Anfang der Kirchenverbesserung. 1517

Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen, und: du sollst der Obrigkeit gehorsam sein; das sind widerstreitende Gebote. Wo hört das eine zu gelten auf, und wo fängt das andere an? Das hat Jeder mit sich selbst auszumachen. Wer die Stimme Gottes bei seinem Unternehmen so sicher für sich hat, dass er jedes Übel, auch den Tod, zu Ehren Gottes und der Wahrheit zu leiden entschlossen ist, der mag sich gegen die Welt und ihre Macht auflehnen. Er wird auch sterbend siegen, und die Nachwelt wird ihn als einen Zeugen Gottes ehren; aber wen nur zeitliche Beweggründe zu seinem Vorhaben treiben, der wird auch lebend und siegend unterliegen, und die Nachwelt wird den Stab über ihn brechen. Luther hatte die Stimme Gottes für sich, und griff in Demut das Werk an.

Am Tage Aller-Heiligen, dem ersten November, feierte die Schloss- und Stiftskirche zu Wittenberg ihr Kirchweihfest, denn sie war allen Heiligen gewidmet. Am Tage vorher, Mittags um zwölf Uhr, heftete Luther an der Türe dieser Kirche ein Blatt mit 95 Streitsätzen über den Ablass an. Es waren viele Pilger aus der Umgegend zu erwarten, denn seit langer Zeit befand sich hier ein ansehnlicher Reliquienschatz und ein damit verbundenes Ablassprivilegium, welches noch 1516 Papst Leo X. bedeutend erweitert hatte. Luther forderte alle Anwesenden, die allerdings nur Gelehrte sein konnten, weil die Thesen in lateinischer Sprache abgefasst waren, zur Disputation über dieselben auf. Sollten aber Abwesende zur Aufklärung der Sache oder zur Berichtigung seiner Ansichten etwas beitragen können, so bat er, dass sie es schriftlich tun möchten. Dass eine Disputation stattgehabt, ist nicht berichtet. Es war aber auch wohl von vornherein darauf nicht abgesehen, denn alsbald erschienen die Sätze samt einer Predigt über den Ablass im Drucke, und Luther schickte sie dem Erzbischof von Mainz und den Bischöfen von Brandenburg, Meißen, Zeitz und Merseburg zu. In einem Nachworte sagt er: „Ich bin nicht also vermessen, dass ich einziger mehr gelten wolle als alle Andern; aber ich bin auch nicht so einfältig, dass ich das Wort Gottes den menschlicher Weise ausgedachten Fabeln nachsetzen wollte“, und später äußerte er: „Ich verstand nicht einmal, was der Ablass eigentlich sei, wie es denn auch alle Papisten auf einen Haufen nicht wussten. Er ward allein um des Brauchs und der Gewohnheit willen so hoch gehalten. Deshalb disputierte ich davon, nicht in der Meinung, als wollte ich ihn verwerfen, sondern weil ich seine Kraft und Wesen durchaus nicht kannte, wollte ich's gern erlernen, und weil mich die toten oder stummen Meister, d. i. der Theologen und Juristen Bücher, nicht belehren konnten, so begehrte ich, bei den Lebendigen Rat zu suchen und die Kirche Gottes selber zu hören, auf dass, so etwa fromme Leut vorhanden wären, durch den heiligen Geist erleuchtet, sie sich über mich erbarmten und nicht bloß mir, sondern der ganzen Christenheit zu gut einen echten und gewissen Bericht vom Ablass geben möchten.“


Was nun den Inhalt der Streitsätze betrifft, so tasten sie auf keine Weise die Hoheit des Papstes und die Macht der römischen Kirche an, wenigstens hatte Luther die Absicht nicht. Papst und Kirche fühlten sich allerdings sehr hart angegriffen, aber das war ihre, nicht Luthers Sache. Wenn Jemand den Missbrauch einer Einrichtung angreift, so ist damit der Urheber derselben noch durchaus nicht angegriffen; wenn dieser aber ihren Missbrauch billigt, ja ihn um des Gewinnes willen aufs Höchste begünstigt, so muss er freilich den Angriff als gegen sich gerichtet ansehen. Luther war dabei aber so unschuldig, dass er glaubte, seine hohen Vorgesetzten wüssten von dem Missbrauche nichts, und wenn er ihnen Mitteilung davon machte, so würden sie ihn abstellen.

Da mit der Veröffentlichung dieser Sätze die Kirchenverbesserung beginnt und hauptsächlich, da sie den religiösen Standpunkt, den Luther damals einnimmt, genau bezeichnen, so mögen sie hier eine Stelle finden:

1. Da unser Herr und Meister, Jesus Christus, sprach: Tut Buße u. s. w., wollte er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine (stete) Buße sei.
2. Und kann noch mag solch Wort nicht vom Sakrament der Buße, das ist von der Beichte und Genugtuung, so durch der Priester Amt geübet wird, verstanden werden.
3. Jedoch will er nicht allein verstanden haben die innerliche Buße, ja die innerliche Buße ist nichtig und keine Buße, wo sie nicht äußerlich allerlei Tötung des Fleisches wirket.
4. Es währet daher die Pein, so lange Einer Missfallen an sich selber hat, d. h. wahre innere Buße, nämlich bis zum Eintritt in das Himmelreich.
5. Der Papst will noch kann nicht andere Strafen erlassen außer die, welche er nach seinem Gefallen oder laut der Canones, das ist päpstlicher Satzung, aufgelegt hat.
6. Der Papst kann keine Schuld vergeben, denn allein sofern, dass er erkläre und bestätige, was von Gott vergeben sei, oder aber, dass er's tue in den Fällen, die er sich vorbehalten hat; und wenn dies verachtet würde, so bliebe die Schuld ganz und gar unaufgehoben.
7. Gott vergibt keinem die Schuld, den er nicht zugleich durchaus wohl gedemütigt, dem Priester, seinem Statthalter, unterwerfe.
8. Canones poenitentiales, d. i. die Satzungen, wie man beichten und büßen soll, sind allein den Lebendigen aufgelegt und sollen laut derselben Satzungen den Sterbenden nicht aufgelegt werden.
9. Daher tut uns der heilige Geist wohl am Papst, dass dieser allewege in seinen Dekreten ausnimmt den Artikel des Todes und der äußersten Not.
10. Die Priester handeln unverständig und übel, die den sterbenden Menschen poenitentias canonicas ins Fegefeuer sparen.
11. Dieses Unkraut von Verwandlung der Kirchenstrafe in die Strafe des Fegefeuers scheint entstanden zu sein, da die Bischöfe schliefen.
12. Vor Zeiten wurden Kirchenstrafen nicht nach, sondern vor der Absolution aufgelegt, dabei zu prüfen, ob die Reue und Leid rechtschaffen wäre.
13. Die Sterbenden bezahlen durch ihren Tod Alles und sind dem Recht der canones schon abgestorben und also von Rechts wegen von denselben entbunden.
14. Des Strebenden unvollkommene Rechtschaffenheit oder Liebe bringt notwendig eine große Furcht mit sich, die um so größer ist, je geringer seine Rechtschaffenheit war.
15. Diese Furcht und Angst ist an sich hinlänglich, die Strafe des Fegefeuers auszumachen, denn sie grenzt an die Angst der Verzweiflung.
16. Hölle, Fegefeuer, Himmel scheinen also verschieden zu sein, wie Verzweiflung, Zerknirschung und Sicherheit verschieden sind.
17. Es scheint, als müsse im Fegefeuer die Qual der Seelen abnehmen, so wie die Liebe zunimmt.
18. Weder Vernunft noch Schrift scheinen zu beweisen, dass jene (im Fegefeuer) außerhalb des Standes des Verdienstes oder der wachsenden Liebe seien.
19. Auch das scheint nicht bewiesen zu sein, dass sie gewiss und sicher ihrer Seligkeit seien; wenigstens alle sind es nicht, mögen wir auch noch so gewiss sein.
20. Derhalben versteht der Papst unter der vollkommenen Vergebung aller Strafen nicht, dass insgemein alle Strafen vergeben werde, sondern nur die, die er selbst hat aufgelegt.
21. Daher irren die Ablassprediger, die da sagen, dass durch des Papstes Ablass der Mensch von aller Strafe los und selig würde.
22. Nur die Strafen erlässt er im Fegefeuer, welche sie in diesem Leben nach den Kirchengesetzen hätten büßen müssen.
23. Wenn irgend eine Erlassung aller Strafen Jemanden! kann erteilt werden; so ist es gewiss, dass sie nur den Vollkommensten, mithin nur den Wenigsten, kann zu Teil werden,
24. Darum muss der größte Teil der Leute betrogen werden durch die prächtige Verheißung von der bezahlten Strafe, wobei gar kein Unterschied gemacht wird.
25. Gleiche Gewalt, wie der Papst hat über das Fegefeuer ins Allgemeine, haben auch ein jeder Bischof und Seelensorger in seinem Bistum und Pfarrei insbesondere.
26. Der Papst tut sehr wohl daran, dass er nicht aus Gewalt des Schlüssels, den er nicht hat, sondern fürbittweise den Seelen die Vergebung schenkt.
27. Die predigen Menschentand, die da vorgeben, dass, sobald der Groschen in den Kasten geworfen klinget, die Seele aus dem Fegefeuer fahre.
28. Das ist gewiss, dass, sobald der Groschen im Kasten klinget, Gewinnst und Geiz zunehmen; die Fürbitte aber der Kirche steht allein in Gottes Wohlgefallen.
29. Wer weiß, ob alle Seelen im Fegefeuer wollen erlöset sein, wie dies vom heiligen Severinus und Paschalis erzählt wird.
30. Niemand ist des gewiss, dass er wahre Reu' und Leid genug habe, viel weniger kann er gewiss sein, ob er vollkommene Vergebung der Sünden bekommen habe.
31. Wie selten einer ist, der wahrhaftige Reue und Leid habe, so selten ist auch der, der wahrhaftig Ablass löset, das ist, es ist gar selten Einer zu finden.
32. Die werden samt ihren Meistern zum Teufel fahren, die da vermeinen, durch Ablassbriefe ihrer Seligkeit gewiss zu sein.
33. Vor denen soll man sich sehr wohl hüten und vorsehen, die da sagen: des Papstes Ablass sei die höchste und werteste Gottesgnade oder Geschenk, dadurch der Mensch mit Gott versöhnt werde.
34. Denn die Ablassgnade bezieht sich allein auf die Strafen der sakramentlichen Genugtuung, welche von Menschen geordnet worden sind.
35. Die lehren unchristlich, die vorgeben, dass die, so da Seelen aus dem Fegefeuer oder Beichtbriefe wollen lösen, keiner Reu' noch Leid bedürfen.
36. Ein jeder Christ, so wahre Reu' und Leid hat über seine Sünden, der hat völlige Vergebung von Pein und Schuld, die ihm auch ohne Ablassbriefe gehöret.
37. Ein jeder wahrhaftige Christ, er sei lebendig oder tot, ist teilhaftig aller Güter Christi und der Kirchen aus Gottes Geschenk, auch ohne Ablassbriefe.
38. Doch ist des Papstes Vergebung und Austeilung mit Nichten zu verachten, denn sie ist, wie ich gesagt habe, eine Erklärung göttlicher Vergebung.
39. Es ist über die Maßen schwer, auch für die allergelehrtesten Theologen, zugleich den großen Reichtum des Ablasses und die wahre Reu' und Leid vor dem Volke zu rühmen.
40. Die wahre Reue sucht und liebt die Strafe, aber der reiche Ablass entbindet davon und macht, dass man sie hasst, wenigstens bei Gelegenheit.
41. Vorsichtig soll man von dem päpstlichen Ablass predigen, damit der gemeine Mann nicht fälschlich dafür halte, derselbe solle den andern guten Werken der Liebe vorgezogen werden.
42. Man soll die Christen lehren, dass es des Papstes Meinung nicht sei, dass Ablasslösen den Werken der Barmherzigkeit irgendwie zu vergleichen sei.
43. Man soll die Christen lehren, dass, der den Armen gibt oder leihet den Dürftigen, besser tut, als wenn er Ablass löset.
44. Denn durch das Werk der Liebe wächst die Liebe und der Mensch wird frömmer, durch den Ablass aber wird er nicht besser, sondern nur freier von der Strafe.
45. Man soll die Christen lehren, dass der, so seinen Nächsten stehet darben und dessen ungeachtet Ablass löset, der löset nicht des Papstes Ablass, sondern ladet auf sich Gottes Ungnade.
46. Man soll die Christen lehren, dass sie, wo sie nicht übrig reich sind, schuldig sind, was zur Notdurft gehört, für ihr Haus zu behalten, und mitnichten für Ablass zu verschwenden.
47. Man soll die Christen lehren, dass das Ablasslösen ein frei Ding sei und nicht geboten.
48. Man soll die Christen lehren, dass der Papst, wie er eines andächtigen Gebets mehr bedarf, also desselben mehr begehre, denn des Geldes, wenn er Ablass austeilt.
49. Man soll die Christen lehren, dass des Papstes Ablass gut sei, sofern man sein Vertrauen nicht darauf setzet, dagegen aber nichts Schändlicheres, denn so man dadurch Gottes Furcht verliert.
50. Man soll die Christen lehren, dass der Papst, so er wüsste der Ablassprediger Schinderei, lieber wollte, dass St. Peters Münster zu Pulver verbrannt würde, denn dass es sollte mit Haut, Fleisch und Bein seiner Schafe erbauet sein.
51. Die Christen sind zu belehren, dass der Papst müsse und wolle, selbst den Dom des heiligen Petrus verkaufen und das Geld den Leuten geben, von denen die Ablassprediger das Geld erpressen.
52. Durch Ablassbriefe vertrauen selig zu werden, ist nichtig und erlogen Ding, wenn gleich der Kommissarius, ja der Papst selbst seine Seele dafür zu Pfande wollte setzen.
53. Das sind Feinde Christi und des Papstes, die wegen der Ablasspredigt das Wort Gottes in andern Kirchen zu predigen ganz und gar verbieten.
54. Dem Worte Gottes geschieht Unrecht, wenn in einer Predigt dem Ablasse eben so viel oder mehr Zeit gewidmet wird, als jenem selbst.
55. Des Papstes Meinung ist durchaus die: wenn der Ablass mit einer Glocke und einem feierlichen Gepränge geehrt wird, man das hochheilige Evangelium mit hundert Glocken und hundert feierlichen Geprängen verehren müsse.
56. Die Schätze der Kirche, davon der Papst den Ablass austeilt, sind weder genugsam genannt, noch bekannt bei der Gemeine Christi.
57. Dass es nicht zeitliche sind, ist daher offenbar, weil viele Prediger diese nicht so leichtlich dahingeben, sondern vielmehr aufsammeln.
58. Es sind auch nicht die Verdienste Christi und der Heiligen, denn diese wirken allezeit, ohne des Papstes Zutun, Gnade des innerlichen Menschen, und Kreuz, Tod und Hölle des äußerlichen Menschen.
59. Der heilige Lorenz hat die Armen der Kirchen Schatz genannt, aber er hat das Wort nach der Bedeutung seiner Zeit gebraucht.
60. Wir sagen ohne Vorwitz, dass dieser Schatz seien die Schlüssel der Kirche, durch das Verdienst Christi geschenkt.
61. Denn es ist klar, dass zur Vergebung der Strafen und vorbehaltenen Fälle des Papstes Gewalt genug sei.
62. Der rechte wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.
63. Dieser Schatz ist aber billig der allerverhassteste, denn er macht, dass die Ersten die Letzten werden.
64. Aber der Ablassschatz ist billig der allerangenehmste, denn er macht aus den Letzten die Ersten.
65. Derhalben sind die Schätze des Evangelii Netze, in denen man vor Zeiten die Leute des Mammon fischte.
66. Die Schätze des Ablasses aber sind Netze, womit man in jetziger Zeit den Mammon der Leute fischt.
67. Der Ablass, den die Prediger für große Gnade ausrufen, ist freilich für große Gnade zu halten, insofern er großen Gewinnst trägt.
68. Und doch ist er die allergeringste, verglichen mit der Gnade Gottes und des Kreuzes Gottseligkeit.
69. Es sind die Bischöfe und Seelsorger schuldig, die Kommissarien des apostolischen Ablasses mit aller Ehrerbietung zuzulassen.
70. Aber vielmehr sind sie schuldig, mit Augen und Ohren aufzumerken, dass diese Kommissarien nicht statt päpstlichen Befehls eigene Träume predigen.
71. Wer wider die Wahrheit des apostolischen Ablasses redet, der sei Anathema und verflucht.
72. Wer aber wider des Ablasspredigers mutwillige und freche Worte Sorge trägt, der sei gebenedeiet.
73. Wie der Papst diejenigen billig mit Ungnade und Bann schlägt, die zu Nachteil des Ablassgeschäftes irgendwie betrüglich handeln:
74. so viel mehr trachtet er auf diejenigen Ungnade und Bann zu schütten, die unter dem Vorwande des Ablasses zum Nachteil der heiligen Liebe und Wahrheit handeln.
75. Des Papstes Ablass so hoch halten, dass er einen Menschen absolvieren könnte, wenn er gleich (unmöglicherweise zu reden) die Mutter Gottes geschwächt hätte, ist unsinnig.
76. Dagegen sagen wir, dass des Papstes Ablass nicht die allergeringste tägliche Sünde hinwegnehmen könne, so viel die Schuld derselben belanget.
77. Dass man sagt, St. Petrus, wenn er jetzt Papst wäre, vermöchte nicht größere Gnaden zu geben, ist eine Lästerung wider St. Petrum und den Papst.
78. Dawider sagen wir, dass auch dieser und jeder Papst größere Gnaden hat, nämlich das Evangelium, Kräfte, Gaben gesund zu machen u. s. w. wie 1. Corinth. 12.
79. Sagen, dass das Kreuz mit des Papstes Wappen herrlich aufgerichtet, so viel vermöge, als das Kreuz Christi, ist eine Gotteslästerung.
80. Die Bischöfe, Seelsorger und Theologen, die da gestatten, dass man solche Reden vors Volk bringen darf, werden Rechenschaft dafür geben müssen.
81. Solche unverschämte Predigt vom Ablass macht, dass es selbst den Gelehrten schwer wird, des Papstes Ehre und Würde gegen die Verleumdung oder doch vor den scharfen Fragen des gemeinen Mannes zu verteidigen.
82. Als nämlich: Warum entlediget der Papst nicht alle Seelen zugleich aus dem Fegfeuer um der allerheiligsten Liebe willen und von wegen der höchsten Not der Seelen, welches doch die allerwichtigste Ursache ist, da er doch unzählig viel Seelen um des elenden Geldes willen zum Bau von St. Peters Münster erlöset, welches doch die geringfügigste Ursache ist.
83. Desgleichen: Warum bleiben die Begängnisse und Jahrestage der Verstorbenen, und warum gibt er nicht die für Jene gemachten Stiftungen zurück, so es ja nunmehr unrecht ist, für die Erlösten zu beten.
84. Desgleichen: Was ist das für eine neue Heiligkeit Gottes und des Papstes, dass sie den Gottlosen und dem Feinde vergönnen, für Geld eine fromme und Gott wohlgefällige Seele zu erlösen und wollen sie doch nicht aus Liebe und umsonst erlösen?
85. Desgleichen: Warum werden die Bußvorschriften, die längst abgetan und tot sind, noch mit Gelde gelöset durch den Ablass, als wären sie noch vollgültig?
86. Desgleichen: Warum baut der Papst jetzt St. Peters Münster nicht lieber mit seinem eigenen Gelde, als mit dem Gelde der armen Christenheit, da er doch viel reicher ist, als weiland der reiche Crassus?
87. Desgleichen: Was erlässt oder teilt der Papst denn denen mit, welche durch vollkommene Reue schon zu einer vollständigen Vergebung und Ablass berechtigt sind?
88. Desgleichen: Was könnte der Kirche Besseres widerfahren, als wenn der Papst, wie er es nur einmal tut, hundert Mal am Tage, jedem Gläubigen Ablass schenkt?
89. Wenn der Papst der Seelen Seligkeit mehr durch Ablass, als durch Geld sucht; warum hebt er denn den früher verliehenen Ablass auf, so dieser doch gleich kräftig ist?
90. Diese sehr spitzigen Argumente der Laien allein mit Gewalt dämpfen und nicht durch angezeigten Grund und Ursach auflösen wollen, heißt die Kirche und den Papst den Feinden zum Spott und die Christen unselig machen.
91. Derhalben, so der Ablass nach des Papstes Sinn und Meinung gepredigt würde, wären diese Einreden leichtlich zu verantworten, ja sie wären nie vorgefallen.
92. Mögen daher alle die Propheten hinfahren, die da sagen zu der Gemeine Christi: Friede, Friede und ist doch kein Friede.
93. Den Propheten aber müsse es wohlgehen, die da sagen zu der Gemeine Christi: Kreuz, Kreuz und ist doch kein Kreuz.
94. Man soll die Christen ermahnen, dass sie Christo, ihrem Haupt, durch Kreuz, Tod und Hölle nachzufolgen sich befleißigen.
95. Und also mehr durch viel Trübsal, als durch falschen Frieden ins Himmelreich einzugehen sich getrösten.

Nach seiner eigenen Meinung hatte er das Dogma selbst im Ganzen als begründet, aber zugleich als sehr schwierig und näherer Erklärung bedürftig dargestellt; allein bei genauerer Untersuchung der Thesen müssen wir bekennen, dass ihm durch die Wichtigkeit, welche der Reue und inneren Buße, den Werken der Liebe und Barmherzigkeit, der Erfüllung bürgerlicher und Familienpflichten beigelegt ist, jede wesentliche Bedeutung entzogen wird. Von der Rechtfertigung durch den Glauben, seinem späteren Losungsworte, ist noch nicht die Rede, aber zu dieser Erkenntnis hatte er sich damals auch noch nicht durchgearbeitet. Sein Wissen und Wollen erscheint überall noch schwankend, nur dessen war er in sich gewiss, dass der Ablass, wie er von der Kirche ausgebeutet wurde, ein Verderben für die Christenheit sei.
Vom Erzbischof von Mainz erhielt er auf seine Zuschrift keine Antwort, vermutlich nur, weil derselbe nicht wusste, was er antworten sollte. Recht konnte er ihm nicht geben, weil er damit sich selbst würde verurteilt haben, und weil er auf die großen Vorteile, die er aus dem Ablassverkaufe zog, hätte verzichten müssen; und Unrecht mochte er ihm auch nicht geben, weil er dazu ein zu aufgeklärter, gebildeter und wohlwollender Fürst war. Von seinem unmittelbaren Oberen, dem Bischof Hieronymus Schulze von Brandenburg, der ihn zehn Jahre früher zum Priester geweiht hatte, erhielt er einen Brief, den ihm der Abt von Lehnin überbrachte, des Inhalts, dass er wohl Recht habe, dass er aber aus höheren Rücksichten die Sache nicht weiter verfolgen, sondern schweigen möge, wozu sich Luther auch bereit zeigte. Aber das stand nicht mehr in seiner Macht; denn der Schlag war gefallen, und welche Geister dadurch aus dem Schlummer geweckt und aufgeschreckt waren, wusste er selbst nicht; ja er konnte es nicht einmal ahnen. Die Streitsätze verbreiteten sich mit so reißender Schnelligkeit über Deutschland, dass ein Zeitgenosse sagen konnte, die Engel selbst wären Boten gelaufen. Das Aufsehen, das sie machten, überstieg jedes Maß, und alle Deutschen, die sich nicht in das Netz des römischen Glücksspiels verfangen und dadurch sich romanisiert und borniert hatten, seufzten oder jauchzten auf als über ein Zeichen, dass der Tag der Erlösung nahe. Die Römlinge dagegen erbebten, vor Allen Tetzel, der am unmittelbarsten durch den Schlag getroffen wurde. Er hoffte noch auf Rettung und Sieg. Dauerte die Dämmerung doch schon so lange, und der Tag war immer nicht angebrochen; sollte jetzt wirklich die Sonne aufgehen? Er ließ sich von einem Professor in Frankfurt a. d. O., einem äußerst gewandten scholastischen Theologen, Konrad Wimpina, 106 Theses aufsetzen, die in Allem das Gegenteil dessen, was Luther behauptet hatte, enthielten. Hierüber disputierte er daselbst am 20. Januar 1518, und wurde darauf zum Doktor der Theologie erhoben. Es half ihm wenig, seine Zeit war abgelaufen. Als ein Verkäufer mit den Tetzelschen Sätzen nach Wittenberg kam, nahmen ihm die Studenten 800 Exemplare, die er noch bei sich hatte, gewaltsam fort und verbrannten sie auf dem Marktplatz, was Luther selbst jedoch sehr missbilligte.

Im Frühling 1518 wurde Luthers Aufmerksamkeit zunächst auf einen andern Schauplatz hingewendet. Der Augustiner-Orden hatte einen Konvent aller deutschen Brüder zu einer Disputation nach Heidelberg ausgeschrieben, nnd obwohl ihm von seinen Freunden abgeraten wurde, dahin zu gehen, weil seine Gegner ihm den Tod geschworen und verkündet hätten, es würden nicht vier Wochen ins Land gehen, bis er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen seinen Frevel gebüßt hätte, so machte er sich dennoch im April zu Fuße auf und wanderte, mit Empfehlungsbriefen seines Kurfürsten an den Bischof von Würzburg und an den Pfalzgrafen des Rheins versehen, über Weißenfels, Koburg und Würzburg dahin. An manchen Orten fand er sehr feindschaftliche Aufnahme, so in Weißenfels, wo ein Wittenberger Theologe Pfarrherr war. In Judenbach traf er mit Pfeffinger, dem Rate seines Kurfürsten, zusammen, der für ihn und seinen Gefährten die Zeche bezahlte. In Koburg kam er am 15. April sehr ermüdet an, weil sich nirgends eine Fuhrgelegenheit geboten hatte, und am 18. in Würzburg, wo der Bischof sich ihm sehr entgegenkommend bewies. Am folgenden Morgen fuhr er mit den Ordensbrüdern, die er daselbst angetroffen, weiter. In Heidelberg nahm er seine Wohnung im Kloster, und am 26. April präsidierte er bei der Disputation. Er hatte 28 theologische und 12 philosophische Theses aufgesetzt und verteidigte sie mit großer Geschicklichkeit. Es waren nicht nur Mönche, sondern auch anderweitige Gelehrte, Studenten und selbst Hofleute und Bürger zugegen. Er bildete hier schon den Mittelpunkt der Versammlung und gewann sich durch sein Benehmen die Hochachtung und Zuneigung der meisten Anwesenden.

Auf den Kurfürsten von der Pfalz machte er durch seine Persönlichkeit einen günstigen Eindruck, und derselbe lud ihn nicht nur mit Staupitz und dem von ihm in Erfurt zum Prior eingesetzten Lange zur Tafel, sondern zeigte ihm auch alle Merkwürdigkeiten und Schönheiten seines Heidelberger Schlosses. Allgemein wurde an Luthers Art zu sprechen, Scharfsinn, Gewandtheit und Sanftmut gerühmt.

Ein Anwesender, Bueer, schreibt an einen Freund Beatus Rhenanus: „Luther hat Sätze behauptet, welche nicht bloß Aller Erwartung übertrafen, sondern auch meist ketzerisch schienen. Er besitzt eine bewundernswerte Annehmlichkeit im Antworten und große Geduld im Hören; im Auflösen der Einwürfe möchte man des Paulus, nicht des Scotus Scharfsinn an ihm erkennen, indem er durch so kurze, aus dem Schatz der heiligen Schrift entnommene Antworten Alle in Verwunderung gesetzt hat.“ Der Pfalzgraf schrieb an den Kurfürsten von Sachsen: „Luther hat sich mit seinem Disputieren also geschickt gehalten, dass er nicht ein klein Lob Ew. Liebden Universität gemacht hat: es wurde ihm auch großer Preis von vielen gelehrten Leuten nachgesagt.“

Die Rückreise machte er zu Wagen. Mit den Nürnberger Ordensbrüdern fuhr er bis Würzburg, dann mit den Erfurtern und schließlich mit denen von Eisleben, die ihn auf ihre Kosten auch noch bis Wittenberg befördern ließen, wo er am 13. Mai eintraf. Vermutlich hat er von Eisleben aus seine Eltern besucht, die er auch wohl zwei Jahre früher bei seiner ersten Visitationsreise schon gesprochen hatte. Die Erfolge des Heidelberger Tages waren für ihn selbst die bedeutendsten, denn er war damals gerade in rascher Entwicklung seiner reformatorischen Anschauungen begriffen, und indem er sich auszusprechen und zu verteidigen genötigt wurde, erleuchtete er nicht nur Andere, sondern vor Allem sich selbst. Viele Gegenstände, die sich bis dahin schwankend in seinen Gedanken bewegt hatten, klärten sich ihm auf und nahmen eine feste Gestalt an. Er war über die Natur des Ablasses jetzt schon viel besser unterrichtet als vor der Reise, was wir deutlich aus den Erläuterungen ersehen, die er nach seiner Rückkehr über seine 95 Streitsätze ausarbeitete und drucken ließ.

Zu der ersten Thesis, in der er fordert, dass die Buße eine ununterbrochene, eine lebenslängliche Sinnesänderung sein müsse, sagt er: „Nehmt einen andern Sinn und Verstand an, werdet wieder klug, gehet von eurem bisherigen Sinn und Geist ab, und nehmt eine andere Gestalt desselben an, dass ihr nämlich nunmehro himmlisch gesinnt werdet, die ihr bisher irdisch gesinnt waret, was der Apostel Römer 12. also sagt: Erneuert euch im Geiste eures Gemüts, welches Wiederklugwerden also geschieht, dass der Sünder in sich geht und seine Sünde hasst. Es ist aber keine Frage, dass dieses Wiederklugwerden oder dieser Hass gegen sich selbst im ganzen Leben geschehen soll, nach dem Spruche: Wer sein Leben hasset in dieser Welt, der bewahret es in das ewige Leben. Und wiederum: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert. Und ebendaselbst: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Und Matth. 5: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Zum Andern beweise ich diesen Satz auch mit einem Vernunftgrunde. Weil Christus ein Meister des Geistes ist und nicht des Buchstabens und seine Worte Geist und Leben sind, deswegen ist es nötig, dass er eine solche Buße lehre, die im Geist und in der Wahrheit geschieht, nicht aber eine solche, welche von außen auch die allerhoffährtigsten Heuchler tun können, die bei ihren Fasten ihre Gesichter verstellen, an den Ecken der Gassen beten und vor sich herposaunen lassen, wenn sie Almosen austeilen. Eine solche Buße, sage ich, muss Christus lehren, die man bei allen Lebensarten tun kann, die der König in seinem Purpur, der Priester in seinem Schmuck, der Fürst in seiner Würde nicht weniger tun kann, als der Mönch oder der Bettler in seinen Zeremonien und Armut, gleichwie Daniel und seine Gesellen mitten in Babylon getan haben. Denn Christi Lehre muss sich für alle Menschen, das ist für Menschen von allerlei Stande, schicken. Zum Dritten beten wir und müssen beten in unserem ganzen Leben: Erlass uns unsere Schuld; folglich tun wir in unserem ganzen Leben Buße und missfallen uns selbst, es wäre denn, dass Jemand so töricht wäre, dass er dafür hielte, er müsse nur zum Schein um Vergebung seiner Schulden bitten; denn die Schulden, für welche uns zu bitten befohlen wird, sind wahrhafte und nicht geringe Schulden. Und ob sie auch gleich erlässlich sind, so können wir doch nicht selig werden, wo sie uns nicht vergeben werden u. s. w.“

Nach der Ausdrucksweise unserer Zeit spricht Spitta in einem geistlichen Liede den Gedanken einer lebendigen Buße so aus:

      „Kehre wieder, endlich kehre
      In der Liebe Heimat ein:
      In die Fülle aus der Leere,
      In das Wesen aus dem Schein,
      Aus dem Dunkel in die Klarheit,
      Aus der Lüg in die Wahrheit,
      Aus dem Tode in das Leben,
      Aus der Welt ins Himmelreich:
      Doch was Gott will heute geben,
      Nimm auch heute, kehre gleich!“

Einen Fortschritt in der Erkenntnis Luthers finden wir besonders darin, dass er Sätze, wie: Der Papst habe die Macht nicht, die geringste, tägliche Sünde, was die Schuld anbelange, wegzunehmen; der Glaube, durch Ablassbriefe die Seligkeit zu erwerben, sei ein erlogen Ding; jeder Christ, der über seine Sünden wahres, reuevolles Leid trägt, habe die Vergebung auch ohne Ablassbriefe; jeder Geistliche habe die gleiche Gewalt über das Fegefeuer wie der Papst; dass er solche Sätze nicht bloß auseinandersetzt, sondern ihnen auch dadurch, dass er sie mit zahlreichen Bibelstellen belegt, den Charakter streitiger Thesen nimmt, und ihnen mehr oder weniger das Gepräge wohlbegründeter und zum Teil bewiesener Behauptungen aufdrückt. Jeder Schlag erzeugt einen Rückschlag, jede Aktion eine Reaktion, jeder Rausch einen Beweis menschlicher Hinfälligkeit, jede plötzlich erregte Begeisterung einen Zustand der Ermattung und Gedrücktheit. Luthers öffentliches Hervortreten gegen die Missbräuche des Ablasses hatte bei allen fromm und deutsch gesinnten Deutschen Freude und Hoffnung oder wenigstens liebevolle Teilnahme erweckt. Man hatte die Begründung des Angriffes und die Wahrheit, die in den Luther'schen Thesen lag, gefühlt und anerkannt, und damit begnügte man sich vorläufig; an Fortgang und Ende des Streites dachte man zunächst nicht. Der Kaiser Maximilian, nachdem er die Streitsätze gelesen, sagte zu dem kursächsischen Rate Pfeffinger: „Was macht euer Mönch? Wahrlich! seine Thesen sind nicht zu verachten. Er wird ein Spiel mit den Pfaffen anfangen.“ Er ließ auch dem Kurfürsten sagen: „Er solle den Mönch fleißig bewahren; es möchte sich zutragen, dass man seiner bedürfe.“ Ein frommer Mönch, Doktor Fleck zu Steinlausig, rief, als er die Sätze in dem Rempter seines Klosters angeschlagen fand: „Ho! ho! der wird's tun, er kommt, auf den wir lange gewartet haben!“ Darauf schrieb er auch an Luther und ermahnte ihn, er solle getrost fortfahren, denn er fei auf dem rechten Wege. Gott und aller Gefangenen Gebet in dem römischen Babylon werde mit ihm sein. — „Viele Andere“, sagt ein Zeitgenosse, „so sich in den Klöstern mit Beten und Fasten schier zu Tode gemartert hatten, dankten dem lieben Gott, dass sie den Schwan, wovon Magister Johann Huß geweissagt, singen hörten.“ — Ein Humanist in Münster rief: „Jetzt kommt die Zeit, da die Finsternisse aus den Kirchen und Schulen werden ausgerottet werden, und die reine Lehre in die Kirchen, die reine lateinische Sprache in die Schulen wieder einkehren wird. Beistimmend aber bedenklich sprach ein gelehrter Domherr in Hamburg, der auf seinem Sterbelager die Sätze las: „Gehe nur in deine Zelle, mein guter Bruder, und bete: Herr erbarme dich mein“; und ein Andrer zu Höxter in Westfalen sagte: „Min leewe Broder Marten, wenn du dat Fegeführ und Papenmarketenterei störmen und wegschludern kannst, bist du vorwahr ein groter Herr!“

Dagegen heißt es: „Was aber um des Bauches, guter Tage und um Ehre und Ansehens willen ins Kloster gelaufen und geistlich geworden war, und römischen Charakter und Malzeichen trug, fing an auf Luther zu schelten und wider ihn zu schreiben.“ Diese Partei, die anfänglich betäubt, sich zurückhielt, sammelte sich bald wieder, erhob keck das Haupt und schüchterte diejenigen ihrer Gegner ein, die, nicht wie Luther vom heiligen Geist getrieben, unaufhaltsam und tatkräftig vorwärts zu schreiten sich gedrungen fühlten. Man muss auch gestehen, dass sie Vieles zur Begründung ihrer Anschauungsweise anzuführen hatten. Ein einzelner, im Ganzen wenig bekannter Augustinermönch unterfing sich gegen die ausdrücklichen Anordnungen des Papstes, vor deren Macht die Bestrebungen der größten Monarchen zu Schanden geworden waren, und des Erzbischofs von Mainz, des Primas von Deutschland, Ungehorsam und Empörung zu predigen, wankend zu machen und umzustürzen, was seit Jahrhunderten als Gebot der von Gott eingesetzten geistlichen und weltlichen Obrigkeit gegolten hatte. Diese Anhänger des römischen Systems waren nicht etwa bloß böswillige Menschen, sondern sie waren nur, wie Tetzel selbst, sittlich gemeine Seelen, die Luther auf seinem rein menschlichen oder rein göttlichen Standpunkte gar nicht begriffen und ihm daher auch nur eigensüchtige Beweggründe, wie Ordensneid, Hochmut, Ehrgeiz und dergleichen als Triebfedern seiner Handlungsweise zutrauen konnten. Dabei überkam sie die Ahnung und das Gefühl, dass es sich hier um Großes, um Sein oder Nichtsein handle, dass der Augustiner um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden müsse, wenn ihre eigne, bequeme Existenz, ihre Macht und ihr Ansehen nicht aufs Spiel gesetzt werden solle. Deshalb setzten sie alle Kräfte in Bewegung, häuften Drohung auf Drohung, und beschmutzten alle Anhänger Luthers mit den niedrigsten Anklagen und Verdächtigungen. Dieselben galten ihnen als abtrünnige, ketzerische, frevelhafte, verstockte und aufrührerische Menschen.

Luther, der so demütig war, so rücksichtsvoll und besonnen vorschritt, der mit ängstlicher Pietät Alles vermied, was den Papst und die römische Kirche verletzen zu können schien, zagte nicht vor seinen Feinden; aber seine Freunde machten ihm manche kummervolle Stunde. Staupitz, an dem er sich emporgerungen hatte, war von ihm überholt, und Beide gingen nicht mehr Hand in Hand. Jetzt war es an Luther, den früheren Lehrer an sich emporzuheben, der früher ihn getragen hatte. Der Prior und die Brüder seines Klosters kamen voll Furcht zu ihm und baten ihn: er solle den Orden nicht in Schande führen, denn die andern Orden hüpften schon vor Freuden, sonderlich die Predigermönche, dass sie nicht allein in Schanden steckten; die Augustiner müssten nun auch brennen und Schandträger sein. Luther antwortete ihnen mit einer Wahrheit, die ihm selbst der größte Trost war: „Lieben Väter! ist's nicht in Gottes Namen angefangen, so ist's bald gefallen; ist's aber in seinem Namen angefangen, so lasset Denselbigen machen.“ In ähnlicher Weise tröstete er die Erfurter Brüder: „Warum ist Christus samt allen Märtyrern getötet, warum haben die Lehrer Hass erdulden müssen, als darum, weil sie stolz und Verächter der alten berühmten Weisheit schienen, oder weil sie neue Dinge vorbrachten, ohne den Beirat Derer, die in alten (Dingen) weise waren? Darum sollen sie die Demut, das ist, die Heuchelei, nicht von mir erwarten, dass ich ihrem Rat und Schluss unterwerfe, was ich ausgebe. Was ich tue, soll geschehen nicht durch Menschen Fleiß und Rat, sondern Gottes. Ist es aus Gott, wer will es dann wehren? Ist's nicht aus Gott, wer will es fördern? Nicht mein, nicht ihr, nicht unser — Dein Wille geschehe, heiliger Vater, der Du bist im Himmel, Amen!“

Auch die Wittenberger Professoren standen nicht alle auf seiner Seite. Doktor Bodenstein trat ihm erst später völlig bei, denn damals behauptete er noch, dass der Ablass ein Mandat des Papstes sei, während Luther ihn nur als ein Privilegium gelten ließ. Sein Freund Schurf sagte zu ihm: „Wollt ihr wider den Papst schreiben? Was wollt ihr machen? Man wirds nicht leiden!“ worauf Luther erwiderte: „Wie, wenn mans leiden müsste?“ — In welchen inneren Kämpfen Luther diese Zeit hinbrachte, schildert er selbst später in folgender Art: „Was und auf welche Weise mein Herz in den beiden ersten Jahren gelitten und ausgestanden, und in welcher Demut, ich möchte schier sagen, in welcher Verzweiflung ich da schwebte, ach, davon wissen die sichern Geister wenig, die hernach des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angriffen, wiewohl sie mit all ihrer Kunst dem Papst auch nicht ein Härlein zu krümmen vermochten, wenn nicht Christus durch mich, sein schwaches und unwürdiges Werkzeug, ihm bereits eine unüberwindliche Wunde geschlagen hätte.“ Luther sandte jetzt die Erklärungen zu seinen Streitsätzen über den Ablass an seinen Kurfürsten, an den Bischof von Brandenburg und an den Papst Leo X. In einem Briefe an den letzteren heißt es, er habe diese Erläuterung unter seinem Namen ausgehen lassen, damit Jedermann erkenne, wie aufrichtig er die Kirchengewalt und das Ansehen der Schlüssel verehre, und wie ungerecht und fälschlich seine Widersacher ihn auf alle Weise schändeten. Dann schließt er: „Darum, allerheiligster Vater, lege ich mich zu Deinen Füßen mit Allem, was ich bin und habe. Du magst nun lebendig machen oder tödten, mir zu- oder absagen, gutheißen oder verwerfen, wie Du willst, so will ich Deine Stimme als die Stimme Christi, deß Statthalter Du bist, und der durch Dich redet, anerkennen. Wenn ich den Tod verdient habe, so weigere ich mich nicht zu sterben, denn die Erde ist des Herrn und was darinnen ist. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“

Wie ernst er es mit diesen Worten meinte, sieht man aus einem Brief an Staupitz aus dieser Zeit, in welchem es heißt, er erwarte Christi Urteil im Urteil der römischen Kirche, und fügt dann hinzu: „Im Übrigen habe ich den Drohungen meiner Feinde nichts entgegenzuhalten als jenes Wort Reuchlins: „Wer arm ist, fürchtet nichts, kann nichts verlieren.“ Güter habe ich nicht; Ruhm und Ehre, wenn ich sie anders gehabt habe, die verliert der ohn Unterlass, der sie einmal zu verlieren angefangen hat. Eins bleibt mir noch übrig, der schwache und von stetem Ungemach ermattete Leib. Wenn sie mir den mit Gewalt oder List nehmen, weil sie meinen, sie tun Gott einen Dienst damit, so machen sie mich vielleicht um eine oder zwei Stunden meines Lebens ärmer. Ich habe an meinem süßen Erlöser und Mittler, meinem Herrn Jesus Christus genug. Ihm will ich singen, so lange ich lebe. Will aber Jemand nicht mit mir singen, was gehet es mich an? so mag er denn für sich allein heulen.“

Außer den schon erwähnten Angriffen Tetzels gegen ihn erschienen im Jahre 1518 noch drei Schriften von wenigstens äußerer Bedeutung, die er beantwortete. Die erste war von dem Kardinal Sylvester Mazolini (Prierias), welcher behauptete, dass Jeder, der nicht bei der Lehre der römischen Kirche und des Papstes verbliebe, als bei einer untrüglichen Regel des Glaubens, von welcher auch die heilige Schrift ihre Kraft und ihr Ansehen empfange, ein Ketzer sei, und dass, was durch die Kirche festgestellt sei, durch Gewohnheit die Kraft des Gesetzes erhalte. Die Behauptungen in Betreff der Machtvollkommenheit und Untrüglichkeit des Papstes waren so ausschweifend, dass Luther und seine Freunde annahmen, es sei die Schrift das Pseudonyme Machwerk eines Feindes Sylvesters, der damit verhöhnt werden solle. Erst sechs Monate später, als er über die Echtheit aufgeklärt wurde, schrieb er in zwei Tagen eine kurze, zurückweisende Antwort. Die zweite Schrift gegen die Thesen war von dem Dominikanerprior Jakob von Hogstraten in Köln, der die Fehde mit Reuchlin gehabt hatte. Er begriff natürlich Luthers Standpunkt gar nicht und forderte vom Papst kurzweg, er solle den Ketzer verbrennen lassen. Luther erwiderte nur mit einem fliegenden Blatte, in welchem der Ketzermeister sehr grob und rücksichtslos abgefertigt wurde. Die dritte Schrift war von dem Dr. Eck, Kanzler der Universität Ingolstadt, einem sehr gelehrten und gewandten Scholastiker, der ihn einen giftigen, ketzerischen, aufrührerischen und tollen Menschen nannte, ihm Verachtung des Papstes vorwarf, und behauptete, dass er böhmisches Gift ausgieße. Luther erwiderte unter Zurückweisung der scholastischen Spitzfindigkeiten, dass er kein Ketzer sei, denn dazu mache nur das hartnäckige Beharren bei einem Irrtum in Glaubenssachen; er aber behaupte gar nicht, sondern disputiere nur. Vor dem Papst hege er Ehrfurcht, aber die Schmeichler gingen damit um, durch ihre Lügen des Papstes Majestät zu schänden. Der Papst sei ein Mensch, er könne sich täuschen lassen, besonders von so verschlagenen und heuchlerischen Leuten; aber Gott sei die Wahrheit und lasse sich nicht täuschen. Sei es ihm um den Sieg zu tun, so möge er ihn durch gründliche Aussprüche der Schrift und des Papstes belehren.

Diese Schriften hatten nicht den Erfolg, Luthern zum Widerruf zu bewegen, was bei einem Manne, der seine Sache ganz auf Gott gestellt hatte, unmöglich war, sondern konnten ihn nur nötigen, über die Natur des Papsttums und der römischen Kirche immer tiefer nachzudenken und seinen Behauptungen eine weitere Ausdehnung zu geben.

Obwohl Luther durch seine Vorlesungen an der Universität, durch Predigten, öffentliche Streitschriften, Ordensgeschäfte und einen ausgedehnten Briefwechsel sehr beschäftigt war, so behielt er doch noch Zeit, für den Unterricht und die Belehrung der großen Masse des Volkes tätig zu sein. Er wollte, wie er sagte, nicht nur den Gelehrten, sondern Jedermann nützlich sein, und deshalb schrieb er Erläuterungen und Umschreibungen des Vaterunsers, der zehn Gebote und einiger Psalmen, die zunächst nur für Wittenberg bestimmt waren, sich durch die Presse aber bald über ganz Deutschland ausbreiteten und ihm und dem Evangelium täglich mehr Anhänger gewannen. Sie sind reich an schönen Gedanken und christlichen Wahrheiten und enthalten viel sprechendere Beweise seines tief religiösen Sinnes und einer echten Frömmigkeit, als seine Streitschriften.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben