Der Ablass. 1516 — 1517.

Der, Ablass ist ein uralter Gebrauch der Kirche. Die Büßungen und Strafen, welche sie für begangene Sünden und Missetaten auferlegt hatte, wurden erlassen und dafür andere Strafen bestimmt, die dem Sünder weniger hart und unbequem waren oder schienen, als die ersteren. Statt der Kirchenbuße z. B., an drei Sonntagen im armen Sünderhemde mit nackten Füßen an der Kirchentüre zu stehen, und die Gemeinde an sich vorübergehen zu lassen, übernahm mittelst des Ablasses der Christ den Bau einer Kapelle, die Stiftung eines Altars, eine Geldzahlung an die Kirche zu irgend einem heiligen Zwecke oder sonst die Überlassung eines Vorteils zu Gunsten eines kirchlichen Instituts. Die Reue und Buße wurde mit dem Erlass der ordentlichen Kirchenstrafe aber nicht erlassen, und der Friede der Seele wurde von der Vollziehung des guten Werkes nicht abhängig gemacht.

So lange die Kirche selbst im lebendigen Zustande des Fortschreitens begriffen war und eine echte Gläubigkeit in ihren Mitgliedern waltete, war, so weit man überhaupt die Entwicklung der kirchlichen Anschauungsweise billigen kann, gegen diesen Gebrauch kaum etwas einzuwenden. Als aber die Veräußerlichung und Verweltlichung des Christentums unter der Leitung des römischen Papstes seine höchste Entfaltung erlangt hatte, als die Völker und als besonders das deutsche Volk den Lehrbegriff, wie er von Rom geltend gemacht wurde, als das Produkt des eigenen Gemütes und Geistes nicht mehr anerkennen konnte, verwandelte sich der Brauch in den furchtbarsten Missbrauch, das Licht in Finsternis, die Wahrheit in Lüge. Der Erlass der Kirchenstrafen wurde in einen Erlass der Strafen nach dem Tode umgewandelt, weil, wer hier in Einigkeit und Frieden mit der Kirche gelebt habe, auch dort in Einigkeit mit Gott leben müsse. Daran knüpfte sich dann unmittelbar ein zweiter Irrtum, dass nämlich nicht bloß die Kirchenstrafen, sondern auch die Sünden, wegen deren die Strafen auferlegt worden, erlassen wären. Obwohl diese Auffassung des Ablasses von dem Papste niemals ausdrücklich geboten oder gebilligt worden war, so wurde doch das Missverständnis sehr gern gesehen und auf jede Weise gefördert, so dass im fünfzehnten und zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der Ablass allgemein als Sündenerlass betrachtet wurde, wie er auch heute noch in Italien vom Volke so angesehen wird. Wer jetzt noch die Scala santa, die Pilatusstiege, auf den Knien hinaufrutscht, sichert dadurch unmittelbar nicht nur seine Seele vor der Strafe des Fegefeuers, sondern er kann auch noch eine beliebige andere Seele daraus befreien.


Der Ablasshandel hatte sich wegen des reichen Einkommens, das er bot, ins Unglaubliche erweitert, ja er war fast zum Mittelpunkte des ganzen römischen Systems gemacht worden. Durch ihn flossen fast alle Geldmittel, welche die Völker Europas sich durch sauren Schweiß erwarben, nach Rom hin, das dadurch zur reichsten Stadt des Erdteils wurde, während sonst in allen Ländern und Städten drückende Armut herrschte. Diesem Unfuge hätte aus finanziellen Gründen auch schon früher von Seiten der weltlichen Fürsten ein Ende gemacht werden müssen, wenn nicht in deren Ländern selbst viele Ablassstätten gewesen wären, deren Einkommen der Landeskirche zuflossen, und wenn die Fürsten nicht gewusst hätten, sich durch Verträge einen Teil des Geldes anzueignen, welches die Kommissarien und Krämer des Papstes aus dem Verkaufe ihrer bekreuzten Zettel lösten.

Im Jahre 1514 wurde Albrecht, der Bruder des Kurfürsten Joachims I. von Brandenburg, der schon Erzbischof von Magdeburg und Bischof von Halberstadt war, zum Kurfürsten und Erzbischofe von Mainz gewählt. Er hatte für die Bekleidung mit diesem Amte dreißigtausend Dukaten nach Rom zu zahlen, und da er diese Summe weder aus seinen laufenden Einnahmen abtragen, noch auch sie seinen Untertanen aufbürden konnte, weil zufällig die drei vorhergehenden Erzbischöfe nur ganz kurze Zeit regiert hatten, und das Land daher schon erschöpft war, so unterhandelte er, wegen eines neuen Ablassverkaufes mit dem Handelshause Fugger in Augsburg und mit dem päpstlichen Hofe. Die Fugger sollten das Geld sofort nach Rom zahlen, und dafür von dem Gewinn, den der Ablass eintragen würde, entschädigt werden. Papst Leo X. ging ungern auf den Antrag ein, weil Deutschland in den letzten Jahren schon gar zu sehr ausgepresst war, indessen nahm er ihn doch an und fertigte die betreffenden Urkunden aus. Albrecht bediente sich zur Betreibung des Geschäftes hauptsächlich eines Mannes, der schon früher auf diesem Gebiete mit Erfolg tätig gewesen war, und dem sich eine große Gewandtheit und Rührigkeit nicht absprechen ließ. Es war der Dominicaner-Mönch Johann Tezel aus Leipzig, fünfzig bis sechzig Jahre alt, ein Mann von verdächtigem Lebenswandel, der die Mittel vortrefflich kannte, durch welche die abergläubischen Deutschen von den Römern oder ihren zum Romanismus emanzipierten Landsleuten geplündert werden konnten.

Als Staupitz und Luther sich im April 1516 zur Visitation des Klosters in Grimma befanden, sagte jener eines Tages: „Jetzund wird mir ein Brief geschrieben, wie zu Wurzen ist einkommen ein gelehrter Mann vom Papst zu Rom, der heißt Tezel, der spricht: So bald der Gulden oder Groschen klinge, deß Seele soll erlöset sein aus dem Fegfeuer.“ Darauf sagte Luther, vermutlich, nachdem der Gegenstand weitläufiger von ihnen besprochen war: „Nun will ich der Pauke ein Loch machen, ob Gott will!“ Er soll sich wirklich sogleich im Kloster zu Grimma an den Schreibtisch gesetzt und einen Angriff gegen den Tetzel'schen Unfug zu entwerfen angefangen haben; aber er ist bald wieder von dieser Arbeit zurück gekommen. Bei näherer Erwägung stellten sich rücksichtlich der Natur des Gegenstandes und der öffentlichen Verhältnisse sehr bedenkliche Schwierigkeiten heraus. So klar wie uns lag ihm die Sache nicht vor. Was schon früher von gelehrten Männern gegen den Ablass oder dessen Missbrauch geschrieben worden, kannte er nicht, weil Bücher sich damals überhaupt langsamer verbreiteten, und weil er als ein dem Papsttume ganz ergebener Mann diese Gattung von Schriften eher vermieden als aufgesucht hatte. Die Rechtmäßigkeit des Ablasses überhaupt anzugreifen, konnte ihm entfernt nicht einfallen, denn das wäre in seinen Augen eine Auflehnung gegen den Papst selbst gewesen, und außerdem würde er den Primas von Deutschland, den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, ja, er würde seinen eigenen gütigen Kurfürsten beleidigt haben, der eben noch Staupitz zum Ankauf von Reliquien aussandte, die doch auch diesem Zwecke schließlich zu dienen hatten. Er wusste ferner nicht, ob er er mit seiner und seiner Freunde Überzeugung allein stände, oder ob die öffentliche Meinung sich zu seinen Gunsten aussprechen würde. Letzteres schien nicht der Fall; denn wie hätten sich sonst noch so viele Verkäufer und Käufer des Ablasses finden, wie hätten aus jeder dieser Unternehmungen so ganz außerordentliche Erfolge hervorgehen können. Sollte er sich aber bloß gegen den Missbrauch wenden, den Tezel trieb, so war es schwierig, das mündlich gesprochene Wort, das dieser ja in jedem einzelnen Falle als ein Missverständnis oder eine Entstellung zurückweisen konnte, mit einem schriftlichen zu bekämpfen. Jetzt freilich ist das Urteil hierüber völlig begründet, denn wir haben von den verschiedensten Orten und aus verschiedenen Zeiten übereinstimmende Zeugnisse und Beweise. Unsere Gewährsmänner sind zuverlässige Berichterstatter, weil alle ihre Mitteilungen das innere Gepräge der Wahrheit an sich tragen. Tezel war sehr vorsichtig bei Allem, was er schrieb; aber höchst ungebunden, ausschweifend und leidenschaftlich in seinem mündlichen Vortrage. Er sagte: Es sei keine Sünde zu groß, er könne davon lossprechen; gebeichtete und ungebeichtete, bereute und nichtbereute, schon begangene und noch zukünftige Vergehungen vergebe er; von aller Schuld und Strafe spreche er los, versetze in den Stand der Unschuld, mache reiner als die Taufe, befreie aus dem Fegefeuer, verschließe die Pforten der Hölle, tue die Tore des Paradieses auf, mache der himmlischen Seligkeit teilhaftig die Lebendigen und die Toten.

Zum Teil war diese Verhöhnung des Heiligen so groß, dass man noch heute Scham empfindet, sie zu wiederholen; aber war dergleichen gerade zu Wurzen vorgekommen, oder hatte Luther gerade Bericht davon erhalten, oder konnte es nicht Übertreibung sein? Wie es sich damit verhalten mag, Luther schrieb nicht. Um dies aber völlig begreifen zu können, muss man ihn selbst näher betrachten. Er war kein schneller Geist, er hatte nicht bei dem ersten Blicke gleich ein Urteil fertig: er musste zu seiner eigenen Beruhigung sicher sein, dass er auf Gottes Befehl vermöge seines Amtes und Berufes das Unternehmen anzugreifen habe.

Wir unterscheiden heute den freien Willen von dem Eigenwillen und betrachten beide als Gegensätze. Der freie Wille ist uns derjenige, zu welchem wir durch die Einigkeit mit Gott gelangen. Wir werden frei durch diese Einigkeit von dem Einflusse unseres sterblichen Teils, von Leidenschaften, Begierden, Schwächen und Mängeln jeder Art; es ist, was wir in diesem Willen beschließen, im Himmel beschlossen. Wir sind uns bewusst, dass uns die drei ersten Bitten des Gebetes, das uns der Heiland gelehrt hat, erfüllt sind: Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe. — Der Eigenwille ist der menschliche Wille, das Produkt der Besonderheit, der partikulären Natur, der individuellen Anlagen und des Charakters. Was er uns zu tun vorschreibt, ist ungöttlicher Art, selbst wenn es gut ist. Es geht aus einseitiger Verstandesrichtung hervor, während der freie Wille aus Vernunft-Anschauungen und Gemütszuständen hervorgeht. Der Eigenwille erzeugt im besten Falle Klugheit und Bescheidenheit, der freie Wille Weisheit und Demut. Die Klugheit verfolgt endliche, die Weisheit ewige Zwecke; die Bescheidenheit ist durch Reflexionen des Verstandes, die Demut durch Vertiefung in Gott bedingt. Luther machte diese Unterschiede nicht, ja er verband zum Teil mit diesen Worten einen anderen Begriff.

Er braucht häufig ein Wort, das wir in seinem Sinne nicht mehr anwenden, das Wort Gelassenheit. Darunter versteht er den Zustand des Menschen, in welchem sich derselbe von allem Eigenwillen frei gemacht, sich ganz dem Willen Gottes zu Dienste gestellt hat. Er ist ledig seiner, und erfüllt von dem Heilande. Im Jahre 1518 schrieb er: „Der Mensch soll sich üben, dass er einen Überwillen habe wider seinen Willen, und nimmer unsicher sei, denn wenn er findet, dass nur ein Wille und nicht zween Wille wider einander in ihm sind und also sich gewöhne dem Überwillen zu folgen wider seinen Willen. Denn wer seinen Willen hat und tut, der ist gewisslich wider Gottes Willen. Nun ist kein Ding, das dem Menschen so fast lieb und so schwer zu lassen ist als sein Wille. Viele tun große und gute Werke, aber ihren Willen und aller Neigung tun sie ganz folgen, und meinen dennoch, sie seien wohl dran und tun nichts Übels, denn sie halten dafür, ihr Wille sei gut und recht“. Ebenso schreibt er 1510 an Spalatin: man müsse auch seinen guten und frommen Absichten nicht folgen, sondern den Befehl Gottes abwarten.

Hiernach wird es erklärlich, dass Luther den Kampf gegen Tezel in augenblicklicher Aufregung beschließen und dann doch wieder von seinem Vorsatze ablassen konnte. Wir werden weiter sehen, wie sein Verfahren in diesem Falle durchaus zu billigen ist; obwohl wir im Allgemeinen dem Grundsatze, dem er folgte, nicht völlig beipflichten können. Nach unserer Meinung ist nämlich der Eigenwille nicht schlechthin zu unterdrücken, sondern er ist nur mit dem freien oder göttlichen Willen in Übereinstimmung zu bringen. Der kräftige Eigenwille ist an sich ein dankenswertes Geschenk der Natur, und auf ihm beruht die tüchtige Individualität eines Menschen; aber er hat sich nicht selbstständig zur Geltung zu bringen, sondern durch die Zustimmung Gottes seine höhere Weihe, seine göttliche Berechtigung zu empfangen.

Luther trennte sich von Staupitz, begann seine Visitationsreise, und erst mehrere Monate später, als er nach Wittenberg zurückgekehrt war, erwähnte er in einer Predigt, die er am zehnten Sonntage nach Trinitatis in der Stadtkirche hielt, des Ablasses. Er sagt, dass der Ablass als das Verdienst Christi und seiner Heiligen mit aller Ehrerbietung aufzunehmen sei, klagt aber, dass ein schändliches Werkzeug des Geizes daraus geworden sei, weil man nicht dabei das Heil der Seelen, sondern das Geld in den Beuteln suche. Die Ablass -Kommissarien unterrichteten das Volk nicht über den Ablass, sondern forderten es nur zum Geben auf und ließen es in dem Wahn, dass man glaube, alsbald selig zu sein, wenn man den Ablass habe. Denn die Gnade an sich werde dadurch Niemandem erteilt, so dass er dadurch gerecht oder gerechter werde, sondern er sei nur ein Erlass der Buße und auferlegten Genugtuung, woraus nicht folge, dass Jemand gleich in den Himmel flöge, der so sterbe, wie der größere betrogene Teil des Volkes meine, und nun darauf lossündige und sein Gewissen beschwere. Ob durch den Ablass eine Seele aus dem Fegefeuer befreit werden könne, sei überhaupt zweifelhaft. Vermöge der Gewalt der Schlüssel könne es der Papst nicht, sondern nur etwa durch die Fürbitte der ganzen Kirche. Jedenfalls könne der Papst nur die Bußen oder Kirchenstrafen erlassen, die er selbst auferlegt habe. Eine Erhebung aus dem Fegefeuer in den Himmel durch den Kauf von Ablassbriefen sei eine Ungereimtheit, und außerdem wäre es eine Grausamkeit, wenn der Papst, so er die Macht hätte, es nicht auch aus bloßer Liebe tun wolle. Endlich bekennt er seine Unwissenheit darüber, ob, wenn wahre Reue und innere Buße vorhanden sei, überhaupt noch Ablass gefordert werden könne. Nützlich sei derselbe aber, weil Gott vielleicht deshalb umsomehr den Sündern seine Barmherzigkeit zuwende, jemehr er sehe, dass diese von den Menschen verachtet würde. Nur vor Sicherheit und Trägheit und vor der Einbuße an innerer Gnade müsse man sich hüten. In einer späteren Predigt sagt er, dass das Volk durch den Ablass verführt werde, die Strafen der Sünden zu fürchten, nicht aber die Sünden selbst, und wenn diese erlassen werden könnten, jene aber nicht erlassen würden, so würde man den Ablass nicht umsonst haben wollen. Das Volk müsse vielmehr ermahnt werden, die Strafen zu lieben und das Kreuz auf sich zu nehmen. Er schließt mit den Worten: „O über die Gefahren unserer Zeit! o über die schlafenden Priester! o über die mehr als ägyptische Finsternis! wie sicher sind wir in allen unseren so schrecklichen Nebeln.“

So und in ähnlicher Weise äußerte sich Luther in Predigten und Schriften noch anderthalb Jahre nach dem Vorgange in Grimma über den Ablass, und erst, als der Unfug in der unmittelbaren Nähe Wittenbergs hervortrat, und er in seinem amtlichen Berufe dadurch berührt ward, glaubte er nicht mehr bloß seinem eigenen, sondern dem göttlichen Willen zu folgen, wenn er den offenen Kampf unternehme. Es hatten ihn nämlich Einwohner von Wittenberg, die bei ihm beichteten, und von denen er entschiedene Reue und Lossagung von ihrem bisherigen sündhaften und lasterhaften Leben gefordert hatte, offnen Widerspruch entgegengesetzt und behauptet, dass sie durch ihre Ablassbriefe und ihre Ablassgnade jeder Reue und andern Buße überhoben seien. Luther konnte ihnen hierauf keine Absolution gewähren, und sie wandten sich nun klagend an Tezel zurück. Diesem mochte Ähnliches wohl schon früher begegnet sein, aber er hatte dann sein Ansehen durch die hohe geistliche und weltliche Macht, auf die er sich stützte, bald wieder hergestellt. Die Gegner traten scheu und erschreckt vor der Frechheit zurück, mit der er als päpstlicher Ketzerrichter, als Herr über Leben und Tod, über Ehre und Verm?gen auftrat. Auch gegen den elenden Mönch zu Wittenberg wollte er dies Schreckbild in die Schranken führen. Er ließ auf dem Markte zu Jüterbog Feuer anzünden und drohte, Jeden zu verbrennen, der es wagen würde, ihm zu widersprechen oder seinem heiligen Werke Abbruch zu tun. Luther aber hatte Befehl von Gott, er fürchtete keinen Ketzerrichter, keine noch so hohe geistliche oder weltliche Macht, er ließ sich nicht schrecken, und der von Fürsten und Völkern gefürchtete Krämer sank gebrochen und zermalmt durch Luthers Gotteieifer ins Nichts dahin.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben