Luther auf der Wartburg. 4. Mai 1521 bis 2. März 1522.

Mit Unwillen hatte sich Luther in die Anordnungen des Kurfürsten Friedrich gefügt, weil der Gott in ihm, der nach Kampf für die Wahrheit dürstete, ihm keine Ruhe ließ; aber er erkannte auch bald, dass von Ruhe keine Rede sein sollte, sondern dass er zwischen den engen Mauern seines Zufluchtsortes ebenso tatkräftig und Taten vollbringend auf dem Kampfplatz stehe, wie in Worms oder in Wittenberg, Eine ganze Reihe der vortrefflichsten Arbeiten, ja das größte Werk seines Geistes, das der deutschen Kirche eine ewige Grundlage gegeben hat, die Übersetzung der heiligen Schrift in unsere Muttersprache, haben hier ihren Ursprung gehabt. Wer sich Gott ergibt, dem ergibt sich Gott auch und sorgt für ihn, wie für sich selbst. Er leitet ihn auf geheimnisvollen, auf wunderbaren Pfaden zu dem Ziele, das er sich und ihn, vorgesteckt hat.

Luther war der Stern, auf den sich damals alle Blicke der Welt, vornehmlich die Blicke aller Deutschen richteten, und da er nun plötzlich dem Gesichtskreise entschwand, so komue dies nur die Teilnahme für ihn erhöhen und in weiteren Kreisen verbreiten. Die feinste Weltklugheit hätte kein Mittel ersinnen können, das dem Rufe seines Namens und der Verbreitung seiner Anschauungsweise günstiger gewesen wäre, als die Dunkelheit, die sich über sein Schicksal und sein Verbleiben lagerte. Die widersprechendsten Gerüchte verbreiteten sich; doch weil die große Menge am liebsten das Schreckliche annimmt, so war auch die Meinung, dass er von den Anhängern des Papstes ermordet worden sei, die vorherrschende. Der große deutsche Maler Albrecht Dürer schreibt in seinem Tagebuche: „Lebt er noch oder haben sie ihn gemördert, das ich nicht weiß, so hat er das gelitten um der christlichen Wahrheit willen, und um dass er gestraft hat das unchristliche Papsttum, das da strebt wider Christus Freilassung, mit seiner großen Beschwerung der menschlichen Gesetz. So wie diesem Mann, der da klärer geschrieben hat, denn nie Keiner in 140 Jahren gelebt, dem Du einen solchen evangelischen Geist gegeben hast, bitten wir Dich, o himmlischer Vater, dass Du Deinen heiligen Geist gebest wiederum Einem, der da Deine heilige christliche Kirch allenthalben wieder versammele, auf dass wir allein und christlich wieder leben, dass aus unsern guten Werken alle Ungläubigen, als Türken, Heiden, Calacuten, zu uns selbst begehren und christlichen Glauben annehmen. Aber Herr, Du willt, ehe Du richtest, wie Dein Sohn, Jesus Christus, von den Priestern sterben muss und vom Tod erstehen und darnach gen Himmel fahren, dass es auch also gleichförmig ergeht Deinem Nachfolger Martino Luthern, den der Papst mit seinem Geld verräterlich wider Gott um sein Leben bringt, den wirst Du erquicken; und wie Du darnach, mein Herr, verhängest, dass Jerusalem darum zerstört ward, also wirst Du auch diesen eigenen angenommen Gewalt des römischen Stuhls zerstören. Ach Herr, gib uns darnach das neu geziert Jerusalem, das vom Himmel herabsteigt, davon Apokalypsis schreibt, das heilig klar Evangelium, das nicht mit menschlicher Lehr verdunkelt sei. Darum sehe ein Jeder, der da Martin Luthers Bücher liest, wie seine Lehre so klar durchsichtig ist, so er das heilige Evangelium führt, darum sind sie in großen Ehren zu halten und nicht zu verbrennen, es war dann, dass man sein Widerpart, die allzeit der Wahrheit widerfechten, ins Feuer würf mit all ihren Opinionen, die da aus Menschen Götter machen wollen. Aber doch, dass man wieder neuer lutherischer Bücher Druck hätte! O Gott, ist Luther tot, wer wird uns hinfort das heilig Evangelium so klar fürtragen? Ach Gott, was hätt er noch in 10 oder 20 Jahren schreiben mögen! O ihr alle fromme Christenmenschen, helft mir fleißig beweinen diesen gottgeistigen Menschen und ihn bitten, dass er uns einen andern erleuchteten Mann send.“
Allzulange konnte die völlige Geheimhaltung des Aufenthaltsortes Luthers nicht bewahrt bleiben, aber es bedurfte ihrer auch nicht. Der Erlöser Deutschlands vom päpstlichen Joch hatte zu Worms vor Kaiser und Reich gestanden, hatte deutschen Volksgeist und deutsches Denken und Fühlen gegen die Ansprüche des einseitigen römischen Verstandes verteidigt, er hatte die Rechte der Kinder Gottes, das Menschenrecht und die Gewissensfreiheit, er hatte den lebendigen Glauben, der allein auf dem Glauben an Gott im Menschen beruht, vertreten, gegen überkommene tote, menschliche Satzungen. Dann war er plötzlich den Blicken entzogen worden, und seine Gegner, welche die Welt beherrschten, erschienen als seine Verderber. Schrecken hatte seine Anhänger ergriffen, aber auch ihre Kräfte aufgerufen und gestählt gegen einen Feind, der sie alle bedrohte. Lange durfte freilich Luthers Abwesenheit nicht dauern, denn die Erkenntnis war noch zu schwach. Auch konnte er sich des Verkehrs mit seinen Wittenberger Freunden und Mitstreitern nicht enthalten. Briefe gingen hin und her. Schriften erschienen von dem Reformator, welche unwidersprechlich dafür zeugten, dass er noch unter den Lebenden sei, und in der Umgegend Eisenachs überzeugte man sich durch den Augenschein von seinem Dasein, denn er machte in der Verkleidung eines Kriegsmannes mancherlei Ausflüge in die benachbarten Städte und Klöster. Auch den Jagden, welche die ritterliche Besatzung der Wartburg unternahm, wohnte er öfters bei, weil seine leidende Gesundheit viel Bewegung in freier Luft erforderte.


In Worms war man indessen gegen ihn mit den Mitteln, die der weltlichen Macht zu Gebote standen, vorgegangen. Der Kaiser, der um diese Zeit ganz in den Händen seines päpstlichen Beichtvaters und der römischen Gesandten war, erließ am 26. Mai 1521, nachdem die Kurfürsten von Sachsen und von der Pfalz und andre dem deutschen Volke günstig gesinnte Mitglieder des Reichstages Worms verlassen hatten, die Reichsacht gegen Luther, doch wurde die Urkunde auf den 8. Mai zurück datiert. Nachdem darin die Irrungen und Ketzereien, welche er eingeführt habe, aufgezählt worden sind, heißt es: „Und damit alle andere des Luthers unzählbare Bosheiten um Kürze willen unerzählt bleiben, so hat dieser Einige, nicht ein Mensch, sondern als der böse Feind in Gestalt eines Menschen mit angenommener Mönchskutten, mancher Ketzer auf höchste verdammte Ketzereien, die lange Zeit verborgen blieben sind, in eine stinkende Pfüzzen zusammen versammelt und selbst etliche von Neuem erdacht, in Schein, dass er predige den Glauben, den er gemeiniglich mit solchem hohen Fleiß einbildet, damit er den wahren rechten Glauben zerstöre und unter dem Namen und Schein der evangelischen Lehre allen evangelischen Fried und Liebe, auch aller guten Dinge Ordnung und die allerzierlichste christliche Gestalt umkehre und niederdrücke.“ Hierauf werden die Wormser Verhandlungen erzählt und wie Luther fest auf seinen Ansichten beharrt habe; dann heißt es weiter: „Und wird er darum als ein von Gottes Kirche abgesondertes Glied, ein verstockter Zertrenner und offenbarer Ketzer erklärt und geboten, es solle bei Vermeidung der Strafe des Verbrechens der beleidigten Majestät und des Reichs Acht und Aberacht u. s. w. ihn Niemand hausen, höfen, ätzen, tränken noch enthalten, noch ihm mit Worten oder Werken, heimlich oder öffentlich keinerlei Hilfe, Anhang, Beistand, noch Fürschub beweisen, sondern ihn, wo man sein mächtig würde, gefänglich annehmen und wohl bewahrt an kaiserliche Majestät senden. Seine Mitverwandten, Anhänger, Enthalter, Fürschieber, Gönner und Nachfolger soll Jedermann niederwerfen und fahen und ihre Güter zu Handen nehmen und zu eigenem Nutz behalten. Seine Bücher soll Niemand kaufen, verkaufen, lesen, behalten, abschreiben, drucken oder abschreiben und drucken lassen, sondern von aller Menschen Gedächtnis abtun und vertilgen, unangesehen, ob darinnen etwas Gutes, den einfältigen Menschen damit zu betrügen, eingeführt wäre. —

Luther hatte seinen Freund Staupitz, der ihn früher in allen weltlichen Angelegenheiten belehrt und geleitet, und am kurfürstlichen Hofe vertreten hatte, verloren; denn derselbe war 1520 in die Dienste des Erzbischofs von Salzburg getreten, der ihm eine Abtei verlieh. Er starb in dieser Würde 1524, nahm aber in den letzten Jahren nur noch geringen Anteil an den Angelegenheiten und dem Schicksale Luthers. Dieser war ihm über den Kopf gewachsen, und es war ihm vielleicht nicht bequem, dem ehemaligen Schüler jetzt selbst als Schüler zu folgen. Dagegen hatte Luther eine um so festere Stütze an Spalatin gefunden. Derselbe machte die Sache des Reformators ganz zu der seinigen und widmete sich ihr mit völliger, Hingebung. Er war es auch, der die Nachricht von der kaiserlichen Reichsacht an Luther gelangen ließ. Derselbe wurde dadurch aber weder erschreckt noch überrascht, sondern erwiderte ziemlich gleichgültig darauf, sie werde wenig schaden. Sie schadete auch nicht, wenigstens nicht in Betreff der Person Luthers; im Übrigen hätte eine Förderung der Bestrebungen derselben durch Karl V. für das gesamte Deutschland freilich viel Missgeschick verhindern können.

Luther war in seiner religiösen Erkenntnis bereits so weit vorgeschritten, dass ihn nur das lebhaft ergriff, was ihn zu einer eingreifenden Tätigkeit aufforderte, nicht aber das, wogegen er nichts tun konnte, mochte es auch noch so bedrohlich sein. Das zu verhüten überließ er Gott, der es zugelassen hatte. Er fand genug in sich selbst zu tun. Es ist Vielen wunderbar erschienen, dass er, der so tiefe Blicke in das Verhältnis des Menschen zu Gott und Gottes zum Menschen getan, an der Vorstellung eines leiblichen Teufels festhalten, ja wohl gar diese Vorstellung erst recht ausbilden und unter das Volk verbreiten konnte. Die Erzählung, dass er mit dem schweren, bleiernen Dintenfasse, welches noch jetzt als Reliquie aufbewahrt wird, nach dem Teufel geworfen habe, ist Volkssage, und wird von keinem gleichzeitigen Berichterstatter mitgeteilt; aber jedenfalls liegt darin die Wahrheit, dass Luther sich als den Herrn des Teufels gefühlt, und sich nicht vor ihm gefürchtet habe. Das vergessen Diejenigen, welche jetzt den Teufel so häufig als Schreckbild an die Wand malen. Die Auffassung Luthers rücksichtlich seines Verhältnisses zum Teufel ist aber auch weniger unbegreiflich, als sie auf den ersten Blick scheint. Jeder gläubige Mensch, der sich von ganzer Seele und mit allen Kräften des Geistes dem Dienste Gottes hingibt, wird sich häufigeren und stärkeren Versuchungen zum Bösen ausgesetzt fühlen, als ein anderer, der seine eigenen Wege geht. Die Gegensätze berühren sich, ja sie berühren sich nicht nur, sie erzeugen sich. Wer Gott eine Stätte in seinem Innern bereitet und überall auf die Stimme dieses seines Gottes in sich lauscht, der wird sich oft wunderbar erhoben und getragen fühlen, und Welt und Menschen werden ihm weit unter der Himmelsbahn, auf der er wandelt, zu sein scheinen. Macht sich aber der Gott in solcher Weise im Gemüt geltend, so tritt eben so entschieden und anspruchsvoll der hochmütige, eigne Verstand hervor und verlangt Gehör und Befriedigung. Diese Anfechtungen nannte Luther nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit teuflische, und dass er solchen gefahrvollen Versuchungen häufig ausgesetzt war, sie aber auch überwand, gereicht seinem Namen zum Ruhme, nicht zum Tadel. Und selbst wenn er unterlag, sich dann aber gleich wieder aufraffte zum Kampfe, so betätigte er sich auch da noch als christlicher Streiter und Mann Gottes; denn es ist mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte, d. h. als über alle Diejenigen, die gar nicht versucht worden sind, und die also auch nicht unterliegen konnten. Je mächtiger der Geist Gottes im Menschen waltet, um so mächtiger wird und muss sich die irdische Natur beeinträchtigt fühlen und empören. Je persönlicher aber der Gott, um so individueller wird auch die Neigung zum Bösen, der Teufel, erscheinen.

Die Vollkommenheit ist keine irdische Frucht, und der Mensch ist dem Irrtum und dem Fehltritt unterworfen, so lange er im Streben nach der Wahrheit begriffen ist. Weß das Herz voll und der Geist sicher ist, deß geht der Mund über, und Luthers Mund ging oft über von guten Worten und Gedanken; aber er hatte doch auch Zeiten, in denen sein Herz leer und sein Geist unsicher war. Er klagt, dass er, statt im Geiste brünstig zu sein, brünstig sei im Fleische, träge und schläfrig zum Gebet und unempfindlich in seinem Herzen. „Glaubt nur“, schreibt er am 1. November, „dass ich hier in der Musse und Einsamkeit tausend Teufeln vorgeworfen bin. Es ist gar viel leichter, wider den eingefleischten Teufel, das ist, wider Menschen zu kämpfen, als wider die geistlichen Mächte der Bosheit unter dem Himmel. Ich falle oft, aber die Rechte des Höchsten hält mich. Eben deshalb sehne ich mich auch wieder unter die Leute; aber ich will nicht, bis mich Gott ruft.“

Luthers Tätigkeit war auf der Wartburg so vielseitig, wie vorher. Er studierte fleißig das griechische neue und das hebräische alte Testament, schrieb viele tröstliche und belehrende Briefe an Freunde und Bekannte, predigte öfter seinem Wirt und andern vertrauten Leuten und arbeitete an erbaulichen Büchern und an Streitschriften.

Unter den belehrenden Schriften ist die von der Beichte besonders bemerkenswert. Luther weist nach, wie dem Menschen die Beichte im Allgemeinen nützlich und notwendig sei, dass er sein Herz erleichtere, und sich und Gott einen Dienst erweise, wenn er die Vergehungen und Sünden, die sein Gemüt beunruhigen und quälen, Andern mitteile, ob Laien oder Priestern, sei gleichgültig. Der Papst habe aber aus der Beichte einen Notstall gemacht, sie auf bestimmte Zeiten und Orte beschränkt und den Christen dadurch in ein knechtisches Verhältnis gezwängt, das mehr Unruhe und Missbrauch erzeuge, als Trost und Erhebung gewähre. Deshalb solle der Mensch sich eröffnen und beichten nach seinem religiösen Bedürfnis und den Forderungen seines Gemütszustandes, aber nicht auf Befehl.

Unter Anderm schrieb Luther auch von der Wartburg an den Kurfürsten Albrecht von Mainz, der es in der Hoffnung, dass mit Luthers Verschwinden die ganze reformatorische Bewegung verstummen werde, gewagt hatte, den Ablasshandel von Neuem in Gang zu bringen. Er belehrt ihn über die Gottlosigkeit des Ablasskrames, droht ihm aber zugleich, er wolle seinen Wucher der Welt offenbar machen, wenn er ihn nicht sofort einstelle. Es heißt in dem Schreiben: „Ew. Kurfürstliche Gnaden denken nur nicht, dass der Luther todt sey; er wird auf den Gott, der den Papst gedemüthiget hat, so frey und fröhlich pochen, und ein Spiel mit dem Cardinal von Mainz ansahen, deß sich nicht viel versehen. Thut Euch, liebe Bischöfe, zusammen, Jungherren möget Ihr bleiben; diesen Geist sollet Ihr nicht schweigen, noch täuben. Widerfähret Euch aber ein Schimpf daraus, deß Ihr Euch jetzt nicht versehet, so will ich Euch hiermit verwarnet haben. Darum sey Ew. Kurfürstliche Gnaden endlich und schriftlich angesagt, wo nicht der Abgott wird abgethan, muss ich göttliche Lehre und christliche Seligkeit zu gut mir das lassen eine nöthige, dringende und unvermeidliche Ursach seyn, Ew. Kurfürstliche Gnaden wie den Papst öffentlich anzutasten, solchem Vornehmen fröhlich entgegen zu reden, allen vorigen Greuel des Tezels auf den Bischof zu Mainz zu treiben und aller Welt anzeigen den Unterschied zwischen einem Bischof und Wolf!“

Albrecht war ein durch und durch weltkluger Fürst, der aber in der römischen Anschauungsweise groß geworden, nichts von einem wahren Verständnis der Lehre des Heilands wusste, der also auch, da er ohnehin von Römlingen umgeben war, leicht und gern dem alten Gebrauche und dem alten Rechte folgte, wodurch ihm die Mittel zu einem prächtigen und fürstlichen Hofhalte dargeboten wurden. Dennoch ergriff ihn die Macht der Wahrheit, die Luther vertrat, und er antwortete wenigstens mit dem Scheine der Demut und Unterwerfung dem Gebannten und Geächteten: „Lieber Herr Doktor, ich hab' Euren Brief empfangen und gelesen, und zu Gnaden und allem Guten angenommen; versehe mich aber gänzlich, die Ursach sey längst abgestellt, so Euch zu solchem Schreiben beweget hat. Und will mich, ob Gott will, dergestalt halten und erzeigen, als einem frommen Geistlichen und christlichen Fürsten zustehet, als weil mir Gott Gnade, Stärke und Vernunft verleihet, darum ich auch treulich bitte und lassen bitten will. Denn ich von mir selbst nichts vermag und bekenne mich, dass ich bin nöthig der Gnade Gottes; wie ich denn ein armer sündiger Mensch bin, der sündigen und irren kann und täglich sündiget und irret, leugne ich nicht. Ich weiß wohl, dass ohne die Gnade Gottes nichts Gutes an mir ist, und sowohl ein unnützer stinkender Kot bin, als irgend ein Anderer, wo nicht mehr.“

Wenn man wahrnimmt, welche göttliche Kraft der Wahrheit innewohnt, so muss man darüber erstaunen, dass ihr so wenige Menschen huldigen. Wenn man bei Mächtigen und Einflussreichen keinen Anstoß erregt, so spricht man etwa noch seine Überzeugungen aus; wenn man aber weiß, dass diese Überzeugungen nicht gern gehört werden, oder wenn man in Folge seiner Freimütigkeit in Schaden und Nachteil geraten könnte, so wird die köstlichste Gabe Gottes, es wird die Wahrheit oder, was dasselbe ist, Gott selbst verleugnet. Man hat keine Ehrfurcht vor sich selbst, keine Verehrung vor der Stimme Gottes, die sich in uns kund gibt.

Vor allen andern Arbeiten wendete Luther seine fortdauernde Tätigkeit der Übersetzung des Neuen Testamentes zu. Sie ward fast ganz auf der Wartburg vollendet und im nächsten Jahre gedruckt. Diese deutsche Bibel ist ein Volksbuch geworden und hat einen Einfluss auf die Entwicklung der Deutschen gewonnen, wie kein anderes Buch. Man darf sagen, dass in dieser Übersetzung die Wiedergeburt des Christentums auf dem Boden des deutschen Volksgeistes zur Erscheinung kommt. Wenige Völker sind so glücklich, ein echtes Volksbuch zu besitzen. Die französische Regierung hat einst 500.000 Frs. als Preis ausgesetzt für denjenigen, der ein solches abfassen würde, aber vergebens. Die Deutschen besitzen nicht nur überhaupt ein Volksbuch, sondern sie besitzen dasjenige Buch als solches, welches das Buch der Bücher ist, welches nicht bloß den individuellen Beruf oder die eigentümlichen Aufgaben dieser oder jener Volkstümlichkeit, sondern welches die Lebensaufgabe und die endliche Bestimmung aller Menschen und Völker ausspricht und wenn auch als fernes, doch als erreichbares Ziel vor Augen steckt. Damit ist unserm Volke die weiteste Aussicht in die Zukunft gegeben, und wenn es sich seiner Aufgabe würdig macht, wozu jeder Einzelne beitragen muss. so wird es sich vor andern Völkern bei der Verbreitung und Entwicklung des Lebens Christi beteiligen.

Während Luther so im Ewigen beschäftigt war und an der geistigen Wiedergeburt des apostolischen Zeitalters arbeitete, gedachten einige seiner Jünger zu Wittenberg, das Werk der Reformation selbstständig in die Hand zu nehmen. Luthers Worten folgend, ohne von Gott durchdrungen zu sein, meinten sie, es müsse äußerlich Etwas geschehen. Die Kirchenverbesserung bestehe im Abtun römischer Zeremonien oder in Vernichtung kirchlichen Schmuckes, der bisher zu mancherlei Missbräuchen Anlass gegeben hatte. Luther wurde in seinem Patmos, wie er die Wartburg nannte, durch die Nachricht von diesen Unordnungen erschreckt. Schon im November 1521 war er in ritterlicher Tracht auf einige Tage in Wittenberg gewesen, um sich mit seinen Freunden zu beraten; aber da zu Anfang des Jahres 1522 die Unruhen zunahmen, besonders fremde Schwärmer sich einstellten, den äußeren Umsturz des Alten zu fördern, so entschloss er sich, gegen den Willen seines Kurfürsten, den ihm angewiesenen Zufluchtsort zu verlassen und auf seine verwaiste Kanzel und seinen Lehrstuhl zurückzukehren. Nur durch seine Gegenwart durfte er hoffen, dem Geiste der Empörung mit Erfolg entgegen treten zu können.

Unterwegs schrieb er an seinen edlen Kurfürsten, nicht, um sich zu entschuldigen, sondern sich zu rechtfertigen. Es heißt in dem merkwürdigen Briefe: „Ich hab Euer Kurfürstl. Gnaden genug getan, dass ich dies Jahr gewichen bin, Ew. Kurfürstl. Gnaden zu Dienst, denn der Teufel weiß fast wohl, dass ich's aus keinem Zag getan hab. — — Ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz, denn des Kurfürsten. Ich hab's auch nicht im Sinn, von Ew. Kurfürstl. Gnaden Schutz zu begehren. Ja ich halte, ich wollte Ew. Kurfürstlichen Gnaden mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu, wenn ich wüsste, dass mich Ew. Kurfürstl. Gnaden könnte und wollte schützen, so wollt ich nicht kommen. Dieser Sachen soll, noch kann kein Schwert raten oder helfen; Gott muss allhie allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen. Dieweil ich denn nun spüre, dass Ew. Kurfürstl. Gnaden noch gar schwach ist im Glauben, kann ich keinerlei Wege Ew. Kurfürstl. Gnaden für den Mann ansehen, der mich schützen oder retten könnte. — — Dieweil ich nicht will Ew. Kurfürstl. Gnaden folgen, so ist Ew. Kurfürstl. Gnaden vor Gott entschuldigt, so ich gefangen oder getötet würde. Wenn Ew. Kurfürstl. Gnaden glaubte, so würde sie Gottes Herrlichkeit sehen; weil sie aber nicht glaubt, hat sie auch noch nichts gesehen. Gott sei Lieb' und Lob in Ewigkeit. Amen.“ Der weise Kurfürst fühlte sich durch diesen heldenmütigen Brief Luthers nicht beleidigt, sondern gab jetzt seine Einwilligung zu dessen Rückkehr nach Wittenberg, und forderte nur, dass der Reformator ein anderes Schreiben an ihn verfassen sollte, welches er zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung dem eben versammelten Reichstage in Nürnberg vorlegen könne. Luther genügte dieser Aufforderung, und gibt in diesem zweiten Schreiben folgende Gründe seines erneuten öffentlichen Auftretens an: „Nicht aus Verachtung des Kaisers und der Obrigkeit sei der Schritt geschehen, sondern die Gemeinde zu Wittenberg habe ihn flehentlich berufen, weil das Werk durch ihn angefangen worden; dann sei der Satan in seiner Abwesenheit in seine Hürden gefallen und habe etliche Stücke angerichtet, gegen die er mit lebendigem Mund und Ohr handeln müsse: er sei schuldig, für seine Kinder den Tod zu leiden. Fürs Dritte sei sehr zu besorgen eine große Empörung in deutschen Landen, weil der gemeine Mann das Evangelium fleischlich nehme, und die, welche das Licht mit Gewalt dämpfen wollen, die Herzen zum Aufruhr zwingen. In solchem Falle müsse man sich nach dem Worte des Propheten als eine Mauer setzen für das Volk. Übrigens solle sich der Kurfürst darauf verlassen, dass es im Himmel viel anders denn auf Erden (er wollte sagen, zu Nürnberg) beschlossen ist.“ — Die Versammlung zu Nürnberg hatte aber entweder über Angelegenheiten zu beraten, die ihr drängender und wichtiger erschienen, oder sie wusste keinen besseren Rat, der Bewegung und der Unruhen in Wittenberg Herr zu werden, wenn die Gegenwart Luthers es nicht täte, und so zog sie ein weises Stillschweigen einem Verbote vor, das sie wahrscheinlich auch nicht einmal hätte in Ausführung bringen können.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben