Der Tag zu Marburg. 1529.

Zu gleicher Zeit mit Luther war im südwestlichen Teile Deutschlands, in der Schweiz, die sich damals schon zu einem unabhängigen Gemeinwesen erhoben hatte, die Umwandlung der römischen zu einer deutschen Kirche versucht worden. Ulrich Zwingli, geboren am 1. Januar 1484, also nur sieben Wochen jünger als Luther, der Sohn eines armen Alpenbewohners, hatte unter ziemlich gleichen Umständen und fast von denselben Beweggründen geleitet, eine Kirchenverbesserung angebahnt, und der norddeutsche Reformator war ihm dabei als unmittelbarer Vorgänger ein Leitstern gewesen. Er war ein echt christlich gesinnter Mann, dem die Wahrheit oder die Sache Gottes am Herzen lag, der aber nach seiner geringen Kraft von Gott nicht berufen war, so gewaltige Stürme zu bestehen und so große Kämpfe durchzukämpfen, wie es dem Heroismus Luthers zugemutet werden durfte. Er trat mit der verjüngten Lehre des Christentums zuerst in Zürich auf, wo er Pastor wurde und bis zu seinem Tode 1531 blieb.

Der Unterschied zwischen dem südwestlichen und nordöstlichen Apostel bestand darin, dass in jenem der Verstand, in diesem die Vernunft etwas mehr vorwaltete, und dass daher die Lehre Zwinglis vor der Luthers, wie wir heute sagen würden, ein mehr rationalistisches Gepräge an sich trug. Unter den Abweichungen der schweizerischen Auffassung von der sächsischen war es die Lehre vom Abendmahle, welche die beiden Männer bald zu offenem Kampfe gegenüberstellte. Zwingli und seine Anhänger, unter denen Oecolampadius hervorzuheben ist, hatten, angeregt von dem früher erwähnten Bodenstein aus Karllstadt, behauptet, das Abendmahl sei nur ein Gedächtnismahl und die Worte: „Nehmet, esset, das ist mein Leib“, seien so zu verstehen, als ob dastünde, das bedeutet meinen Leib. Luther dagegen hatte zwar die römische Brotverwandlungslehre verworfen, aber an der wirklichen Genießung des Fleisches und Blutes festgehalten. „Wir essen“, sagte er, „durch, mit und unter dem Brote das Fleisch des Heilandes.“ Nach der Zwinglischen Lehre hört das Abendmahl auf ein Sakrament, ein Mysterium, d. h. ein Geheimnis, das nicht bloß für Andere, sondern an und für sich ein Geheimnis ist, zu sein, und wird ein klar verständiger äußerlicher Gebrauch, der nur zur Erinnerung an den Heiland da ist. Luthers Anschauung ist tiefer und gewährt einen Hintergrund, der den Blick ins Ewige leitet.


Wir, die Söhne des neunzehnten Jahrhunderts, müssen, obwohl wir uns dem erhabenen sittlichen Standpunkte Luthers gegenüber als Zwerge fühlen können, doch das Recht für uns in Anspruch nehmen, unser Urteil über jenen Streit auszusprechen und unsere Ansichten über das Abendmahl geltend zu machen. — Der Heiland gibt seinen Jüngern sein Fleisch und Blut zu essen und zu trinken, während er selbst noch in seinem irdischen Leibe mit seinem Fleische und Blute gegenwärtig ist. Buchstäblich lassen sich die Worte: „Das ist mein Leib“ also nicht nehmen. Dagegen erscheint die Auffassung, dass dieser Vorgang nur zu einem Mittel der Erinnerung geschaffen und empfohlen sein soll, als eine kahl verständige und einseitige Vorstellung. — Das Evangelium lehrt uns auf jedem Blatte, dass wir dem Heilande nachfolgen sollen. Wie er der eingeborene oder erstgeborne Sohn Gottes war, so sollen wir Alle Kinder Gottes werden. Wir sollen Ihn leben, Ihn essen und trinken, Ihn schlafen und wachen, Ihn beten und arbeiten, wir sollen Ihn anziehen, wir sollen nach Fleisch und Blut, nach Willen und Kraft, nach Geist und Charakter ganz das werden, was er war. Wir sollen nur die einzige Sorge haben, dass Gott Wohnung in uns nehme, und dem in uns wohnenden Gotte dann uns und unser Können und Haben zu ausschließlicher Führung übergeben. Nehmen wir das Abendmahl, in diesem Sinne eingesetzt, so bleibt es Sakrament und Mysterium, und leidet zugleich nicht an der absoluten Unbegreiflichkeit, die mit Luthers Anschauung davon verbunden ist.

Merkwürdig für uns, die wir das Leben und die geistige Entwicklung Luthers betrachten, ist sein Verhalten in diesem Streite. Er hat, durchdrungen von dem Gefühl, dass Gott in ihm walte, gegen die römische Kirche das Recht für sich in Anspruch genommen, die heilige Schrift mit den Mitteln seines Geistes auszulegen, das heißt, mit andern Worten allgemein ausgedrückt, er hat dem Menschen das Recht angeeignet, ein Herr selbst der heiligen Schrift zu sein. Allerdings bestand dieses Recht zunächst nur für ihn, der im Ringen mit Gott und durch Unterwerfung seiner Natur ein wahrer Mann Gottes geworden war; allein, was ihm möglich geworden, kann auch Andern möglich werden, und das Recht freier Schriftauslegung, das er für sich fordert, muss doch auch Andern zugestanden werden können. Es ist ein Recht, das dem Menschen als solchem zukommt, und das unglücklicher Weise nur von sehr Wenigen in der rechten Art geltend gemacht wird. Für seine Person benimmt sich Luther bei Besprechung und Beurteilung sowohl der ganzen Bücher wie auch der einzelnen Bibelstellen in völlig unbefangener, ja naiver Weise. Er nennt den Brief des Apostels Jacobus einen strohernen Brief, weil es ihm scheint, dass darin dem Glauben nicht genug Ehre erwiesen, sondern die Werke demselben vorgezogen werden. Jacobus sagt II., 14.: „Was hilfts, lieben Brüder, so jemand saget, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht! Kann auch der Glaube ihn selig machen?“ Der Glaube macht allerdings selig, aber wenn die ihm entsprechenden Werke nicht folgen, so ist er gar nicht der echte Glaube und kann auch nicht selig machen. Der Glaube erzeugt die Werke, aber die Werke beweisen den Glauben. Jacobus hat also ebenso recht, wenn er die Werke fordert, wie Paulus, wenn er auf den Glauben dringt. Dieser hat nur mehr die Bekehrung, die Wiedergeburt im Auge, jener mehr die Heiligung, den Wandel im Glauben. Ebenso unbefangen äußert sich Luther über den Ebräerbrief, dass er nämlich nicht dem Apostel Paulus, dem er zugeschrieben wird, angehören könne. Von dem Buche des Propheten Jona sagt er: „Die Historie des Propheten Jona ist so groß, dass sie schier ungläublich ist, ja lautet lügerlich und ungereimter, denn irgend der Poeten Fabeln eine, und wenn sie nicht in der Bibel stünde, so lachte ichs wie einer Lügen. Denn wenn man ihm will nachdenken, wie er drei Tage in dem großen Bauche des Walfisches gewesen sei, da er doch in dreien Stunden hätte können verdauet und in des Walfisches Natur, Fleisch und Blut verwandelt werden; heißt das nicht mitten im Tode leben? also dass gegen diesem Mirakel das Wunderzeichen im roten Meere nichts sei. Es gehet auch eben närrisch zu. Darnach, dass er nun erlöset und errettet sei, fähet er an zu zürnen und zu erpostulieren, und sich unnütze zu machen um eines geringen Dinges willen, nämlich um ein Gräslein.“ — Für Luther und für seine und seiner Zeit religiöse Bedürfnisse hatte die Geschichte des Jona so gut wie keine Bedeutung, aber wenn man nicht an dem Buchstaben haftet, so lassen sich noch schöne Gedanken heraus lesen, und das Urteil über den Propheten wird sich dann günstiger gestalten. Ähnlich verfährt aber Luther bei hundert Stellen. Was sich nicht auf einen der Glaubenssätze bezieht, die eine Stütze seines kirchlichen Systems bilden, namentlich was nicht von der Rechtfertigung durch den Glauben handelt, das ergreift ihn nicht, und er spricht darüber nicht wie ein gotterleuchteter, sondern wie ein gewöhnlicher, verständiger Mensch, der von dem Standpunkte seiner beschränkten Zeitbildung über den Inhalt der heiligen Schrift als über äußerliche Dinge aburteilt. So finden sich in seinen Schriften über die Auferstehung des Fleisches und die Erbsünde folgende Betrachtungen: „Das ist ja ein ungeschickt Ding, und hat mich selbst oft wunderlich angesehen, und ist wahrlich ein schwerer Artikel ins Herz zu bringen, wenn ich sehe einen Menschen tot hintragen und bescharren, dass ich doch mit solchem Herzen und Gedanken soll davon gehen, dass wir werden miteinander wieder auferstehen. — Denn man sieht vor Augen, dass alle Welt vom Tod hingerissen wird und stirbt. Einen fressen die wilden Tiere, den andern frisst das Schwert; dieser lässt ein Bein in Ungarn, jener wird mit Feuer verbrannt, den verzehren die Würmer in der Erden, jenen die Fische im Wasser; einen andern fressen die Vögel unter dem Himmel, und so fort, an. Da wills schwer sein, glauben, dass der Mensch, der so mancherlei Weise umkömmt und stirbet, wiederum leben soll, und des Menschen Glieder, die so weit von einander zerstreuet, zu Asche und Pulver gemacht werden, im Feuer, Wasser, Erde, wiederum zusammenkommen sollen.“ — „Es scheinet zu unbillig und ungereimt, dass Gott das Spiel so abenteuerlich angreifen und sich so törlich zur Sache stellen soll mit seinem Gericht, dass, weil Adam in einen Apfel beißet, soll er so viel ausgerichtet haben, dass alle Menschen nach ihm, bis zu Ende der Welt, müssen des Todes sein. Denn er hat ja noch keinen Mord noch Ehebruch getan. Ja, wenn es noch der Tod allein wäre: aber dass wir alle, um dieser fremden Sünde willen, ewige Strafe und Verdammnis sollten verdient haben, und in der Hölle leiden, das geht viel weniger in eines Menschen Herz; denn es scheinet gar zu unbillig geurteilt und unbarmherzig gehandelt von solcher hohen Majestät, welche ist die höchste Weisheit und Güte.“ — Auch hier ist Luther von dem Standpunkte der Zeitbildung und der buchstäblichen Fassung irre geführt worden, und die heutigen Theologen, die sich einer höheren wissenschaftlichen Bildung erfreuen, und die Worte geistiger nehmen, urteilen viel tiefer über dieselben Schriftworte und Glaubenslehren. Es ist nicht mehr von einer materiellen, sondern von einer verklärten Auferstehung des Leibes die Rede, und die Erbsünde wird nicht mehr durch den zufälligen Apfelbiss Adams, sondern durch die Natur des Menschen und sein Verhältnis zu Gott, was sich bei Adam nur zuerst offenbarte, begründet.

In dem Abendmahlsstreit zeigt Luther nun nicht die Freisinnigkeit, die wir nach solchen Urteilen und solchen Betrachtungen der heiligen Schrift voraussetzen sollten. Er gesteht den Schweizer Reformatoren auch nicht das Recht zu, dessen er sich fortdauernd gegen die römische Kirche bedient hat. Er behandelt sie ganz so, wie er selbst früher von seinen Feinden behandelt worden ist, nennt sie Ketzer, Schwarmgeister, Abtrünnige, Lästerer, Verführer des Volks und vieles Andere. Er verflucht die Versöhnung und Einigkeit, die sie nachsuchen, und will mit ihnen, als den Jüngern des Teufels, nichts zu tun haben. Der Landgraf Philipp von Hessen, der auf unparteiischerem Standpunkte stand, und die nachteiligen Folgen erkannte, welche für die deutsche Kirche und das deutsche Volk aus diesem Zwiste hervorgehen mussten, glaubte trotz der Leidenschaftlichkeit, mit der dieser Streit geführt wurde, doch noch eine Ausgleichung zu Stande bringen zu können. Er veranstaltete auf seiner neuen evangelischen Universität Marburg eine Zusammenkunft der Schweizer und Wittenberger, und erließ im Juni 1529 die Einladungen dazu. Beide Parteien zeigten sich anfangs spröde, doch war Zwingli geneigter als Luther, der schließlich auch nur darauf einging, damit ihm nicht der Vorwurf gemacht werden könne, dass er weniger den Frieden wolle als jene. Nachgeben aber konnte und wollte er nicht, und er schrieb deshalb an den Landgrafen: „Ich habe so große Plag und Fahr erlitten über meiner Lehre, ich wollte ja nicht gern umsonst so sauere Arbeit getan haben und noch tun, darum wollt' ich wahrlich weder aus Hochmut, noch aus Hass ihnen widerstehen, sondern ihre Lehre längst haben angenommen, das weiß Gott, mein Herr, wo sie derselbigen könnten Grund anzeigen. Auf das aber, worauf sie stehen, kann ich mein Gewissen nicht setzen.“

Am 30. September 1529 kamen Luther und Melanchthon in Marburg an, wo sie Zwingli und Oecolampadius schon vorfanden. Außerdem hatten sich die bedeutendsten Theologen beider Parteien auf die Einladung des Landgrafen eingefunden. Sie wurden mit fürstlicher Gastfreiheit empfangen und bewirtet. Am 1. Oktober unterhielten sich in Zwiegesprächen Luther mit Oecolampadius und Melanchthon mit Zwingli. Es kam dabei zur Sprache, dass Zwingli nicht nur in der Lehre vom Abendmahl, sondern auch in mehreren andern wesentlichen Punkten von Luther abweiche, und es wurden vierzehn Sätze aufgestellt, über die man sprechen und sich zu einigen suchen sollte. Am folgenden Tage fand eine Unterredung vor dem Landgrafen, seinen Räten und Hofleuten und vor den Eingeladenen statt, doch wurden Fremde nicht zugelassen, und dieses Religionsgespräch wurde auch noch am 3. Oktober bis zum Abend fortgesetzt. Die Schweizer gaben in allen Punkten nach und ließen sich von Luther belehren, nur in Betreff des Abendmahls wurde keine Einigkeit erzielt. Zwingli erklärte durch sein Gewissen gebunden zu sein, dass er von seiner Lehre nicht abweichen könne, und Luther, der sich die Worte „das ist mein Leib“ mit Kreide auf den Tisch geschrieben hatte, damit er in der Hitze des Streites ja nicht dessen Zweck und Ziel aus dem Auge verliere, wich natürlich noch weniger von seiner streng formulierten Ansicht ab. Am Schluss baten die Schweizer, dass man sie als Brüder anerkennen wolle, was auch der Landgraf dringend empfahl, und Zwingli sagte mit Tränen im Auge: „Es sind keine Leut auf Erden, mit denen ich lieber wollt eins sein denn mit den Wittenbergern“; aber Luther erwiderte: „Ihr habt einen andern Geist als wir“, und verweigerte ihm den Brudernamen, doch reichte er den Scheidenden die Hand.

Nachdem Luther am 5. Oktober Marburg verlassen und noch in Geschäften seines Kurfürsten nach Schleiz gereist war, kam er in Wittenberg wieder an und gab in seiner nächsten Predigt seiner Gemeinde Nachricht von dem Erfolge des Marburger Gesprächs. Er rühmte die Demut, die Freundlichkeit und die Nachgiebigkeit der Gegner, bezeichnete auch die Lehrsätze, in Bezug auf welche ihre abweichenden Ansichten aufgegeben und sich ihm angeschlossen hätten, fuhr dann aber fort: „Aber dass allda sei wahrhaftig und leiblich Christi Leib und Blut, das können sie noch nicht glauben, und haben so viel vermerket, wenn es bei ihnen stünde, so hätten sie es nachgegeben, und haben ihre Reden also gelautet: Hätte man das Bier wieder im Fasse, so würde man es nicht anzapfen. Aber dieweil sie einen gemessenen Befehl gehabt von den Ihren, so haben sie nicht zurück gekonnt. Brüderschaft aber haben sie von uns begehret, die haben wir ihnen auf diesmal abgeschlagen und nicht zusagen können. Denn wenn wir sie für Brüder und Schwestern annehmen, so müssten wir verwilligen in ihre Lehre. Wiewohl man dieses Abschlagen nicht gerne gesehen, und vorgab, man sollte die Liebe gegen sie erzeigen, bis sie Gott auch wieder herzubrächte; denn wir auch unsre Feinde lieben sollten. Nun, wer es übel auslegen will, der mag es tun: wer auch mehr ausrichten kann, der richte es aus. Sie bleiben auf ihrer Meinung, Gott wolle sie erleuchten: wiewohl sie sich flicken und schmücken und nachgelassen haben, dass sie nicht verleugnen, dass nicht der wahre Leib und Blut Christi da sei, welches denn lautet, gleich als hielten sie es mit uns. Sie bekennen, dass sie zum Abendmahl gehen, genießen allein wahrhaftig des Leibes und Blutes Christi, aber geistlich, dass sie Christum im Herzen haben; leiblich zu genießen, das wollen sie nicht zulassen, das haben wir auf ihr Gewissen geschoben. Denn wir haben Gottes Wort und Text für uns, den sie nicht haben. Darum stehet die Sache in einer guten Hoffnung.“

Fünf Jahre früher wahrt sich Luther bei seinen neuen kirchlichen Einrichtungen noch davor, dass sie nicht maßgebend für ganz Deutschland sein sollten; er wollte keine neuen päpstlichen Dekretalen aufrichten, sondern Jeder sollte vom Geiste getrieben es anders und besser machen als er, wenn er könnte; und jetzt fordert er schon buchstäblich Übereinstimmung mit seiner religiösen Anschauung. Das große christliche Prinzip, das er in dem Religionsgespräch zu Augsburg dem römischen Kardinal gegenüber entdeckt, und durch das er seine Reformation vor Gott und den Menschen gerechtfertigt hat, wird von ihm selbst andern Reformatoren gegenüber außer Anwendung gesetzt, und damit ist in der Tat ein neues, ein Luthersches Papsttum begründet worden. Er streitet gegen die Schweizer jetzt mit denselben Gründen, mit denen die römische Kirche gegen ihn gestritten hat; er verfährt gegen sie mit derselben Härte, mit der gegen ihn verfahren ist. Anfänglich schien das Marburger Gespräch, wenn auch keine Einigung, doch eine Annäherung bewirkt zu haben; allein wirklich war der Riss nur größer, der Bruch nur unheilbarer geworden. Die schweizerische oder, wie sie später genannt wurde, die reformierte oder Calvinistische Kirche wurde von der Luther'schen mit solcher Feindseligkeit betrachtet und behandelt, dass ein Menschenalter später der Gegensatz zwischen ihnen größer war, als zwischen der römischen und protestantischen.

Wir können zur Entschuldigung Luthers drei Umstände anführen: 1) es ging ihm, wie allen wahrhaft großen Männern; er verlor allmählich das Vertrauen und die Ehrfurcht vor den Menschen, weil er unter ihnen im günstigen Falle nur gläubige Jünger, meist nur äußerliche Nachbeter oder eigensüchtige Geschöpfe fand, die sich ihm aus Eitelkeit, Ehrgeiz oder um weltlicher Vorteile willen, anschlossen; 2) er hatte erfahren, wie gefährlich es sei, Denen eine unbedingte Gewissensfreiheit in Glaubenssachen zuzugestehen, die sich nicht durch große, sittliche Kämpfe, durch ein dauerndes Ringen mit Gott dieser Freiheit würdig gemacht hatten, die sich nicht in der Gnade Gottes befanden; 3) er war durch die Wiedertäufer, die Aufwiegler der Bauern und anderer Schwärmer erschreckt und aufmerksam gemacht worden, dass die geistige Freiheit leicht mit der bürgerlichen verwechselt werde, und dass diese Verwechselung namenloses Unglück und Verderben über die Völker herbeiführen müsse. Durch diese Umstände hatte er sich selbst immer mehr über die Masse emporgehoben; er glaubte immer mehr an sich als an einen von Gott Berufenen, der neue Religionszustände in Deutschland zu begründen habe, und dieser Glaube teilte sich so vollständig seinen Anhängern mit, dass er von Allen, von Fürsten und von Gelehrten, als höchste und unwidersprechliche Autorität angesehen wurde. Was er entschied, das war entschieden und weder sein Landesherr noch selbst der Landgraf Philipp von Hessen, der sonst ein sehr selbstständiger und eigenwilliger Herr war, wagten es, etwas gegen seine ausdrückliche Entscheidung zu bestimmen. Luther hätte übrigens auch vollkommen Recht gehabt, ein weiteres Vorschreiten in der Bibelauslegung und in der religiösen Entwicklung überhaupt nicht zu dulden; denn was er gegeben hatte, war nach dem allgemeinen Bildungszustand der Zeit genug und übergenug, wenn nur nicht dem ganzen evangelischen Prinzip dadurch für die Folgezeit die Spitze abgebrochen worden wäre. Die Fackel seines Geistes hatte für einen Moment die Finsternis durchleuchtet, aber die aufgeflogene Nacht senkte sich wieder auf das trübe Deutschland nieder, als diese Fackel erlosch, und sie erlosch, als er das Recht der freien Schriftauslegung nur sich selbst zugestand, jedem Andern verweigerte. Die nachteiligen Folgen dieses Verfahrens traten zunächst nur der römischen Kirche und dem spanisch denkenden Kaiser gegenüber deutlich hervor, da diese Mächte es fortan nicht mit einem großen, sondern mit zwei kleinen Feinden zu tun hatten, aber im siebzehnten Jahrhundert wurde ihre Wirkung so allmächtig, dass unter ihrem Einflusse das ganze Volksleben der Deutschen die geistige Tätigkeit und Regsamkeit auf allen Gebieten verkümmerte, und fast bis zu gänzlichem Tode in Ohnmacht dahinsank. Die römische Anschauungswelt und der Autoritätsglaube erhoben ihr Haupt wieder höher in Deutschland, als es jemals vorher geschehen war. Wissenschaft und Kunst erlagen dem Drucke, den die Luthersche Orthodoxie und der Glaubenszwang auf sie ausübte, und jeder Aufschwung des Geistes auf religiösem wie auf politischem Boden wurde zur Unmöglichkeit. Die unendlich trübe Zeit des dreißigjährigen Krieges, und die grenzenlose Schmach und Erniedrigung Deutschlands in dieser Periode, von deren Größe und Umfang wir uns heute kaum noch eine Vorstellung machen können, ist nur durch die geistige Knechtschaft, durch das Verbot freien, selbstständigen Denkens auf kirchlichem Gebiete herbeigeführt worden.

Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb' in Ewigkeit. Die Nacht der Reaktion verschwand, und im achtzehnten Jahrhundert brach das Licht eines reformatorischen Tages von Neuem an. Der große Luther, der Held und Heiland des deutschen Volkes, der Reformator von 1517 —1525, den man über den späteren Luther fast vergessen hatte, wurde gleichsam von Neuem entdeckt, und in jubelnder Freude gefeiert, so dass wir ihm doch allein die Eröffnung der reichen Quellen des geistigen Daseins schuldig sind, welche uns heute erquicken und auferbauen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben