Die sächsische Landeskirche. 1526 — 1529
Wir haben Luther in den acht Jahren von 1517 — 1525 als heldenmütigen Kämpfer gegen die römische Form der christlichen Kirche tätig gesehen. Jetzt tritt diese Seite seiner Tätigkeit in den Hintergrund, und sein Hauptwerk wird fortan die Begründung einer evangelischen Landeskirche. Wie wir ihn bisher als Heros des deutschen Volkes mit übermenschlicher Kraft gegen das Böse und die Unnatur ringen und kämpfen sahen, so finden wir ihn von jetzt an als organisatorisches Talent, den Forderungen der Zeit entsprechend, maßvoll vorschreiten. Dort steht er, der Einzelne, einer Welt gegenüber, und es ist hauptsächlich der Gott in ihm, auf dessen Eingebungen er zu lauschen, dessen Willen er zu vollbringen hat. Das alte Kirchengebäude, dass von einer fremden Volkstümlichkeit und von einem vergangenen Zeitalter aufgeführt worden war, sollte niedergerissen werden, und es konnte dies nicht nur ohne Verletzung, sondern vielmehr zu Gunsten der Zeit und Landesgenossen geschehen.
Welcher Mittel Luther sich dazu bedient hatte, war gleich gültig, denn er hatte es mit Feinden seines Landes und Volkes zu tun gehabt; aber jetzt sollte er eben diesem Lande und Volke etwas Neues geben, ihnen statt des niedergerissenen Kirchenhauses ein wohnlicheres und ihre unmittelbaren Bedürfnisse Befriedigenderes aufbauen. Er hatte tausend Rücksichten zu nehmen, und konnte nicht bloß seinem inneren Glaubensdrange im Allgemeinen folgen, sondern musste genau erwägen, was der Zeit und dem Orte, was den Formen der Anschauung seines Landes angemessen war.
Den äußern Anlass zu dieser neuen Tätigkeit fand er in dem Tode Friedrichs des Weisen und in dem Regierungsantritt des Kurfürsten Johann. Dieser war als unbefangener Zuschauer der großen Bewegung von vorn herein auf die Seite Luthers getreten, und strebte deshalb, da er zur Herrschaft über Sachsen gelangte, den Abschluss dadurch zu Stande zu bringen, dass die Wittenberger Einrichtungen als allgemeine Landeseinrichtungen anerkannt würden. Es sollte ganz Sachsen ein evangelisches Land werden, und das Kirchentum in Lehre und Kultus in jeder Stadt und in jedem Dorfe seines Gebietes dasselbe sein. Was sich allmählich und von Zeit und Umständen geboten, in Wittenberg herausgebildet hatte, hing zum Teil von der Eigentümlichkeit und Wirksamkeit gewisser Personen und örtlicher Zustände ab, und konnte nicht so unmittelbar auf ein ganzes Land übertragen werden. Was für eine einzelne Stadt sich eignet, das eignet sich nicht zugleich für ein größeres Ganze, und jedenfalls musste das zum Teil unbewusst oder absichtslos Angenommene allgemein gefasst und gesetzlich begründet werden. Luther übernahm auch hierbei die schwerste Arbeit, d. h. er schuf und ordnete, was auf geistigem Gebiete sich dazu schaffen und ordnen ließ; aber in Bezug auf die äußerlichen Einrichtungen selbst wirkte er nur als Mitglied einer Kommission, welche das Werk gemeinschaftlich zu besorgen hatte.
Luther hatte dem Kurfürsten eine allgemeine Kirchenvisitation in den kursächsischen Ländern vorgeschlagen; allein hier erhob sich sogleich die Frage, in wessen Namen dieselbe vollzogen werden solle. Bis dahin hatten die Bischöfe dieses Recht gehandhabt, aber da noch kein Bischof, außer dem Bischof von Sameland, sich der Lehre Luthers zugewandt hatte, so musste die oberste Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einer andern Macht übertragen werden. Luther erklärte nun, dass die weltliche Obrigkeit, gleichviel, ob sie monarchisch oder republikanisch sei, die Kirchengewalt auszuüben, und dass also in Sachsen der Kurfürst die Visitatoren zu ernennen und mit Verhaltungsregeln zu betrauen habe. Es war dies eine wichtige Bestimmung, weil dieselbe nach diesem Vorgange in allen evangelischen Ländern Gewohnheit geworden ist. Allerdings ist der Staat die allgemeinste Vereinigung der Menschen, und die Kirche muss sich demselben unterordnen, so jedoch, dass sie dabei keinen Zwang erleidet, sondern dass sie das freiwillig Zugestehen kann, was der Staat aus notwendigen Ursachen zu fordern hat. Die Grenzen sind hier aber schwer zu ziehen, und die Folgezeiten haben erwiesen, dass die Fürsten oder weltlichen Regierungen die Angelegenheiten der Kirche und selbst den Glauben der Untertanen nach ihren absonderlichen Anschauungen und persönlichen Bedürfnissen sehr häufig einzurichten und festzustellen befohlen haben. Dies widerspricht aber ganz der früher von Luther aufgestellten Lehre in dem Büchlein von der weltlichen Obrigkeit, dass dieselbe keine Gewalt über die Seelen habe, und dass der Glaube nicht befohlen werden könne und dürfe.
Indessen war für den Augenblick kein anderer Ausweg zu finden, und die Maßregel bot auch sonst viele Vorteile dar. Bei der Auflösung des alten Kirchentumes, das sich im Besitz vieler Territorien und weltlicher Güter befunden hatte, war es natürlich, dass sich eine Menge Hände fanden, welche die herrenlosen Güter und Einkünfte sich anzueignen bemüht waren. Es musste also dafür gesorgt werden, dass nicht Unberechtigte willkürlich zugriffen, wie hin und wieder schon geschehen war, sondern, dass die Mittel, welche die Vorfahren zu religiöser und sittlicher Bildung des Volkes hergegeben hatten, dem Kirchen- und Schulwesen erhalten blieben. Zur Erreichung dieses Zweckes war aber das Einschreiten der weltlichen Macht notwendig, und im Ganzen hat sich dasselbe auch wohltätig erwiesen, wenn andererseits sich auch einzelne nachteilige Folgen daraus entwickelt haben.
Der edle Kurfürst Johann, dem es dabei durchaus nicht um die Vergrößerung seiner weltlichen Macht und die Bereicherung seines Schatzes zu tun war, sondern der, selbst von lebendigem Glauben ergriffen, auch alle seine Untertanen desselben heilsamen Glaubens teilhaftig zu machen wünschte, ordnete nun unter Zuziehung seiner weltlichen Räte und der bedeutendsten Geistlichen seines Landes eine allgemeine Kirchenvisitation an. Luther stand natürlich bei dieser Tätigkeit überall im Vordergrunde, und sein Urteil war sowohl in Betreff der Wahl der Männer, die bei dem Geschäfte zu verwenden waren, wie rücksichtlich der zu ordnenden Gegenstände maßgebend. Melanchthon wurde beauftragt, eine Schrift zu entwerfen, welche den Visitatoren zum Unterrichte für die Pfarrherren in die Hand gegeben wurde, und er löste diese Aufgabe ganz zu Luthers Zufriedenheit. Die wesentlichsten Punkte der evangelischen Lehre und des evangelischen Gottesdienstes sind darin in populärer Weise klar und deutlich ausgesprochen. Es ist vor Allem Liebe zur Eintracht empfohlen und von allem Gezänk und allen Angriffen gegen Solche abgemahnt, die etwa noch in ängstlicher Weise an den hergebrachten Zeremonien und Gebräuchen festzuhalten sich gedrungen fühlten. Die Kanzel, der geweihte Ort, von dem nur die Stimme Gottes erschallen soll, darf nicht zum Kampfe für abweichende Lehrmeinungen oder gar zur Erreichung persönlicher Zwecke gemissbraucht werden. „Alles komme darauf an“, sagte er, „Lehre und Leben in Verbindung zu bringen und den rechten Glauben durch wahre Liebe zu rechtfertigen.“ Luther, der sich aus der tiefsten Finsternis des Papsttumes zu dem reinen Lichte evangelischer Freiheit empor gerungen hatte, konnte sich nicht enthalten, bei dem Verbote des Schmähens auf der Kanzel gegen Andersgläubige die Worte hinzuzufügen: „Doch das Papsttum mit seinem Anhange sollen sie (die Prediger) heftiglich verdammen, als das von Gott schon verdammt ist, gleich wie der Teufel und sein Reich.“
Neben diesem zur Verteilung an die Pfarrer bestimmten Werkchen erhielten die Visitatoren noch schriftliche Verhaltungsregeln, wie sie Jedermann auf die Wohltat der nun allgemein durchgeführten Kirchenverbesserung aufmerksam und sie ihnen einleuchtend zu machen suchen sollten. Es sei daher Pflicht der Untertanen, sich den neuen kirchlichen Anordnungen mit willigem Gehorsam zu fügen. Ferner wurden die Visitatoren angewiesen, die Einkünfte der geistlichen Stellen und Stiftungen genau zu berechnen, über deren zweckmäßige Verwendung sorgfältig zu wachen und mit den Personen, die sich etwa zurückziehen wollten oder zur Annahme eines geistlichen oder Schulamtes nicht tauglich erschienen, ein Abkommen zu treffen.
Die Visitatoren verfuhren mit großer Milde und verhielten sich der Vorrede Luthers gemäß, die er dem Büchlein Melanchthons hatte vordrucken lassen. Darin heißt es: „Wiewohl wir Solches nicht als strenge Gebot können lassen ausgehen, auf dass wir nicht neue päpstliche Decretales entwerfen, sondern als eine Historie oder Geschicht, dazu als ein Bekenntnis unsers Glaubens, so hoffen wir doch, alle fromme und friedsame Pfarrer, welchen das Evangelium mit Ernst gefällt und Lust haben, einmütiglich und gleich mit uns zu halten, werden solchen unseres Landesfürsten und gnädigsten Herrn Fleiß, dazu unsere Liebe und Wohlmeinen nicht undankbarlich noch stolziglich verachten, sondern sich willig, ohne Zwang nach der Liebe Art, solcher Visitation unterwerfen und samt uns derselben friedlich geleben, bis dass Gott, der heilige Geist, Besseres durch sie oder durch uns ansahe.“
Ganz ähnlich äußert er sich in einer Schrift vom Jahre 1526: „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“: „Doch will ich hiermit nicht begehren, dass Diejenigen, so bereits ihre gute Ordnung haben, oder durch Gottes Gnade besser machen können, dieselbige fahren lassen und uns weichen. Denn es ist nicht meine Meinung, dass ganz Deutschland so eben müsste unsere Wittenbergische Ordnung annehmen.“ Wenn er aber bei diesen Anordnungen zunächst nur die sächsische Landeskirche im Auge hatte, so gingen seine Ermahnungen doch auch an das gesamte deutsche Volk. Schon im Jahre 1524 hatte er in einer Schrift: „An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ gesagt: „Lieben Deutschen, kaufet, weil der Markt vor der Tür ist, sammelt ein, weil es scheinet und gut Wetter ist, brauchet Gottes Wort und Gnade, weil es da ist. Denn das sollt ihr wissen. Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wieder kommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Jüden gewesen; aber hin ist hin, sie haben nu nichts. Paulus brachte ihn in Griechenland; hin ist auch hin, nun haben sie den Türken. Rom und Lateinischland haben ihn auch gehabt; hin ist hin, sie haben nu den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, dass ihr ihn ewig haben werdet; denn der Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben. Darum greifet zu und haltet zu, wer greifen und halten kann: faule Hände müssen ein böses Jahr haben.“
In Folge der Erfahrungen, die er selbst bei dieser Visitation machte, verfasste er im Jahre 1529 seine beiden Katechismen, zuerst den großen für die Pfarrer und Lehrer und dann den kleinen, der dem Volke und den Kindern in die Hand gegeben werden sollte. Er fand die Unwissenheit, die in Folge des römischen Treibens bei dem Landvolke Platz gegriffen hatte, weit über seine Erwartung groß und ließ es sich daher auf das Äußerste angelegen sein, die Hauptstücke der Religion, d. h. die Mittel, mit Gott in dauerndem und unmittelbarem Verkehr zu bleiben, so klar und einfach auseinander zu setzen, wie es ihm möglich war. Gott hat sein liebevolles Bemühen auch wirklich so gesegnet, dass seine beiden Katechismen dreihundert Jahre lang die Quellen alles Religionsunterrichtes für das deutsche Volk geblieben sind, und dass sie nächst der heiligen Schrift den größten Einfluss auf die Gesamtentwicklung des Volkes ausgeübt haben. Es bildete sich ein Religionszustand in Deutschland aus, der, verglichen mit dem früheren im Papsttum, sehr hoch zu stellen ist, wenn die Folgen davon sich auch nicht sogleich kund gaben. Jetzt aber wird es uns nicht schwer, den Unterschied in der Volksbildung wahrzunehmen, der zwischen einem nach römischen Grundsätzen regierten und einem protestantischen Lande stattfindet.
Was Luther zunächst für die Kirchenverfassung in Sachsen getan hatte, blieb auch nicht unwirksam für weitere Kreise. Der Landgraf Philipp von Hessen ließ zu derselben Zeit eine Kirchenordnung für sein Land ausarbeiten und einführen, und ebenso tat es der Herzog Albrecht von Preußen, der, ein geborener Markgraf von Brandenburg, als Hochmeister der Deutschen Ritter 1525 das Ordensland Preußen zu einem weltlichen Herzogtum umgewandelt und sich und sein ganzes Volk dem neuen Lichte des Evangeliums zugewendet hatte. Beide, Philipp und Albrecht, wichen bei ihren kirchlichen Einrichtungen zwar in geringfügigen Dingen von der sächsischen Kirchenverfassung ab, aber in allem Wesentlichen waren es die Grundsätze Luthers, die sie leiteten. Auch in vielen andern staatlichen Gebieten Deutschlands, das damals deren noch über 300 zählte, wurden von Seiten der Landesfürsten und der Magistrate in den freien Reichsstädten gesetzliche Bestimmungen erlassen, welche eine Kirchen- und Schul-Ordnung zum Zwecke hatten, die der sächsischen nachgebildet war.
Außerhalb Deutschlands waren es die skandinavischen Reiche, Schweden, Norwegen und Dänemark, die sich schon in den ersten Jahren der Reformation von dem römischen Kirchenwesen lossagten und eine germanisch christliche Kirche begründeten. Luther wurde auch hier zu Rate gezogen, und überall war es sein Geist, der anregend und befruchtend das gedeihliche Werk hervorrief und beförderte. Diese nördlichen Länder sind sogar glücklicher gewesen als Deutschland selbst, das doch aus seinem Schoße den großen Reformator erzeugt hatte; denn sie standen mit den romanischen Völkern in gar keiner unmittelbaren Berührung und konnten daher ohne alle Rücksicht auf politische Verhältnisse ganz ungehindert dem drängenden Zuge ihres Volksgeistes folgen, während die unglücklichen Deutschen an den meisten Teilen ihrer Landesgrenzen mit Völkern römischer Zunge zusammen stießen und damals sogar einen Kaiser hatten, der zugleich König von Spanien war, und dessen Erbländer zum Teil in Italien lagen. Man spricht jetzt fast spottweise von dem heiligen römischen Reiche deutscher Nation, aber wie bezeichnend war der Titel! Heilig war das Reich in dem Sinne des Mittelalters, weil der Papst es dazu ernannt hatte, römisch war es, weil römische Anschauungsweise seine Kaiser leitete und es so regiert wurde, als ob seine Mitglieder sämtlich geborene Römer gewesen wären, und die deutsche Nation wurde schließlich hinzugefügt, damit der Widerspruch zwischen dem Reiche oder der Regierung und dem Volke oder den Regierten um so stärker in die Augen spränge.
Welcher Mittel Luther sich dazu bedient hatte, war gleich gültig, denn er hatte es mit Feinden seines Landes und Volkes zu tun gehabt; aber jetzt sollte er eben diesem Lande und Volke etwas Neues geben, ihnen statt des niedergerissenen Kirchenhauses ein wohnlicheres und ihre unmittelbaren Bedürfnisse Befriedigenderes aufbauen. Er hatte tausend Rücksichten zu nehmen, und konnte nicht bloß seinem inneren Glaubensdrange im Allgemeinen folgen, sondern musste genau erwägen, was der Zeit und dem Orte, was den Formen der Anschauung seines Landes angemessen war.
Den äußern Anlass zu dieser neuen Tätigkeit fand er in dem Tode Friedrichs des Weisen und in dem Regierungsantritt des Kurfürsten Johann. Dieser war als unbefangener Zuschauer der großen Bewegung von vorn herein auf die Seite Luthers getreten, und strebte deshalb, da er zur Herrschaft über Sachsen gelangte, den Abschluss dadurch zu Stande zu bringen, dass die Wittenberger Einrichtungen als allgemeine Landeseinrichtungen anerkannt würden. Es sollte ganz Sachsen ein evangelisches Land werden, und das Kirchentum in Lehre und Kultus in jeder Stadt und in jedem Dorfe seines Gebietes dasselbe sein. Was sich allmählich und von Zeit und Umständen geboten, in Wittenberg herausgebildet hatte, hing zum Teil von der Eigentümlichkeit und Wirksamkeit gewisser Personen und örtlicher Zustände ab, und konnte nicht so unmittelbar auf ein ganzes Land übertragen werden. Was für eine einzelne Stadt sich eignet, das eignet sich nicht zugleich für ein größeres Ganze, und jedenfalls musste das zum Teil unbewusst oder absichtslos Angenommene allgemein gefasst und gesetzlich begründet werden. Luther übernahm auch hierbei die schwerste Arbeit, d. h. er schuf und ordnete, was auf geistigem Gebiete sich dazu schaffen und ordnen ließ; aber in Bezug auf die äußerlichen Einrichtungen selbst wirkte er nur als Mitglied einer Kommission, welche das Werk gemeinschaftlich zu besorgen hatte.
Luther hatte dem Kurfürsten eine allgemeine Kirchenvisitation in den kursächsischen Ländern vorgeschlagen; allein hier erhob sich sogleich die Frage, in wessen Namen dieselbe vollzogen werden solle. Bis dahin hatten die Bischöfe dieses Recht gehandhabt, aber da noch kein Bischof, außer dem Bischof von Sameland, sich der Lehre Luthers zugewandt hatte, so musste die oberste Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einer andern Macht übertragen werden. Luther erklärte nun, dass die weltliche Obrigkeit, gleichviel, ob sie monarchisch oder republikanisch sei, die Kirchengewalt auszuüben, und dass also in Sachsen der Kurfürst die Visitatoren zu ernennen und mit Verhaltungsregeln zu betrauen habe. Es war dies eine wichtige Bestimmung, weil dieselbe nach diesem Vorgange in allen evangelischen Ländern Gewohnheit geworden ist. Allerdings ist der Staat die allgemeinste Vereinigung der Menschen, und die Kirche muss sich demselben unterordnen, so jedoch, dass sie dabei keinen Zwang erleidet, sondern dass sie das freiwillig Zugestehen kann, was der Staat aus notwendigen Ursachen zu fordern hat. Die Grenzen sind hier aber schwer zu ziehen, und die Folgezeiten haben erwiesen, dass die Fürsten oder weltlichen Regierungen die Angelegenheiten der Kirche und selbst den Glauben der Untertanen nach ihren absonderlichen Anschauungen und persönlichen Bedürfnissen sehr häufig einzurichten und festzustellen befohlen haben. Dies widerspricht aber ganz der früher von Luther aufgestellten Lehre in dem Büchlein von der weltlichen Obrigkeit, dass dieselbe keine Gewalt über die Seelen habe, und dass der Glaube nicht befohlen werden könne und dürfe.
Indessen war für den Augenblick kein anderer Ausweg zu finden, und die Maßregel bot auch sonst viele Vorteile dar. Bei der Auflösung des alten Kirchentumes, das sich im Besitz vieler Territorien und weltlicher Güter befunden hatte, war es natürlich, dass sich eine Menge Hände fanden, welche die herrenlosen Güter und Einkünfte sich anzueignen bemüht waren. Es musste also dafür gesorgt werden, dass nicht Unberechtigte willkürlich zugriffen, wie hin und wieder schon geschehen war, sondern, dass die Mittel, welche die Vorfahren zu religiöser und sittlicher Bildung des Volkes hergegeben hatten, dem Kirchen- und Schulwesen erhalten blieben. Zur Erreichung dieses Zweckes war aber das Einschreiten der weltlichen Macht notwendig, und im Ganzen hat sich dasselbe auch wohltätig erwiesen, wenn andererseits sich auch einzelne nachteilige Folgen daraus entwickelt haben.
Der edle Kurfürst Johann, dem es dabei durchaus nicht um die Vergrößerung seiner weltlichen Macht und die Bereicherung seines Schatzes zu tun war, sondern der, selbst von lebendigem Glauben ergriffen, auch alle seine Untertanen desselben heilsamen Glaubens teilhaftig zu machen wünschte, ordnete nun unter Zuziehung seiner weltlichen Räte und der bedeutendsten Geistlichen seines Landes eine allgemeine Kirchenvisitation an. Luther stand natürlich bei dieser Tätigkeit überall im Vordergrunde, und sein Urteil war sowohl in Betreff der Wahl der Männer, die bei dem Geschäfte zu verwenden waren, wie rücksichtlich der zu ordnenden Gegenstände maßgebend. Melanchthon wurde beauftragt, eine Schrift zu entwerfen, welche den Visitatoren zum Unterrichte für die Pfarrherren in die Hand gegeben wurde, und er löste diese Aufgabe ganz zu Luthers Zufriedenheit. Die wesentlichsten Punkte der evangelischen Lehre und des evangelischen Gottesdienstes sind darin in populärer Weise klar und deutlich ausgesprochen. Es ist vor Allem Liebe zur Eintracht empfohlen und von allem Gezänk und allen Angriffen gegen Solche abgemahnt, die etwa noch in ängstlicher Weise an den hergebrachten Zeremonien und Gebräuchen festzuhalten sich gedrungen fühlten. Die Kanzel, der geweihte Ort, von dem nur die Stimme Gottes erschallen soll, darf nicht zum Kampfe für abweichende Lehrmeinungen oder gar zur Erreichung persönlicher Zwecke gemissbraucht werden. „Alles komme darauf an“, sagte er, „Lehre und Leben in Verbindung zu bringen und den rechten Glauben durch wahre Liebe zu rechtfertigen.“ Luther, der sich aus der tiefsten Finsternis des Papsttumes zu dem reinen Lichte evangelischer Freiheit empor gerungen hatte, konnte sich nicht enthalten, bei dem Verbote des Schmähens auf der Kanzel gegen Andersgläubige die Worte hinzuzufügen: „Doch das Papsttum mit seinem Anhange sollen sie (die Prediger) heftiglich verdammen, als das von Gott schon verdammt ist, gleich wie der Teufel und sein Reich.“
Neben diesem zur Verteilung an die Pfarrer bestimmten Werkchen erhielten die Visitatoren noch schriftliche Verhaltungsregeln, wie sie Jedermann auf die Wohltat der nun allgemein durchgeführten Kirchenverbesserung aufmerksam und sie ihnen einleuchtend zu machen suchen sollten. Es sei daher Pflicht der Untertanen, sich den neuen kirchlichen Anordnungen mit willigem Gehorsam zu fügen. Ferner wurden die Visitatoren angewiesen, die Einkünfte der geistlichen Stellen und Stiftungen genau zu berechnen, über deren zweckmäßige Verwendung sorgfältig zu wachen und mit den Personen, die sich etwa zurückziehen wollten oder zur Annahme eines geistlichen oder Schulamtes nicht tauglich erschienen, ein Abkommen zu treffen.
Die Visitatoren verfuhren mit großer Milde und verhielten sich der Vorrede Luthers gemäß, die er dem Büchlein Melanchthons hatte vordrucken lassen. Darin heißt es: „Wiewohl wir Solches nicht als strenge Gebot können lassen ausgehen, auf dass wir nicht neue päpstliche Decretales entwerfen, sondern als eine Historie oder Geschicht, dazu als ein Bekenntnis unsers Glaubens, so hoffen wir doch, alle fromme und friedsame Pfarrer, welchen das Evangelium mit Ernst gefällt und Lust haben, einmütiglich und gleich mit uns zu halten, werden solchen unseres Landesfürsten und gnädigsten Herrn Fleiß, dazu unsere Liebe und Wohlmeinen nicht undankbarlich noch stolziglich verachten, sondern sich willig, ohne Zwang nach der Liebe Art, solcher Visitation unterwerfen und samt uns derselben friedlich geleben, bis dass Gott, der heilige Geist, Besseres durch sie oder durch uns ansahe.“
Ganz ähnlich äußert er sich in einer Schrift vom Jahre 1526: „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“: „Doch will ich hiermit nicht begehren, dass Diejenigen, so bereits ihre gute Ordnung haben, oder durch Gottes Gnade besser machen können, dieselbige fahren lassen und uns weichen. Denn es ist nicht meine Meinung, dass ganz Deutschland so eben müsste unsere Wittenbergische Ordnung annehmen.“ Wenn er aber bei diesen Anordnungen zunächst nur die sächsische Landeskirche im Auge hatte, so gingen seine Ermahnungen doch auch an das gesamte deutsche Volk. Schon im Jahre 1524 hatte er in einer Schrift: „An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ gesagt: „Lieben Deutschen, kaufet, weil der Markt vor der Tür ist, sammelt ein, weil es scheinet und gut Wetter ist, brauchet Gottes Wort und Gnade, weil es da ist. Denn das sollt ihr wissen. Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wieder kommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Jüden gewesen; aber hin ist hin, sie haben nu nichts. Paulus brachte ihn in Griechenland; hin ist auch hin, nun haben sie den Türken. Rom und Lateinischland haben ihn auch gehabt; hin ist hin, sie haben nu den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, dass ihr ihn ewig haben werdet; denn der Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben. Darum greifet zu und haltet zu, wer greifen und halten kann: faule Hände müssen ein böses Jahr haben.“
In Folge der Erfahrungen, die er selbst bei dieser Visitation machte, verfasste er im Jahre 1529 seine beiden Katechismen, zuerst den großen für die Pfarrer und Lehrer und dann den kleinen, der dem Volke und den Kindern in die Hand gegeben werden sollte. Er fand die Unwissenheit, die in Folge des römischen Treibens bei dem Landvolke Platz gegriffen hatte, weit über seine Erwartung groß und ließ es sich daher auf das Äußerste angelegen sein, die Hauptstücke der Religion, d. h. die Mittel, mit Gott in dauerndem und unmittelbarem Verkehr zu bleiben, so klar und einfach auseinander zu setzen, wie es ihm möglich war. Gott hat sein liebevolles Bemühen auch wirklich so gesegnet, dass seine beiden Katechismen dreihundert Jahre lang die Quellen alles Religionsunterrichtes für das deutsche Volk geblieben sind, und dass sie nächst der heiligen Schrift den größten Einfluss auf die Gesamtentwicklung des Volkes ausgeübt haben. Es bildete sich ein Religionszustand in Deutschland aus, der, verglichen mit dem früheren im Papsttum, sehr hoch zu stellen ist, wenn die Folgen davon sich auch nicht sogleich kund gaben. Jetzt aber wird es uns nicht schwer, den Unterschied in der Volksbildung wahrzunehmen, der zwischen einem nach römischen Grundsätzen regierten und einem protestantischen Lande stattfindet.
Was Luther zunächst für die Kirchenverfassung in Sachsen getan hatte, blieb auch nicht unwirksam für weitere Kreise. Der Landgraf Philipp von Hessen ließ zu derselben Zeit eine Kirchenordnung für sein Land ausarbeiten und einführen, und ebenso tat es der Herzog Albrecht von Preußen, der, ein geborener Markgraf von Brandenburg, als Hochmeister der Deutschen Ritter 1525 das Ordensland Preußen zu einem weltlichen Herzogtum umgewandelt und sich und sein ganzes Volk dem neuen Lichte des Evangeliums zugewendet hatte. Beide, Philipp und Albrecht, wichen bei ihren kirchlichen Einrichtungen zwar in geringfügigen Dingen von der sächsischen Kirchenverfassung ab, aber in allem Wesentlichen waren es die Grundsätze Luthers, die sie leiteten. Auch in vielen andern staatlichen Gebieten Deutschlands, das damals deren noch über 300 zählte, wurden von Seiten der Landesfürsten und der Magistrate in den freien Reichsstädten gesetzliche Bestimmungen erlassen, welche eine Kirchen- und Schul-Ordnung zum Zwecke hatten, die der sächsischen nachgebildet war.
Außerhalb Deutschlands waren es die skandinavischen Reiche, Schweden, Norwegen und Dänemark, die sich schon in den ersten Jahren der Reformation von dem römischen Kirchenwesen lossagten und eine germanisch christliche Kirche begründeten. Luther wurde auch hier zu Rate gezogen, und überall war es sein Geist, der anregend und befruchtend das gedeihliche Werk hervorrief und beförderte. Diese nördlichen Länder sind sogar glücklicher gewesen als Deutschland selbst, das doch aus seinem Schoße den großen Reformator erzeugt hatte; denn sie standen mit den romanischen Völkern in gar keiner unmittelbaren Berührung und konnten daher ohne alle Rücksicht auf politische Verhältnisse ganz ungehindert dem drängenden Zuge ihres Volksgeistes folgen, während die unglücklichen Deutschen an den meisten Teilen ihrer Landesgrenzen mit Völkern römischer Zunge zusammen stießen und damals sogar einen Kaiser hatten, der zugleich König von Spanien war, und dessen Erbländer zum Teil in Italien lagen. Man spricht jetzt fast spottweise von dem heiligen römischen Reiche deutscher Nation, aber wie bezeichnend war der Titel! Heilig war das Reich in dem Sinne des Mittelalters, weil der Papst es dazu ernannt hatte, römisch war es, weil römische Anschauungsweise seine Kaiser leitete und es so regiert wurde, als ob seine Mitglieder sämtlich geborene Römer gewesen wären, und die deutsche Nation wurde schließlich hinzugefügt, damit der Widerspruch zwischen dem Reiche oder der Regierung und dem Volke oder den Regierten um so stärker in die Augen spränge.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben