augsburg eine Appellation „von dem übel unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Papst“ niedergeschrieben, welche zwei Tage nach seiner Abreise an die Türe des Doms angeschlagen wurde. Noch war er in dem Wahn, er habe es bisher nur zufällig mit einzelnen übelgesinnten Anhängern der römischen Kirche zu tun gehabt, der Papst selbst und die große Gesamtheit der Prälaten und Geistlichen würden ihm gewiss Gerechtigkeit widerfahren lassen. So meinte er damals auch noch, dass, wenn er aus Sachsen vertrieben nach Paris ginge, ihn die Franzosen mit offenen Armen aufnehmen würden. Sein Wahn sollte bald zerstört werden.

Seine Flucht von Augsburg schildert er folgendermaßen: „Doktor Staupitz hatte mir ein Pferd verschafft und gab mir den Rat, einen alten Ausreiter zu nehmen, der die Wege wusste, und half mir Langemantel (ein Augsburger Rathsherr) des Nachts durch ein klein Pförtlein aus der Stadt, da eilte ich ohne Hosen, Stiefel, Sporn und Schwert und kam bis gen Wittenberg. Den ersten Tag ritte ich acht Meilen, und wie ich des Abends in die Herberge kam, war ich so müde, stieg im Stalle ab, konnte nicht stehen, fiel stracks in die Streue.“ Am 31. Oktober 1518 kam er zur allgemeinen Freude der ganzen Universität gesund in Wittenberg an. Er ließ die Verhandlungen, die in Augsburg geführt waren, drucken und gab auch die päpstliche Zuschrift, das Breve, an den Kardinal, mit Anmerkungen heraus. Unterdessen erhielt der Kurfürst einen Brief von Cajetan, in dem dieser mitteilte, wie väterlich und gütig er gegen Luther verfahren sei, wie halsstarrig dieser aber den Widerruf seiner irrigen Meinungen verweigert habe. Es sei jetzt an ihm, den Mönch entweder nach Rom auszuliefern, oder ihn aus seinem Lande zu verjagen. Das erfordere seine fürstliche Stellung und Ehre.

Der Kurfürst, der den Beinamen des Weisen führt, ließ sich von den Drohungen des Kardinals doch mehr schrecken als Luther und dachte ernstlich an dessen Entfernung. Luther suchte sich in einem langen Schreiben gegen die Anklagen des Kardinals, die ihm mitgeteilt waren, zu verteidigen, erklärte sich aber bereit, zu gehen. Er schließt: „Damit Ew. Durchlaucht nicht um meinetwillen etwas Übles zustoße, was ich am allerwenigsten wollte, siehe, so verlasse ich Ihre Lande, um hinzugehen, wohin der barmherzige Gott wolle, und will seinem göttlichen Willen mich überlassen, was auch geschehen möge. Denn nichts will ich weniger, als dass um meinetwillen irgend ein Mensch, geschweige denn Ew. Durchlaucht, in üble Meinung oder in Gefahr gerate. Deshalb, Durchlauchtigster Fürst, grüße ich Ew. Durchlaucht ehrerbietig und sage einfach Lebewohl, ewig dankbar für alle mir erzeigten Wohltaten. Denn wo ich auch sein werde, so werde ich doch Ew. Durchlaucht allzeit eingedenk sein, und für Ihre und der Ihrigen Wohlfahrt aufrichtig und dankbar beten.“

Der Kurfürst aber wurde von dem Gedanken, Luther zu entfernen, sowohl durch dessen Brief wie auch durch die Fürbitte der ganzen Universität wieder abgebracht. Er ließ ihm melden, dass er bleiben solle, was dieser nun auch tat, doch blieb er reisefertig, da er jeden Tag den Bann aus Rom erwartete. Er wollte nicht die Hochschule in sein Geschick hineinziehen, denn sie begann eben damals aufs Herrlichste aufzublühen. Nicht nur viele Männer und Jünglinge strömten in Wittenberg zusammen, um sich mit wahrer Begierde den Wissenschaften zu widmen, sondern auch das Äußere der Stadt, die bis dahin aus elenden Lehmhütten bestanden hatte, nahm eine großartige Gestalt an. Außer Luther trug hierzu Philipp Schwarzerd (Melanchthon) bei, der im August 1518 als Professor der griechischen Sprache dahin berufen war. Er war der Großneffe Reuchlins, aus Bretten in der Pfalz gebürtig, erst 21 Jahre alt, und schon ein gründlicher Gelehrter, wie es damals wenige gab. Reuchlin hatte ihn mit den Worten entlassen: „Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will, und ich will dich zu einem großen Volke machen und dich segnen, und will deinen Namen groß machen und sollst gesegnet sein. So heißt es Genes. 12. und so sagt mir mein Geist voraus und so hoffe ich von dir, Philippe, du, mein Werk und mein Trost. Geh also mit frohem und fröhlichem Herzen.“ — Diese Worte haben ihre Erfüllung erhalten, denn Melanchthon wurde nicht nur bald Luthers Freund, sondern sein anderes Ich. Was Luther an Charakter und Tatkraft besaß, das hatte Melanchthon an Wissen und Einsicht. Sie ergänzten sich gegenseitig so vollständig, dass Beide gemeinschaftlich als ein Faktor betrachtet werden können. Luther hat die Reformation gemacht, Melanchthon hat ihr wissenschaftliche Gestalt gegeben. Was Jener gelebt, hat Dieser geschrieben.

Luther, nachdem er einmal den rechten Sinn des Evangeliums gefasst, d. h. nachdem er die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben und die freie Schriftauslegung unter der Leitung des Gewissens an die Spitze aller christlichen Erkenntnis und allen höheren Lebens gestellt hatte, fand nun ungesucht und unvermutet den Standpunkt zur Beurteilung des Papsttums und der römischen Kirche. Mit eiserner Willenskraft hatte er an den religiösen Vorstellungen seiner Kindheit festgehalten, jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er schrieb seinem Freunde Link, als er ihm die Augsburger Verhandlungen übersandte: „Meine Feder geht schon mit viel größeren Dingen um. Ich weiß nicht, woher mir diese Gedanken kommen. Diese Angelegenheit hat nach meiner Meinung noch nicht einmal angefangen, geschweige denn, dass die großen Herren in Rom hoffen könnten, sie wäre zu Ende. Ich will Dir meine Kleinigkeiten schicken, damit Du sehen kannst, ob ich wohl mit Recht vermute, dass der wahre Antichrist, nach Paulus, am römischen Hofe herrsche.“ Später nennt er den Papst geradezu den Antichristen. Es ist ein hartes Wort, und es fragt sich, was wir heute dabei zu denken haben. Etwas vom Antichristen steckt in jedem Menschen, wie fromm und gut er auch sei. Sofern wir weltlich gesinnt sind, d. h. sofern wir nicht Gott dienen, sondern irdischen Interessen, sofern wir unserem Eigenwillen folgen, sind wir antichristlich. Ebenso ist geschichtlich genommen die semitische Geistesrichtung, die sich im Pharisäismus offenbart, antichristlich, und ebenso die römische Kirche zu Luthers Zeit; denn sie war eben nichts als derselbe jüdische Pharisäismus, nur in christlichem Gewande. Kaiphas und Leo X. sind wesentlich gleich und nur äußerlich verschieden. Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, und der Antichrist ist auch jetzt noch überall zu spüren, und er wird bleiben, bis die Zeit der Zukunft Christi erfüllt ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben