Luther als Doktor der Theologie. 1512 — 1516.
Luther war in seine Klosterzelle nach Wittenberg mit derselben fanatischen Anhänglichkeit an das Papsttum zurückgekehrt, mit der er sie verlassen hatte; aber sein Blick für die allgemeinen Verhältnisse des menschlichen Daseins hatte sich erweitert. Namentlich war ihm Italien näher getreten, und Alles, was sich auf dasselbe bezog und daher über die Alpen nach Deutschland herübertönte, berührte ihn als etwas ihn Angehendes. Seinem Gönner und Freunde Staupitz stattete er ausführlichen Bericht über seine Geschäfte ab, sprach dann aber vorzugsweise zu ihm von den Anfechtungen und Kämpfen, die er während der Reise in sich zu bestehen gehabt habe. Die allgemeine Not der Kirche lag ihm noch fern, und wie belehrende Erfahrungen er in dieser Hinsicht auch gemacht hatte, er erkannte noch nicht, dass der Grund davon in dem römischen System liege, oder wenigstens wesentlich damit zusammenhänge, sondern meinte, dass die Gebrechen, die er wahrgenommen, aus der Schuld und Mangelhaftigkeit der Einzelnen hervorgingen. Hauptsache war und blieb er sich vorläufig selbst, was auch überhaupt das richtige Verfahren ist, denn wer am Besten für sich sorgt, sorgt damit auch zugleich am Besten für Andere. Die Werke sollen das Erzeugnis des Glaubens sein, die Erscheinungen der Ausdruck des Wesens, das äußere Tun der Spiegel des geistigen Seins. Man rühmte schon in dieser Zeit an ihm, dass seine Lehren in Vorlesungen und Predigten darum einen so starken Eindruck auf die Zuhörer gemacht hätten, weil sein Leben ihnen entsprechend gewesen wäre. Staupitz der die gleiche Natur und gleiche Richtung mit Luthern hatte, dem es aber an Stärke und Festigkeit des Charakters fehlte, fühlte oder ahnte mindestens, was sein junger Freund der Kirche und der Menschheit werden könne, und suchte daher fortdauernd ihn äußerlich hervorzuheben und in eine für die Welt bedeutendere Stellung zu bringen. Nachdem er also bewirkt, dass der Kurfürst Friedrich, dessen Vertrauter er war, ihn hatte predigen hören, und nachdem derselbe auf diese Weise für den jungen Professor gewonnen worden, betrieb er dessen Promotion zum Doktor der Theologie, wozu der Kurfürst das Geld herzugeben sich bereit erklärt halte. Die Doktorwürde gehörte damals zu den größten Ehren, die ein Mensch erlangen konnte. Sie wurde dem Ritterstande gleichgesetzt, und ein Doktor war ein Mann, der weit über der Masse emporgehoben erschien.
Staupitz eröffnete bei einem Spaziergange im Klostergarten unter einem Baume, den Luther später noch den Freunden zeigte, diesem das Vorhaben, das er, der Konvent und der Kurfürst rücksichtlich seiner gefasst habe. Der demütige Mann aber, dem das Streben nach äußerer Ehre und Auszeichnung sehr fern lag, bat, ihn mit solchem Unternehmen zu verschonen; er sei ein kranker und schwacher Bruder, er werde es nicht weit bringen, man möge sich nach einem gesunderen und tüchtigeren Manne umsehen. Stanpitz kannte diese Einwendungen, ließ sich nicht zurückweisen und antwortete, Gott habe große Geschäfte und bedürfe seiner als eines geschickten Rüstzeuges, er möge sich daher diesem Rufe nicht entziehen; außerdem sei er ihm als seinem Oberen und dem Konvent des Klosters Gehorsam schuldig. Er teilte ihm auch mit, dass der Kurfürst zu Ehren Gottes und zur Förderung der Universität und des Klosters die Kosten der Promotion übernommen habe und aus seinen Kämmerei-Einkünften bezahlen werde. Luther sah hiernach wohl, dass sein Widerstand unnütz sei. Er musste selbst nach Leipzig reisen, um das angewiesene Geld in Empfang zu nehmen, worauf der feierliche Akt, nachdem er Tags vorher zum Licentiaten der Theologie ernannt worden war, am 19. Oktober 1512 vollzogen wurde. Unter dem Geläute der großen Glocke und vielem Gepränge versammelten sich die Lehrer der Hochschule, die Geistlichen und Mönche, und sonst viele ehrwürdige Männer aus der Stadt und der Umgegend, und Luther legte den feierlichen Eid ab, der heiligen Schrift und der Kirche unverbrüchlich dienen zu wollen, worauf er von dem Dekan der theologischen Fakultät, Dr. Andreas Bodenstein aus Carlsstadt, mit den Zeichen der neuen Würde geschmückt ward. Den goldenen Doktorring, der ihm angesteckt wurde, und der noch jetzt in Wolfenbüttel aufbewahrt wird, machte ihm der Kurfürst zum Geschenk. Für einen Mann wie Luther, bei dem das Pflichtgefühl so vorherrschend war, der nichts vor Gott und seinem Gewissen glaubte verantworten zu können, wozu er nicht bloß innerlich, sondern auch äußerlich berufen sei, war es ein Vorgang von größter Bedeutung, dass er den Prälaten der Kirche gleichgestellt wurde und sich ihnen ebenbürtig halten durfte. Es ist ein Mangel im Wesen der Deutschen, dass sie sich als Menschen so gering fühlen, und auf Rang und Stand und Titel so großen Wert legen, aber im vorliegenden Falle ist es das Amt gewesen, worauf der Ton gelegt werden muss, nicht die Benennung und das Zeichen desselben, wenigstens spricht Luther immer nur von dem mit der Doktorwürde übernommenen Amt.
Die Erfurter Universität fühlte sich durch diesen Vorgang in Wittenberg verletzt, und klagte Luther des Mangels an Pietät an. Da er in Erfurt die Magisterwürde erlangt habe, hätte er daselbst auch die Doktorwürde nachsuchen müssen. Luther erwiderte, sie hätten in Erfurt ja gewusst, was in Wittenberg vorgehen solle, und so hätten sie dies entweder verhindern oder selbst ihn zum Doktor ernennen können. „Ich bin dazu berufen und gezwungen worden“, schreibt er, „dass ich musste Doktor werden, ohne einen Dank, aus lauter Gehorsam. Da habe ich das Doktorat müssen annehmen und meiner allerliebsten heiligen Schrift schwören und geloben, sie treulich und lauter zu predigen.“
So war Luther nun ein Mann geworden, der durch die italienische Reise innerlich befähigt und durch die Doktorwürde äußerlich berufen war, über die öffentlichen Angelegenheiten auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kirche sich ein Urteil zu bilden und ein Urteil abzugeben. Es bestand damals ein Streit zwischen Reuchlin, einem der edelsten Humanisten in Deutschland, und den Dominicaner-Mönchen zu Köln, welcher das Vorspiel zu dem großen Drama der Lutherschen Kirchenverbesserung genannt zu werden pflegt. Ein getaufter Jude, Johann Pfefferkorn, hatte in einer Schrift „Der Judenspiegel“ im Jahre 1507 seine ehemaligen Glaubensgenossen schmählich angegriffen und die Vertilgung aller hebräischen Schriften mit alleiniger Ausnahme des Alten Testamentes gefordert. Dies griffen die finsteren Dominicaner zu Köln lebhaft auf, und ihr Prior Jakob Hochstraten trug bei dem Kaiser Maximilian I. daraus an, er solle die Verbrennung dieser Schriften in seinem ganzen Reiche gebieten. Der Kaiser aber wollte auf den Antrag nicht ohne Weiteres eingehen und forderte von dem gelehrten Reuchlin, welcher der hebräischen Sprache sehr kundig war, ein Gutachten. Reuchlin behandelte den Gegenstand ganz unparteiisch und zeigte in einer Schrift: „Der Augenspiegel“, dass die hebräischen Schriften, wenn man sie ernstlich studiere, nur zur Ehre des Christentums und der Wissenschaft gereichen könnten, und dass es keineswegs geraten sei, sie zu verbrennen. Dagegen erhoben nun die Kölnischen Ketzerrichter ein großes Geschrei. Sie verdammten und verbrannten 1514 Reuchlins Buch öffentlich, und verklagten den Verfasser bei Kaiser und Papst als einen gefährlichen Ketzer, der sich der Juden annehme und die jüdische Lehre verteidige. Der Papst entschied zuletzt gegen die Mönche, und der Ritter Franz von Sickingen nötigte sie mit Gewalt des Schwertes, die Prozesskosten, zu denen sie verurteilt waren, zu bezahlen. Luther, von Spalatin — dem Hofprediger und Vertrauten des Kurfürsten — über diese Angelegenheit befragt, antwortete in einem Brief, dass er dem unschuldigen und hoch gelehrten Manne (Reuchlin) durchaus Recht geben müsse. Sein Urteil könne zwar verdächtig erscheinen, da er Reuchlin vorher schon so hochgeschätzt habe, aber er finde in seiner Schrift durchaus nichts Gefährliches, und er wundere sich nur, wie die Kölner gar nicht darauf achteten, dass Reuchlin keine Glaubenssätze aufstelle, sondern nur seine gutachtliche Meinung sage. Aber jene Ketzerrichter fingen an Mücken zu seigen und Kamele zu verschlucken, denn es gäbe in den Gassen Jerusalems (Roms) ganz andere Lästerungen und Götzengräuel abzutun, als dass man sich mit solchen äußeren und fremden Dingen befassen dürfe. Sein Herz sei von diesen Gedanken mehr voll, als die Zunge sagen könne.
Einen noch größeren Ruf als Reuchlin hatte damals der gelehrte Humanist Erasmus von Rotterdam. Vermöge seiner erstaunenswürdigen Gelehrsamkeit wäre er mehr als irgend ein Anderer berufen gewesen, die Irrtümer und die falsche Richtung der herrschenden päpstlichen Kirche nachzuweisen, aber es fehlte ihm dazu an Charakterstärke. Er war zwar in Rotterdam von deutschen Eltern geboren worden, allein er hatte seine Bildung auf der Sorbonne in Paris empfangen, und sich viel in England, Frankreich und Italien aufgehalten. Der deutsche Geist und das deutsche Gemüt waren ihm in dem Verkehr mit den Fremden abhanden gekommen, und es war ihm ergangen, wie es heute noch so vielen Kindern vornehmer Leute ergeht, die über die Beschäftigung mit dem Französischen und Englischen nicht nur ihre Muttersprache und die Literatur ihres Volkes vernachlässigen, sondern, was das viel Schlimmere ist, in zartester Jugend schon dem Geiste und der Anschauungsweise des deutschen Volkes entfremdet werden. Das, was sie heilig halten sollten, verschwenden sie zu Gunsten einer fremden Sprache und Volkstümlichkeit, in der sie doch immer Fremdlinge bleiben, und die ihnen ansteht, wie dem Bauer das Ritterkleid. Sie tragen Masken und schämen sich des edlen Antlitzes, das sie von Gott und der Natur empfangen haben.
Erasmus konnte lateinisch sprechen und schreiben, wie keiner seiner Zeitgenossen, und wie es mit solcher Geläufigkeit auch wohl keiner der heutigen Gelehrten vermag. Er hatte wie Peter Schlemihl seinen Schatten verkauft, und lebte nun flüchtig auf der Erde als Gelehrter, ohne noch ein Mensch zu sein. Für die Auferstehung des deutschen Volksgeistes, worauf es damals ausschließlich ankam, konnte er nichts tun. Für ihn gab es nur eine Welt der Convenienz, die römische Welt. Vom Geiste wusste er nur etwas in der Form des Witzes, des Scharfsinnes und der Satire: der Geist als Gemütskraft, als Seelengröße war ihm unbekannt.
Über ihn äußerte sich Luther damals auch an Spalatin ungefähr in folgender Weise: Es sei gut, dass Erasmus die Priester und Mönche so gelehrt und gründlich widerlege, und sie von ihrer Unwissenheit überführe, aber von der wesentlichen Bedeutung Christi verstehe er nichts. Das Menschliche überwiege bei ihm das Göttliche. Nicht jeder, der Griechisch und Hebräisch verstehe, sei deshalb schon ein wahrer Jünger des Heilands. Seine Darstellung der Gebrechen und des Elends der Kirche sei so angenehm, gelehrt und geistreich, dass man darüber lachen müsse, während darüber nur zu seufzen und zu klagen sei. Bei der Gerechtigkeit denke er nur an die Beobachtung der Zeremonien und an die Werkheiligkeit. Wenn die Werke ohne Glauben getan würden, führten sie nicht zur Gerechtigkeit Gottes. Das Sein müsse ihnen vorangehen, sonst wären sie nur Schein. Er hoffe aber, dass ihm Gott wohl noch zur rechten Einsicht verhelfen werde. Dies war freilich möglich, weil bei Gott nichts unmöglich ist, aber es war im höchsten Maße unwahrscheinlich und ist auch nicht geschehen.
Wir haben keine Nachrichten darüber, aber wir dürfen als gewiss annehmen, dass Luther, der jetzt schon mit den angesehensten Personen freundschaftlich verkehrte, von den öffentlichen Angelegenheiten Kenntnis nahm, und dass ihm z. B. der Zuruf der Pisanischen Kirchenversammlung (1511) an den Kaiser Maximilian nicht fremd geblieben sei: Die Kirche sinkt dahin; die Frommen werden unterdrückt, die Bösen gewinnen die Oberhand; die Gerechtigkeit fällt und der Frevel steigt zu Ehren; der Unglaube erhebt sich und wird gepriesen. Lege die Hand an, großer Kaiser, die Kirche ruft Dir's zu als ihrem Vertreter und ihrem Beschützer mit wehklagender, aber mit starker Stimme. — Eine Kirchenverbesserung an Haupt und Gliedern war seit einem Jahrhundert das Feldgeschrei aller sittlich strebsamen Menschen, aber Alle fast ohne Ausnahme meinten, es sei eine gründliche Besserung der Kirche möglich, wenn die äußeren Verhältnisse gebessert würden. An eine Erneuerung des Glaubens, an eine Umwandlung der religiösen Richtung dachte Niemand. Für eine Reformation in den romanischen Ländern war die Forderung eines erneuten sittlichen Lebens auch wirklich ausreichend, wie denn auch bis auf den heutigen Tag dort nichts Anderes bewirkt worden ist; aber für Deutschland musste eine ganz andere Wandlung eintreten, wenn den unabweisbaren Ansprüchen des Volksgeistes genügt werden sollte. Zu dieser Einsicht war auch Luther noch nicht gelangt, aber er näherte sich derselben mit starken Schritten. Sein eifriges Studium des Apostels Paulus, hauptsächlich des Römerbriefes, hob ihn immer höher und höher und brachte ihn schließlich auf den Standpunkt, auf welchem der Apostel selbst gestanden hatte. Er sing jetzt auch an, sich mit dem Griechischen zu beschäftigen, um die Schrift in der Ursprache lesen zu können; besonders geschah dies, als Erasmus das Neue Testament 1516 zum ersten Male in griechischer Sprache drucken ließ. Für die unglaubliche Unwissenheit in der Kirche der damaligen Zeit zeugt eine bei dieser Gelegenheit von einem Mönche gemachte Äußerung: „Man hat eine neue Sprache erfunden, welche man das Griechische nennt; man muss sich wohl vor ihr hüten; sie ist die Mutter aller Ketzereien. Ich sehe in gar Vieler Händen ein Buch, geschrieben in dieser Sprache, welches sie das neue Testament nennen; es ist ein Buch voll Dornen und Gift. Was das Hebräische betrifft, meine lieben Brüder, so ist es gewiss, dass Alle, die es lernen, auf der Stelle zu Juden werden.“
Hüten wir uns aber, über solche Naivität allzusehr zu erstaunen, denn es gibt heute noch Geistliche, die, wenn sie auch das griechische Neue Testament nicht mehr anfeinden, doch vor dem Lesen Goethes und Schillers so warnen, als ob ein guter Christ durch die Beschäftigung mit diesen Dichtern der Hölle zugeführt werde. Es gibt nichts Neues unter der Sonne: das Wesen bleibt immer dasselbe, und nur die Formen, die Gewänder, die Erscheinungen ändern sich.
Luther spricht in dieser Zeit schon viel von den Geschäften, mit denen er belastet sei, und sagt, er könne zwei Schreiber halten, die ihn bei seinem schriftlichen Verkehr unterstützten. Seines Predigtamtes wartet er mit Eifer, und da wir noch einige seiner Predigten aus jener Zeit besitzen, so haben wir auch ein Urteil über dieselben. Es ist bewunderungswürdig, wie er auch hier das Richtige getroffen hat. Bis dahin gehörte die Predigt kaum zum Gottesdienst, und nur einzelne begabte Männer übten sich darin. Meist aber bildeten nicht die evangelischen Glaubenssätze den Inhalt der Predigten, sondern die Redner verfolgten dabei ihre persönlichen oder kirchlichen Interessen. Reiche junge Leute müssten ins Kloster gehen, Schenkungen an die Kirche machen, Ablass kaufen u. s. w. Luthers Predigten beziehen sich bloß auf die Lehre, und man findet teilweise schon eine ganz protestantische Exegese in Anwendung gebracht. Denselben Fleiß widmete er seinen Vorlesungen, und er arbeitete schon in dieser Zeit einen Kommentar zum Römerbrief aus, der aber nicht gedruckt wurde. Große Anstrengung und Mühe kostete ihm das Erlernen des Griechischen und etwas später des Hebräischen. Einen Lehrer dieser Sprachen für die Universität hatte man noch nicht erwerben können, und Lexika, Grammatiken und andre Lehrbücher gab es entweder noch gar nicht, oder sie waren doch nur mit außerordentlichen Kosten zu erlangen. Er lernte, wie einer seiner Schüler sagte, am Alten und Neuen Testamente das Buchstabieren dieser Sprachen. Zu diesem Allen kam, dass er für Staupitz die Verwaltung des General-Vicariats über vierzig Augustiner-Klöster übernehmen musste.
Im Frühling des Jahres 1516 unternahm Staupitz auf den dringenden Wunsch des Kurfürsten eine Reise nach den Niederlanden, um noch mehrere Reliquien für die neuerbaute Schlosskirche zu Wittenberg aufzusuchen und zu erstehen. Während seiner Abwesenheit, die sich vom April 1516 bis zum November 1517 erstreckte (wenigstens währte die stellvertretende Wirksamkeit Luthers bis dahin), erhielt dieser die Beaufsichtigung sämtlicher Klöster des Ordens in Sachsen und Thüringen. Im April 1516 reisten beide Männer zusammen nach Grimma und nahmen dort gemeinschaftlich die Visitation des Klosters vor, vermutlich damit Luther praktisch in seine neue Geschäftstätigkeit eingeführt würde. Nachher machte er die Reisen allein, und soll in Klöstern und Schulen segensreich gewirkt und überall zum Lesen der heiligen Schrift angeregt haben. Er war damals wenig über zwei und dreißig Jahre alt und also noch ein junger Mann, aber es findet sich nirgends, selbst nicht im Erfurter Kloster, das er doch erst acht Jahre vorher als ein unbekannter und zum Teil wegen seiner übergroßen Frömmigkeit verlachter Mönch verlassen hatte, ein Widerspruch gegen seine Amtsführung, obwohl er zuweilen bei der Verkommenheit der Klöster mit großer Entschiedenheit durchgreift. Wir besitzen einige Briefe, die von der Art seiner Tätigkeit ein Zeugnis ablegen. Von Dresden aus schrieb er am 1. Mai 1516 in Betreff eines entlaufenen Mönches an einen Prior in Mainz: „Dieses verlorene Schaf ist mein; es gehört mir zu, und meine Pflicht fordert, dass ich's suche, und ob unser Herr Christus will, aus seinem Irrtum zurückführe. Bitte demnach Ew. väterliche Liebe, um unsers gemeinen Glaubens willen an Christum, wollet ihn doch, des best Eure dienstwillige Liebe vermag, entweder gen Dresden oder Wittenberg schicken, oder ihn überreden, dass er dorthin gehe, und mit freundlicher und liebreicher Vorstellung bewegen, dass er von selbst komme. Mit beiden Händen will ich ihn aufnehmen, er soll nur kommen; er darf sich des nicht fürchten, dass er mich bat beleidiget. — Es ist wohl kein Wunder, wenn ein Mensch fällt; das ist aber ein Wunder, wenn ein Mensch ausstehet vom Fall, und darnach bleibet stehen. Petrus ist gefallen, damit er erführe, er sei ein Mensch.“
An den Prior und die Mönche in Neustadt schreibt er: „Ich höre mit Leidwesen, wie Ihr ohne Frieden und Einigkeit lebt, und obwohl Ihr unter Einem Dache beisammen, doch nicht gleiches Herzens send — das ist ein jämmerlich und unnützes Leben und kommt entweder von der Unlauterkeit Eurer Demut her, weil wo Demut, da Liebe ist, oder von meiner Nachlässigkeit, gewisslich aber von Eurer und meiner Schuld. Deshalb bin ich gedrungen als Abwesender zu tun, was ich nicht wollte als Anwesender. Der vornehmste Grund Eurer Verstörung ist: dass Ihr mit dem Prior nicht einträchtig send. Deshalb befehle ich, in Kraft meines Amts, Dir, Bruder Michael Dressel, Dein Amt und Siegel niederzulegen. — Aber beklage Dich nicht, dass ich Dich ungehört verurteile und Deine Entschuldigung nicht vernommen habe. Ich glaube ganz und gar, dass Du Alles mit bester Absicht getan, was Du gehandelt hast — Du hast so viel getan, als Dir Gnade zu Teil ward; dafür sage ich Dir Dank, und missfallen mir alle Deine Brüder, wenn sie Dir nicht auch Dank sagen. Aber damit musst Du Dich trösten: dass es nicht genug ist, nur ein frommer und redlicher Mann sein für sich selbst, sondern dass Einer auch in Friede sein muss und in Eintracht mit Andern. Und oft werden missbilligt und mit Recht verworfen die besten Werke, damit der Friede erhalten werde.“
In so vieler Arbeit und Wirksamkeit reifte Luther zu seinem großen Berufe heran: jetzt aber waren seine Lehrjahre vollendet.
Staupitz eröffnete bei einem Spaziergange im Klostergarten unter einem Baume, den Luther später noch den Freunden zeigte, diesem das Vorhaben, das er, der Konvent und der Kurfürst rücksichtlich seiner gefasst habe. Der demütige Mann aber, dem das Streben nach äußerer Ehre und Auszeichnung sehr fern lag, bat, ihn mit solchem Unternehmen zu verschonen; er sei ein kranker und schwacher Bruder, er werde es nicht weit bringen, man möge sich nach einem gesunderen und tüchtigeren Manne umsehen. Stanpitz kannte diese Einwendungen, ließ sich nicht zurückweisen und antwortete, Gott habe große Geschäfte und bedürfe seiner als eines geschickten Rüstzeuges, er möge sich daher diesem Rufe nicht entziehen; außerdem sei er ihm als seinem Oberen und dem Konvent des Klosters Gehorsam schuldig. Er teilte ihm auch mit, dass der Kurfürst zu Ehren Gottes und zur Förderung der Universität und des Klosters die Kosten der Promotion übernommen habe und aus seinen Kämmerei-Einkünften bezahlen werde. Luther sah hiernach wohl, dass sein Widerstand unnütz sei. Er musste selbst nach Leipzig reisen, um das angewiesene Geld in Empfang zu nehmen, worauf der feierliche Akt, nachdem er Tags vorher zum Licentiaten der Theologie ernannt worden war, am 19. Oktober 1512 vollzogen wurde. Unter dem Geläute der großen Glocke und vielem Gepränge versammelten sich die Lehrer der Hochschule, die Geistlichen und Mönche, und sonst viele ehrwürdige Männer aus der Stadt und der Umgegend, und Luther legte den feierlichen Eid ab, der heiligen Schrift und der Kirche unverbrüchlich dienen zu wollen, worauf er von dem Dekan der theologischen Fakultät, Dr. Andreas Bodenstein aus Carlsstadt, mit den Zeichen der neuen Würde geschmückt ward. Den goldenen Doktorring, der ihm angesteckt wurde, und der noch jetzt in Wolfenbüttel aufbewahrt wird, machte ihm der Kurfürst zum Geschenk. Für einen Mann wie Luther, bei dem das Pflichtgefühl so vorherrschend war, der nichts vor Gott und seinem Gewissen glaubte verantworten zu können, wozu er nicht bloß innerlich, sondern auch äußerlich berufen sei, war es ein Vorgang von größter Bedeutung, dass er den Prälaten der Kirche gleichgestellt wurde und sich ihnen ebenbürtig halten durfte. Es ist ein Mangel im Wesen der Deutschen, dass sie sich als Menschen so gering fühlen, und auf Rang und Stand und Titel so großen Wert legen, aber im vorliegenden Falle ist es das Amt gewesen, worauf der Ton gelegt werden muss, nicht die Benennung und das Zeichen desselben, wenigstens spricht Luther immer nur von dem mit der Doktorwürde übernommenen Amt.
Die Erfurter Universität fühlte sich durch diesen Vorgang in Wittenberg verletzt, und klagte Luther des Mangels an Pietät an. Da er in Erfurt die Magisterwürde erlangt habe, hätte er daselbst auch die Doktorwürde nachsuchen müssen. Luther erwiderte, sie hätten in Erfurt ja gewusst, was in Wittenberg vorgehen solle, und so hätten sie dies entweder verhindern oder selbst ihn zum Doktor ernennen können. „Ich bin dazu berufen und gezwungen worden“, schreibt er, „dass ich musste Doktor werden, ohne einen Dank, aus lauter Gehorsam. Da habe ich das Doktorat müssen annehmen und meiner allerliebsten heiligen Schrift schwören und geloben, sie treulich und lauter zu predigen.“
So war Luther nun ein Mann geworden, der durch die italienische Reise innerlich befähigt und durch die Doktorwürde äußerlich berufen war, über die öffentlichen Angelegenheiten auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kirche sich ein Urteil zu bilden und ein Urteil abzugeben. Es bestand damals ein Streit zwischen Reuchlin, einem der edelsten Humanisten in Deutschland, und den Dominicaner-Mönchen zu Köln, welcher das Vorspiel zu dem großen Drama der Lutherschen Kirchenverbesserung genannt zu werden pflegt. Ein getaufter Jude, Johann Pfefferkorn, hatte in einer Schrift „Der Judenspiegel“ im Jahre 1507 seine ehemaligen Glaubensgenossen schmählich angegriffen und die Vertilgung aller hebräischen Schriften mit alleiniger Ausnahme des Alten Testamentes gefordert. Dies griffen die finsteren Dominicaner zu Köln lebhaft auf, und ihr Prior Jakob Hochstraten trug bei dem Kaiser Maximilian I. daraus an, er solle die Verbrennung dieser Schriften in seinem ganzen Reiche gebieten. Der Kaiser aber wollte auf den Antrag nicht ohne Weiteres eingehen und forderte von dem gelehrten Reuchlin, welcher der hebräischen Sprache sehr kundig war, ein Gutachten. Reuchlin behandelte den Gegenstand ganz unparteiisch und zeigte in einer Schrift: „Der Augenspiegel“, dass die hebräischen Schriften, wenn man sie ernstlich studiere, nur zur Ehre des Christentums und der Wissenschaft gereichen könnten, und dass es keineswegs geraten sei, sie zu verbrennen. Dagegen erhoben nun die Kölnischen Ketzerrichter ein großes Geschrei. Sie verdammten und verbrannten 1514 Reuchlins Buch öffentlich, und verklagten den Verfasser bei Kaiser und Papst als einen gefährlichen Ketzer, der sich der Juden annehme und die jüdische Lehre verteidige. Der Papst entschied zuletzt gegen die Mönche, und der Ritter Franz von Sickingen nötigte sie mit Gewalt des Schwertes, die Prozesskosten, zu denen sie verurteilt waren, zu bezahlen. Luther, von Spalatin — dem Hofprediger und Vertrauten des Kurfürsten — über diese Angelegenheit befragt, antwortete in einem Brief, dass er dem unschuldigen und hoch gelehrten Manne (Reuchlin) durchaus Recht geben müsse. Sein Urteil könne zwar verdächtig erscheinen, da er Reuchlin vorher schon so hochgeschätzt habe, aber er finde in seiner Schrift durchaus nichts Gefährliches, und er wundere sich nur, wie die Kölner gar nicht darauf achteten, dass Reuchlin keine Glaubenssätze aufstelle, sondern nur seine gutachtliche Meinung sage. Aber jene Ketzerrichter fingen an Mücken zu seigen und Kamele zu verschlucken, denn es gäbe in den Gassen Jerusalems (Roms) ganz andere Lästerungen und Götzengräuel abzutun, als dass man sich mit solchen äußeren und fremden Dingen befassen dürfe. Sein Herz sei von diesen Gedanken mehr voll, als die Zunge sagen könne.
Einen noch größeren Ruf als Reuchlin hatte damals der gelehrte Humanist Erasmus von Rotterdam. Vermöge seiner erstaunenswürdigen Gelehrsamkeit wäre er mehr als irgend ein Anderer berufen gewesen, die Irrtümer und die falsche Richtung der herrschenden päpstlichen Kirche nachzuweisen, aber es fehlte ihm dazu an Charakterstärke. Er war zwar in Rotterdam von deutschen Eltern geboren worden, allein er hatte seine Bildung auf der Sorbonne in Paris empfangen, und sich viel in England, Frankreich und Italien aufgehalten. Der deutsche Geist und das deutsche Gemüt waren ihm in dem Verkehr mit den Fremden abhanden gekommen, und es war ihm ergangen, wie es heute noch so vielen Kindern vornehmer Leute ergeht, die über die Beschäftigung mit dem Französischen und Englischen nicht nur ihre Muttersprache und die Literatur ihres Volkes vernachlässigen, sondern, was das viel Schlimmere ist, in zartester Jugend schon dem Geiste und der Anschauungsweise des deutschen Volkes entfremdet werden. Das, was sie heilig halten sollten, verschwenden sie zu Gunsten einer fremden Sprache und Volkstümlichkeit, in der sie doch immer Fremdlinge bleiben, und die ihnen ansteht, wie dem Bauer das Ritterkleid. Sie tragen Masken und schämen sich des edlen Antlitzes, das sie von Gott und der Natur empfangen haben.
Erasmus konnte lateinisch sprechen und schreiben, wie keiner seiner Zeitgenossen, und wie es mit solcher Geläufigkeit auch wohl keiner der heutigen Gelehrten vermag. Er hatte wie Peter Schlemihl seinen Schatten verkauft, und lebte nun flüchtig auf der Erde als Gelehrter, ohne noch ein Mensch zu sein. Für die Auferstehung des deutschen Volksgeistes, worauf es damals ausschließlich ankam, konnte er nichts tun. Für ihn gab es nur eine Welt der Convenienz, die römische Welt. Vom Geiste wusste er nur etwas in der Form des Witzes, des Scharfsinnes und der Satire: der Geist als Gemütskraft, als Seelengröße war ihm unbekannt.
Über ihn äußerte sich Luther damals auch an Spalatin ungefähr in folgender Weise: Es sei gut, dass Erasmus die Priester und Mönche so gelehrt und gründlich widerlege, und sie von ihrer Unwissenheit überführe, aber von der wesentlichen Bedeutung Christi verstehe er nichts. Das Menschliche überwiege bei ihm das Göttliche. Nicht jeder, der Griechisch und Hebräisch verstehe, sei deshalb schon ein wahrer Jünger des Heilands. Seine Darstellung der Gebrechen und des Elends der Kirche sei so angenehm, gelehrt und geistreich, dass man darüber lachen müsse, während darüber nur zu seufzen und zu klagen sei. Bei der Gerechtigkeit denke er nur an die Beobachtung der Zeremonien und an die Werkheiligkeit. Wenn die Werke ohne Glauben getan würden, führten sie nicht zur Gerechtigkeit Gottes. Das Sein müsse ihnen vorangehen, sonst wären sie nur Schein. Er hoffe aber, dass ihm Gott wohl noch zur rechten Einsicht verhelfen werde. Dies war freilich möglich, weil bei Gott nichts unmöglich ist, aber es war im höchsten Maße unwahrscheinlich und ist auch nicht geschehen.
Wir haben keine Nachrichten darüber, aber wir dürfen als gewiss annehmen, dass Luther, der jetzt schon mit den angesehensten Personen freundschaftlich verkehrte, von den öffentlichen Angelegenheiten Kenntnis nahm, und dass ihm z. B. der Zuruf der Pisanischen Kirchenversammlung (1511) an den Kaiser Maximilian nicht fremd geblieben sei: Die Kirche sinkt dahin; die Frommen werden unterdrückt, die Bösen gewinnen die Oberhand; die Gerechtigkeit fällt und der Frevel steigt zu Ehren; der Unglaube erhebt sich und wird gepriesen. Lege die Hand an, großer Kaiser, die Kirche ruft Dir's zu als ihrem Vertreter und ihrem Beschützer mit wehklagender, aber mit starker Stimme. — Eine Kirchenverbesserung an Haupt und Gliedern war seit einem Jahrhundert das Feldgeschrei aller sittlich strebsamen Menschen, aber Alle fast ohne Ausnahme meinten, es sei eine gründliche Besserung der Kirche möglich, wenn die äußeren Verhältnisse gebessert würden. An eine Erneuerung des Glaubens, an eine Umwandlung der religiösen Richtung dachte Niemand. Für eine Reformation in den romanischen Ländern war die Forderung eines erneuten sittlichen Lebens auch wirklich ausreichend, wie denn auch bis auf den heutigen Tag dort nichts Anderes bewirkt worden ist; aber für Deutschland musste eine ganz andere Wandlung eintreten, wenn den unabweisbaren Ansprüchen des Volksgeistes genügt werden sollte. Zu dieser Einsicht war auch Luther noch nicht gelangt, aber er näherte sich derselben mit starken Schritten. Sein eifriges Studium des Apostels Paulus, hauptsächlich des Römerbriefes, hob ihn immer höher und höher und brachte ihn schließlich auf den Standpunkt, auf welchem der Apostel selbst gestanden hatte. Er sing jetzt auch an, sich mit dem Griechischen zu beschäftigen, um die Schrift in der Ursprache lesen zu können; besonders geschah dies, als Erasmus das Neue Testament 1516 zum ersten Male in griechischer Sprache drucken ließ. Für die unglaubliche Unwissenheit in der Kirche der damaligen Zeit zeugt eine bei dieser Gelegenheit von einem Mönche gemachte Äußerung: „Man hat eine neue Sprache erfunden, welche man das Griechische nennt; man muss sich wohl vor ihr hüten; sie ist die Mutter aller Ketzereien. Ich sehe in gar Vieler Händen ein Buch, geschrieben in dieser Sprache, welches sie das neue Testament nennen; es ist ein Buch voll Dornen und Gift. Was das Hebräische betrifft, meine lieben Brüder, so ist es gewiss, dass Alle, die es lernen, auf der Stelle zu Juden werden.“
Hüten wir uns aber, über solche Naivität allzusehr zu erstaunen, denn es gibt heute noch Geistliche, die, wenn sie auch das griechische Neue Testament nicht mehr anfeinden, doch vor dem Lesen Goethes und Schillers so warnen, als ob ein guter Christ durch die Beschäftigung mit diesen Dichtern der Hölle zugeführt werde. Es gibt nichts Neues unter der Sonne: das Wesen bleibt immer dasselbe, und nur die Formen, die Gewänder, die Erscheinungen ändern sich.
Luther spricht in dieser Zeit schon viel von den Geschäften, mit denen er belastet sei, und sagt, er könne zwei Schreiber halten, die ihn bei seinem schriftlichen Verkehr unterstützten. Seines Predigtamtes wartet er mit Eifer, und da wir noch einige seiner Predigten aus jener Zeit besitzen, so haben wir auch ein Urteil über dieselben. Es ist bewunderungswürdig, wie er auch hier das Richtige getroffen hat. Bis dahin gehörte die Predigt kaum zum Gottesdienst, und nur einzelne begabte Männer übten sich darin. Meist aber bildeten nicht die evangelischen Glaubenssätze den Inhalt der Predigten, sondern die Redner verfolgten dabei ihre persönlichen oder kirchlichen Interessen. Reiche junge Leute müssten ins Kloster gehen, Schenkungen an die Kirche machen, Ablass kaufen u. s. w. Luthers Predigten beziehen sich bloß auf die Lehre, und man findet teilweise schon eine ganz protestantische Exegese in Anwendung gebracht. Denselben Fleiß widmete er seinen Vorlesungen, und er arbeitete schon in dieser Zeit einen Kommentar zum Römerbrief aus, der aber nicht gedruckt wurde. Große Anstrengung und Mühe kostete ihm das Erlernen des Griechischen und etwas später des Hebräischen. Einen Lehrer dieser Sprachen für die Universität hatte man noch nicht erwerben können, und Lexika, Grammatiken und andre Lehrbücher gab es entweder noch gar nicht, oder sie waren doch nur mit außerordentlichen Kosten zu erlangen. Er lernte, wie einer seiner Schüler sagte, am Alten und Neuen Testamente das Buchstabieren dieser Sprachen. Zu diesem Allen kam, dass er für Staupitz die Verwaltung des General-Vicariats über vierzig Augustiner-Klöster übernehmen musste.
Im Frühling des Jahres 1516 unternahm Staupitz auf den dringenden Wunsch des Kurfürsten eine Reise nach den Niederlanden, um noch mehrere Reliquien für die neuerbaute Schlosskirche zu Wittenberg aufzusuchen und zu erstehen. Während seiner Abwesenheit, die sich vom April 1516 bis zum November 1517 erstreckte (wenigstens währte die stellvertretende Wirksamkeit Luthers bis dahin), erhielt dieser die Beaufsichtigung sämtlicher Klöster des Ordens in Sachsen und Thüringen. Im April 1516 reisten beide Männer zusammen nach Grimma und nahmen dort gemeinschaftlich die Visitation des Klosters vor, vermutlich damit Luther praktisch in seine neue Geschäftstätigkeit eingeführt würde. Nachher machte er die Reisen allein, und soll in Klöstern und Schulen segensreich gewirkt und überall zum Lesen der heiligen Schrift angeregt haben. Er war damals wenig über zwei und dreißig Jahre alt und also noch ein junger Mann, aber es findet sich nirgends, selbst nicht im Erfurter Kloster, das er doch erst acht Jahre vorher als ein unbekannter und zum Teil wegen seiner übergroßen Frömmigkeit verlachter Mönch verlassen hatte, ein Widerspruch gegen seine Amtsführung, obwohl er zuweilen bei der Verkommenheit der Klöster mit großer Entschiedenheit durchgreift. Wir besitzen einige Briefe, die von der Art seiner Tätigkeit ein Zeugnis ablegen. Von Dresden aus schrieb er am 1. Mai 1516 in Betreff eines entlaufenen Mönches an einen Prior in Mainz: „Dieses verlorene Schaf ist mein; es gehört mir zu, und meine Pflicht fordert, dass ich's suche, und ob unser Herr Christus will, aus seinem Irrtum zurückführe. Bitte demnach Ew. väterliche Liebe, um unsers gemeinen Glaubens willen an Christum, wollet ihn doch, des best Eure dienstwillige Liebe vermag, entweder gen Dresden oder Wittenberg schicken, oder ihn überreden, dass er dorthin gehe, und mit freundlicher und liebreicher Vorstellung bewegen, dass er von selbst komme. Mit beiden Händen will ich ihn aufnehmen, er soll nur kommen; er darf sich des nicht fürchten, dass er mich bat beleidiget. — Es ist wohl kein Wunder, wenn ein Mensch fällt; das ist aber ein Wunder, wenn ein Mensch ausstehet vom Fall, und darnach bleibet stehen. Petrus ist gefallen, damit er erführe, er sei ein Mensch.“
An den Prior und die Mönche in Neustadt schreibt er: „Ich höre mit Leidwesen, wie Ihr ohne Frieden und Einigkeit lebt, und obwohl Ihr unter Einem Dache beisammen, doch nicht gleiches Herzens send — das ist ein jämmerlich und unnützes Leben und kommt entweder von der Unlauterkeit Eurer Demut her, weil wo Demut, da Liebe ist, oder von meiner Nachlässigkeit, gewisslich aber von Eurer und meiner Schuld. Deshalb bin ich gedrungen als Abwesender zu tun, was ich nicht wollte als Anwesender. Der vornehmste Grund Eurer Verstörung ist: dass Ihr mit dem Prior nicht einträchtig send. Deshalb befehle ich, in Kraft meines Amts, Dir, Bruder Michael Dressel, Dein Amt und Siegel niederzulegen. — Aber beklage Dich nicht, dass ich Dich ungehört verurteile und Deine Entschuldigung nicht vernommen habe. Ich glaube ganz und gar, dass Du Alles mit bester Absicht getan, was Du gehandelt hast — Du hast so viel getan, als Dir Gnade zu Teil ward; dafür sage ich Dir Dank, und missfallen mir alle Deine Brüder, wenn sie Dir nicht auch Dank sagen. Aber damit musst Du Dich trösten: dass es nicht genug ist, nur ein frommer und redlicher Mann sein für sich selbst, sondern dass Einer auch in Friede sein muss und in Eintracht mit Andern. Und oft werden missbilligt und mit Recht verworfen die besten Werke, damit der Friede erhalten werde.“
In so vieler Arbeit und Wirksamkeit reifte Luther zu seinem großen Berufe heran: jetzt aber waren seine Lehrjahre vollendet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben