Äußere Umgestaltung der Kirche. 1522 — 1525.

Nichts wiederholt sich im Leben, und, es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Das sind Gegensätze, wie es deren hunderte gibt, die sich widersprechen, und von denen doch jeder eine Wahrheit enthält. Nichts wiederholt sich in derselben Form und Weise, sondern jedes Entstehende erscheint als Neues; aber der Geist, das Wesen ist in veränderter Gestalt das schon oft dagewesene Alte. Die Menschen, um derentwillen die Welt und alle Einrichtungen in derselben da sind, nehmen in jedem Zeitalter andere Anschauungsweisen an und andere Standpunkte ein, und deshalb machen sie auch andere Anforderungen an die sie umgebenden Verhältnisse und Gegenstände. Es muss also eine ununterbrochene Umgestaltung in Bezug auf das Äußere stattfinden, wenn die Menschen sich in ihren Zuständen befriedigt fühlen sollen. Wird aber eine Gestaltung, wie sie früher einmal aus lebendigem Bedürfnisse hervorgegangen ist, absichtlich festgehalten, weil sie einer Klasse der menschlichen Gesellschaft zum Vorteile gereicht, so muss später einmal eine plötzliche Veränderung eintreten, und diese wird, weil sie eben eine plötzliche ist, auch eine gewaltsame sein. Gewaltsame Umgestaltungen sind daher immer die Schuld derer, welche an der Spitze der Angelegenheiten stehen, und aus eigensüchtigen Gründen die allmähliche Umformung verhindert haben.

Die Kirche kann, was alte Gebräuche und Zeremonien betrifft, mehr ertragen als rein weltliche Einrichtungen; ja eine gewisse Altertümlichkeit ist denselben sogar förderlich, jenes Dunkel, das ihren Ursprung verbirgt, und sie der großen Menge als von jeher bestanden erscheinen lässt. Dennoch treten auch auf diesem Gebiete Entwicklungsstufen ein, welche eine Erneuerung in den Formen und Gebräuchen notwendig machen, und welche, wenn die herrschende Partei sie mit Gewalt und List lange zurückhält, endlich zu einem gewalttätigen Ausbruche führt. Es gibt nur ein einziges Mittel in solchem Falle, die Empörung der Masse zu verhindern, und dieses einzige Mittel besteht darin, die Forderungen der Zeit mit selbstloser Hingebung in den Willen Gottes zu erwägen und diesem zu folgen. Dies Mittel steht uns aber nicht leicht zur Verfügung; denn es gehört schon eine große, allgemeine Erfahrung und Erkenntnis in dem Verkehre mit Gott; es gehört ein sehr lebendiger Glaube an die Existenz Gottes im Menschen dazu, um in jedem einzelnen Falle sich des göttlichen Willens bewusst zu werden. Luther hatte diese Erfahrung und diesen Glauben, und er war daher allein der Mann, den Geist des Aufruhrs in Wittenberg zu beschwören.


Andreas Bodenstein aus Carlstadt, ein Gelehrter, der nicht ohne Sinn und Eifer für die Wahrheit, aber von nur mittelmäßiger Befähigung zur Erfassung derselben war, wurde von den ungeheuren Erfolgen, die Luthers Bestrebungen hatten, und von dem Ruhme, der seinen Namen durch die Welt trug, in Schwindel und Schwärmerei versetzt, und er wähnte Ähnliches erreichen, ja dem großen Reformator wohl noch den Vorsprung abgewinnen zu können. Wie Luther es mit der Wiedergeburt des christlichen Geistes in Deutschland versucht hatte, so wollte er es mit einer Umgestaltung der äußeren Kirche versuchen. Er verheiratete sich in auffallender Weise, was seit 1518 schon mehrere Geistliche getan hatten, und lud dazu, wie zu einer öffentlichen Feierlichkeit, durch eine Druckschrift ein. Er erklärte Wissenschaft und Gelehrsamkeit für überflüssige Dinge, riet den Studierenden, an den Pflug und
in die Werkstätte zu gehen, und ließ sich später selbst nicht mehr Doktor, sondern Nachbar Andreas nennen. Er hielt am Weihnachtstage 1521 eine begeisterte Predigt über die Notwendigkeit, Änderungen in der bisherigen Weise des Gottesdienstes vorzunehmen und teilte danach ohne vorhergegangene Beichte das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus.
Hiernach glaubte die Menge zu jedem Umsturze berechtigt zu sein, man zerbrach die Messaltäre, die Bilder der Heiligen, die Beichtstühle und Kruzifixe. Acht Tage später, am Neujahrstage, ging es ebenso stürmisch her, und da sich nun unglücklicher Weise noch einige Schwärmer einfanden, die aus ihrer Heimat Zwickau wegen sträflichen Auflehnens gegen alle bestehende Ordnung vertrieben worden waren, so war bald ganz Wittenberg in Gärung. Wer am Freitage nicht Fleisch aß, oder wer sonst an einem alten kirchlichen Gebrauche festhielt, wurde für einen Feind der Wahrheit gehalten. Die Kindertaufe sollte abgeschafft werden, weil sie nicht in der Bibel geboten sei, und als menschliche Satzung gefasst werden müsse. Bodenstein und die Zwickauer Propheten gewannen immer mehr Einfluss, und schon wurden viele Studierende von Wittenberg abgerufen. Da erschien Luther am 7. März 1522 und machte dem wüsten Treiben ein Ende. Zunächst wurden die Zwickauer aus der Stadt gewiesen, Bodenstein ward das Predigen untersagt, da er nicht Pfarrer einer bestimmten Gemeinde war, und eine Schrift von ihm, die sich unter der Presse befand, auszugeben verboten. Sonntag, den 9. März, und jeden Tag der darauf folgenden Woche bestieg Luther die Kanzel und predigte so klar und feurig über die vorgefallenen Ungehörigkeiten und über den Mangel an wahrem Glauben, der sich in ihnen kundgebe, dass alle Zuhörer dadurch auf den Weg der Mäßigung und Liebe zurckgeführt wurden. Er sagte, dass das Reich Gottes nicht auf äußerlichen Dingen stehe, sondern auf dem Geiste und der Kraft. Man müsse das Notwendige von dem Gleichgültigen unterscheiden, und dazu müsse man vor Allem eine brünstige Liebe haben. Man könne Fleisch essen und es lassen, Bilder in der Kirche aufhängen und nicht, wenn man sie nur nicht anbete; beichten und nicht beichten und vieles Andere; aber die Liebe müsse verhindern, dasselbe von seinem Nebenmenschen zu fordern, wenn dieser es nicht freiwillig tun wolle. In der zweiten Predigt sagte er, er sei mit den Neuerern darin einig, dass die Privatmessen abgetan werden müssten; aber man solle Niemand mit Haaren davon reißen, sondern man solle es Gott anheim geben und sein Wort allein wirken lassen, ohne unser Zutun und Werke. Denn weil man den Glauben nicht könne ins Herz gießen, so könne und solle auch Niemand dazu gezwungen und gedrungen werden. Man müsse zuerst der Leute Herz fahen, welches geschehe, wenn man Gottes Wort treibe, das Evangelium verkündige, ihnen ihren Irrtum sage. Wenn man das täte, so fiele heute Dem das Wort ins Herz, morgen einem Andern, und es wirke so Gott mit seinem Wort mehr, denn die ganze Welt mit all ihrer Gewalt. Mit Stürmen und Gewalt würden sie es nicht hinausführen, und wenn sie dabei wollten verharren, so wolle er nicht bei ihnen stehen. Die Liebe erfordere Mitleiden zu haben mit den Schwachen, bis auch sie im Glauben zunähmen und stark würden. So hätten die Apostel getan; so wolle auch er tun. „Ich bin“, fuhr er fort, „dem Papste, dem Ablass und allen Papisten entgegengestanden, aber mit keiner Gewalt, mit keinem Frevel, mit keinen Stürmen: sondern Gottes Wort hab' ich allein getrieben, geprediget und geschrieben, sonst habe ich gar nichts darzu getan. Dasselbe Wort, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philippo und Amtsdorf getrunken habe, oder bin guter Dinge gewesen, hat so viel zu Wege gebracht, dass das Papsttum so schwach und ohnmächtig worden ist, dass ihm noch kein Fürst und Kaiser so viel hat können abbrechen. Ich habe es nicht getan; das einige Wort, von mir gepredigt und geschrieben, hat Solches alles ausgericht und gehandelt. Wenn ich auch hätte mit Gewalt und Ungemach hierin gefahren, ich sollte wohl ein solches Spiel angefangen haben, dass Deutschland wäre dadurch in groß Blutvergießen kommen. Aber was wäre es? Ein Narrenspiel wäre es gewesen und ein Verderbnis an Leib und Seele. Ich bin stille gesessen und habe das Wort lassen handeln.“

Luther zeigt sich gerade in diesen Predigten recht als der Erneuerer einer wahrhaft christlichen oder evangelischen Anschauungsweise. In der päpstlichen Lehre von der Werkheiligkeit und in dem kirchlichen Mechanismus des Mittelalters war das Bewusstsein, dass der Mensch zu seiner Beseligung der Einigkeit mit Gott bedürfe, dass die Gnade und die Liebe Gottes ein in ihm lebendig waltender Zustand sein müsse, wenn er sich in seinem Gemüt befriedigt fühlen solle, gänzlich abhanden gekommen. Es gab keine Sünde mehr, sondern nur noch Sünden, und diese waren zum Behuf der Übersicht bei der Beichte genau geordnet und in Reihe und Glied gestellt. Man sollte bedenken, was man gesündigt habe: 1) mit Tun und Lassen; 2) mit Herzen, mit Worten, mit Werken; 3) mit den fünf Sinnen; 4) in den sechs Werken der Barmherzigkeit; 5) wider die sieben Sakramente; 6) mit den sieben Todsünden; 7) wider die sieben Gaben des heiligen Geistes; 8) wider die acht Seligkeiten; 9) mit den neun fremden Sünden; 10) wider die zehn Gebote; 11) wider die zwölf Artikel des Glaubens; 12) wider die zwölf Früchte des heiligen Geistes. Außerdem habe man sich zu fragen, ob man gesündigt wider die vier Haupttugenden und wider die drei theologischen Tugenden, mit den stummen Sünden, desgleichen mit den Sünden, die gen Himmel schreien und endlich mit der Sünde wider den heiligen Geist.

Abgesehen von der Ununterscheidbarkeit dieser verschiedenen Gattungen der Sünden nimmt ein solches Verfahren dem Menschen das Gefühl und Bewusstsein der Selbstständigkeit und Ursprünglichkeit; es macht ihn zum Knecht. Von der alleinigen Sünde, der Entfremdung von Gott, wodurch die Gnade und Liebe Gottes verloren geht, und wodurch alle Gedanken, Worte und Werke erst Sünden werden, ist dabei keine Rede, Luthers Umgestaltung der Lehre bezieht sich hauptsächlich auf diesen Punkt, und in dem Bildersturm und der Zerstörung alter Gebräuche erkannte er bald die römische Vorstellung von der Bedeutung der Werke, und sein Bestreben in seinen Predigten musste also dahin gehen, in seinen Zuhörern das Bewusstsein zu wecken, dass die Gegenwärtigkeit Gottes in ihnen oder die Einigkeit mit Gott allein die Sünde verhindern könne, und dass der lebendige Glaube und die Liebe Gottes dann schon von selbst und allmählich die Ungehörigkeiten im Dienste Gottes ausscheiden werde, welche dem Zustande ihres Glaubens nicht mehr entsprechend wären. Wer aus Gott geboren ist und in Gott bleibt, der sündigt nicht (1. Ep. Joh. Cap. 3), das war der Kernpunkt von Luthers Predigten.

Große Freude erhob sich bei Gelehrten und Ungelehrten über diese Wirksamkeit des Reformators, und Dr. Schurff schrieb an den Kurfürsten: „er weiset uns arme, verführte und geärgerte Menschen dadurch täglich, vermittelst göttlicher Hilfe, wiederum auf den Weg der Wahrheit, mit unwiderfechtlichen Anzeigen unsers Irrtums, darin wir von den eingedrungenen Predigern jämmerlich geführet, also dass augenscheinlich und am Tage, dass der Geist Gottes in ihm ist und durch ihn wirket. Und bin ungezweifelt, dass aus sonderlicher Schickung des Allmächtigen er auf diese Zeit gen Wittenberg kommen.“

Im Ganzen konnte sich Luther der Sorge für die äußere Umgestaltung des Gottesdienstes nicht mehr entziehen, doch verfuhr er dabei mit der möglichsten Schonung der bestehenden Verhältnisse. Die Mönchsgelübde hatte er verworfen, aber er billigte deshalb keineswegs unbedingt das Ausscheiden der Mönche und Nonnen aus den Klöstern. Von einer Anwendung des Zwanges wollte er vollends dabei nichts wissen. „Viele Mönche“, sagte er, „sind um des Bauches und der fleischlichen Freiheit willen ins Kloster gelaufen, und deshalb laufen sie auch wieder heraus.“ In Wittenberg hatten alle Augustiner das Kloster verlassen, aber er selbst und der Prior blieben darin. Überhaupt forderte er, dass die Türen offenstehen, aber Niemand weder zum Bleiben noch zum Gehen genötigt werden solle. In ähnlicher Weise traf er Bestimmungen rücksichtlich der Verehrung der Heiligen, der Messe, die nur nicht als Opfer angesehen werden sollte, der Beichte und aller andern Gebräuche und Zeremonien, die aus dem Papsttum her bestanden. Aber auch diese Bestimmungen sollen nicht bindend sein, sondern überall die Freiheit des Gewissens, der lebendige Glaube, der Gott im Menschen gewahrt bleiben. „Ich predige nicht Luther“, schreibt er an den Ritter Hartmuth von Kronberg, „sondern Christum, denn ich kenne selbst auch nicht den Luther, will ihn auch nicht kennen, ich predige auch nichts von ihm, sondern von Christo. Der Teufel mag ihn holen, wenn er kann.“

Die größte Aufmerksamkeit wandte er in Schriften und Worten besonders auf seinen Visitationsreisen dem Unterrichte der Jugend und den Schulen zu. Wer die Jugend für sich hat, hat die Zukunft. Von den Alten, die in der päpstlichen Anschauungsweise groß geworden, war wenig zu erwarten. Unbemerklich, wie durch ein Zauberspiel, wandten sie das vom Geist Geborne, die evangelische Wahrheit, immer wieder zu einem Außenwerke um und waren und blieben so in der römischen Vorstellung befangen. Mit der Jugend konnte und musste es anders werden, denn sie empfing die neue Lehre in einem Alter, in welchem das Gemüt noch weich ist wie Wachs, und die Eindrücke sich tief fürs ganze Leben einprägen. Wir wissen, welche hohe Meinung er von der Musik und dem Gesang hatte, und darum wollte er außer der Predigt, welche immer den Kern des Gottesdienstes bilden sollte, vorzüglich den Gesang ausgebildet und geübt haben. Er sorgte schon 1524 für die Herausgabe eines kleinen Gesangbuches, zu dessen Liedern er selbst einige Melodien komponiert hatte. Er dichtete selbst auch mehrere Gesänge, die von hoher Glaubenskraft und Begeisterung zeugen, vor Allem das bekannte „Ein feste Burg ist unser Gott“, durch das noch jetzt Tausende erhoben und erbaut werden. Diese Kirchenlieder haben auch außerordentlich viel dazu beigetragen, die Lehre Luthers oder vielmehr die von ihm neu entdeckte Lehre des Heilands durch Deutschland auszubreiten. Sehr häufig waren es wandernde Handwerksburschen oder sonst Reisende, die durch das Absingen solcher Lieder in Städten und Dörfern plötzlich eine Macht des Geistes und einen Umschwung der Gesinnung erweckten, dass sofort eine Lossagung vom Papsttume und eine Hinwendung zum reinen Lichte des Evangeliums erfolgte.

Unter den Schriften, die Luther zum Behuf der Umgestaltung des Cultus in diesen Jahren erscheinen ließ, gehören: „Weise, christliche Messe zu halten“, oder „zum Abendmahle zu gehen“, „Eine kurze Anweisung zur Ordnung des Gottesdienstes in der Gemeine“ und das „Taufbüchlein“, in welchem er alle dabei zu brauchenden Reden und Worte aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte, damit die Taufzeugen und sonstigen Zuhörer auch verstünden, um was es sich handle. Die alten Formeln lässt er vorläufig noch bestehen, sagte aber, dass die äußerlichen Stücke als: das unter die Augen blasen, Kreuz anstreichen, Salz in den Mund geben, Speichel und Kot in die Ohren und Nasen tun, Brust und Schultern mit Öl salben, mit Chrysam die Scheitel bestreichen, Westerhemde anziehen, brennende Kerzen in die Hände geben, und was das mehr ist, das von Menschen, die Taufe zu zieren, hinzugetan ist, das Geringste sei. Ebenso wünscht er beim Abendmahl den Gebrauch der deutschen Sprache und die Austeilung des Brotes und Weines, doch stellt er es zunächst noch in das Belieben des Communicanten, ob er den Leib des Herrn in einer oder beiden Gestalten empfangen wolle. Gegen Ende dieses Zeitabschnittes wurde er in seinen Forderungen aber schon entschiedener, weil er sah, dass die Gemeinde denselben entgegen kam.

Von Wittenberg aus verbreitete sich die Lehre sowohl wie die Gebräuche beim Gottesdienste mit großer Schnelligkeit fast über alle Gegenden des deutschen Reiches. An vielen Orten nahmen die Fürsten und städtischen Obrigkeiten das Werk der Reformation in die Hand, und die Untertanen folgten mit Bereitwilligkeit. In andern Landschaften, namentlich in den Erbstaaten des Kaisers und in den Ländern, die unmittelbar unter geistlicher Herrschaft standen, schritt das Werk langsamer vor oder wurde ganz verhindert. Bischöfe, Äbte, Pröpste, Stiftsherrn, reiche Pfarrer und Alle, die bei der Umgestaltung große Einnahmen zu verlieren fürchteten, waren gegen jede Änderung und klammerten sich mit selbstsüchtiger Ängstlichkeit an den Papst und den Kaiser. Indessen hatte sich seit dem ersten Auftreten Luthers die Gesinnung im Ganzen doch schon sehr geändert, und der sächsische Gesandte durfte es auf dem Reichstage wagen, zu behaupten, dass, was in Wittenberg geschehen sei, nicht als Ketzerei betrachtet werden dürfe, und dass man nichts dabei gewinnen würde, wenn man Luthern entferne. Es würden dann Andre, die nicht von seinem Geiste erfüllt wären, auftreten, wie man das bereits erfahren habe, welche ganz anders vorschreiten würden, als er es getan. Wäre das Volk sich selbst überlassen gewesen, und hätten die Mächtigen und Großen sich nicht aus politischen Rücksichten oder aus Eigennutz der Reformation widersetzt, so würde ganz Deutschland der Wiedergeburt seines und des evangelischen Geistes zugefallen sein, und es würde unser Vaterland um Jahrhunderte früher der Entwicklung entgegengeschritten sein, die es jetzt noch immer erst teilweise erreicht hat. Ohne eine echt evangelische Frömmigkeit, d. h. ohne ein richtiges Verständnis der Lehre des Heilandes, dass die Menschen Gottes Kinder seien, und vor Allem der Stimme ihres Gewissens folgen müssen, ist schlechthin auf keinem Gebiete etwas auszurichten, weder in der Politik, noch in der Kunst und Wissenschaft. Wer nicht Gott oder Christum oder den heiligen Geist, was Alles im Wesentlichen auf dasselbe hinausläuft, in sich wohnen und walten lässt, wer nicht dem Zuge dieser heiligen Dreiheit folgt, der wird sich in der Erreichung endlicher Zwecke abarbeiten, wird manches Äußerliche und Weltliche zu Stande bringen, aber die Perle des Lebens wird er nicht gewinnen, und für sein unsterbliches Dasein wird er nichts tun. Die Offenbarung Gottes ist jedes Menschen allgemeine Aufgabe, und nur im Dienste Gottes ist der Lorbeer zu brechen, der ein Schmuck für die Ewigkeit ist. Nur der Gelehrte, der Künstler, der Kaufmann und Handwerker, dir bei seinen Arbeiten das allgemein Rechte und Gute im Auge hat, und der seine weltlichen Vorteile dem Göttlichen und Ewigen unterordnet, der also in Einigkeit mit Gott, nicht in Gottentfremdung lebt, wird seine Bestimmung erfüllen. Alles Andre ist Schaum und Tand und gibt keine wahre Befriedigung unserer geistigen Bedürfnisse. „Dein Wille geschehe“ soll das A und das O unseres Gebetes sein: das war auch des Heilandes, und das war Luthers ewiges Denken und Sinnen und Wünschen.

In dieser Zeit hatte Luther auch einen Streit mit dem König Heinrich VIII. von England. Dieser war ein hochmütiger, wollüstiger und grausamer Fürst, dem die Religion etwas Äußerliches war, das man, wie jedes andre weltliche Ding oder Verhältnis, zur Erreichung seiner Zwecke gebrauchen dürfe. Er hatte schon im Jahre 1519 sechs Männer und eine Frau als Ketzer verdammen und hinrichten lassen, weil sie ihren Kindern das Vaterunser, die zehn Gebote und den Glauben in englischer Sprache gelehrt hatten. Jetzt (1522) ließ er ein Buch unter seinem Namen erscheinen, das gegen die Schrift Luthers „Von der Babylonischen Gefangenschaft“ gerichtet war und den Titel führte: „Schutz und Handhabung der sieben Sakramente wider Martinum Luther.“ In der Vorrede sagt er: Vormals, da die Kirche Niemand angefochten, habe sie auch keines Vorfechters bedurft. Weil sich aber jetzt ein Feind erhoben habe, wie noch kein schlimmerer dagewesen, welcher aus Eingebung des Teufels christliche Liebe zur Schau trage, aber aus Zorn und Hass wider die Kirche Schlangengift auswerfe; so sei es von Nöten, dass wider diesen gemeinen Feind des christlichen Glaubens ein jeder Diener Christi, weß Alters, Geschlechtes oder Standes er sei, sich erhebe. Ferner heißt es von Luther: „O, was ist er aufgeblasen in Hoffahrt und Schande zur Trennung der christlichen Kirche, welch höllischer Wolf, der die Schafe Christi zu zerstreuen sucht, welch Glied des Teufels, der die Gläubigen von ihrem Haupte abzureißen trachtet, wie stinkend ist sein Gemüt, wie verflucht sein Vornehmen, nicht nur alte begrabene Ketzereien wieder ans Licht zu bringen, sondern auch neue hinzu zu fügen, die in ewige Finsternis geworfen sein sollten! Er schätzt sich selbst so hoch, dass er meint, es müssten die alten Väter der Kirche hintangesetzt, und die ganze Kirche nach seinem Belieben regiert werden!“ In der Schrift selbst verteidigt er nicht bloß in scholastischer Weise ohne alle Tiefe die Geltung der sieben Sakramente, sondern auch das göttliche Recht der päpstlichen Oberhoheit und den Ablass. Der Papst erklärte das Buch für eine Eingebung des heiligen Geistes, setzte es den Schriften der Kirchenväter gleich, erteilte Jedem, der es lesen würde, Ablass und dekretierte dem Könige durch das Kardinalskollegium den Titel „Beschützer des Glaubens.“

Luther wäre weltklug verfahren, wenn er das schwache Machwerk, das ihm wenig schaden konnte, unbeantwortet gelassen hätte; allein er sah die Sache nicht so an, als ob sie bloß seine Person, sondern als ob sie Gott und die Wahrheit angehe, und deshalb schrieb er, der in andern Verhältnissen so liebevoll, demütig und kindlich war, in dem heftigen Tone seiner übrigen Streitschriften gegen den König. Nachdem er über die Freude und die Belohnungen des römischen Hofes gespottet und gesagt hatte, er wolle es dahin gestellt sein lassen, ob der König die Schrift selbst verfasst oder habe verfassen lassen, geht er auf das ein, was er selbst gelehrt, und was von Heinrich VIII. angegriffen worden war, und schließt diesen Abschnitt mit den Worten: „Wie ich dies gelehrt habe, will ich ewiglich bleiben und sagen: Wer anders lehret, denn ich hierin gelehret hab oder mich darin verdammt, der verdammt Gott und muss ein Kind der Höllen bleiben; denn ich weiß, dass diese Lehre nicht meine Lehre ist.“ Hierauf sagt er, alle Gründe des Königs wider ihn kämen auf die drei Stücke hinaus: 1) der König beschuldige ihn, er habe wider sich selbst geschrieben und seine Lehre könne nicht recht sein, denn sie sei mit sich selbst nicht eins; 2) er habe aus Hass und Neid wider den Papst geschrieben, und sei bissig und schelte und sei hoffährtig und wolle allein klug sein und dergleichen; 3) der König führe in dem ganzen Buch nur einen Spruch aus der Schrift an, und den fälschlich; seine ganze Bewährung liege aber darin: Ich glaube, es sei also recht. Item, so lange hat man es gehalten. Item, so viel Leute mögen nicht irren. Item, etliche heilige Väter haben dies und das gesagt. Nachdem er diese Gründe widerlegt hat, geht er die einzelnen Stücke durch, welche der König wider ihn hatte beweisen wollen, als vom Ablass, vom Papsttum, von beiderlei Gestalt, von der Wandlung, von der Messe als Opfer. Über die andern sechs Sakramente schweigt er, weil es ihm an Zeit fehle, und er durch die Bibelübersetzung zu sehr in Anspruch genommen sei; doch verspricht er dem giftigen Lügenmaul und Lästerer, König Heinz, die Antwort nicht schuldig zu bleiben.

Der König war natürlich empört über dieses Verfahren Luthers gegen ihn, und wütete fortan mit Feuer und Schwert gegen die Anhänger des Reformators in seinem Reiche; allein wenn man glaubt, dass England darum nicht vollständig dem Protestantismus beigetreten sei, so irrt man sich. Der Grund davon liegt tiefer. Das britische Volk ist ein Mischvolk, es ist überwiegend deutscher Abstammung, doch aber auch romanischer. Wahrhaft protestantisch oder evangelisch oder christlich können nur rein deutsche Völker sein. Wo bei andern die Reformation Eingang gefunden hat, ist sie der tiefen Auffassung Luthers nicht treu geblieben sondern hat ihren Charakter mehr oder weniger verändert und ist namentlich wieder zur Veräu?erlichung und Verweltlichung des Ewigen und Unendlichen geschritten.

Im Jahre 1523 erschien auch Luthers Schrift „von weltlicher Oberkeit“, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. Sie war durch den ihm feindlich gesinnten Herzog Georg von Sachsen veranlasst. Derselbe hatte einen Befehl ausgehen lassen, dass Keiner seiner Untertanen die luthersche Übersetzung des Neuen Testamentes lesen, sondern das Exemplar, das er etwa besitze, an das nächste Amt ausliefern solle. Luther weist nun nach, dass die Obrigkeit von Gott geordnet und man ihr in allen weltlichen Dingen deshalb Gehorsam schuldig sei; aber der Seele habe sie nicht zu gebieten. Der Glaube sei eine Gabe Gottes, könne weder erzwungen noch geboten werden, und über das Gewissen führe kein Mensch die Herrschaft. Daran hält die evangelische Kirche bis auf den heutigen Tag fest. So sind wir einerseits im Glauben frei, nämlich von weltlicher Macht; andrerseits aber auch um so stärker gebunden, nämlich von dem göttlichen Geiste, dem wir uns weihen. In Betreff der Auslieferung der Bücher riet Luther, sie freiwillig nicht herzugeben; komme man aber, sie ihnen mit Gewalt zu nehmen, so solle man sie sich nehmen lassen. Man könne erklären, dass man das Verfahren für Unrecht halte, aber man müsse sich ihm fügen. Der Kurfürst Friedrich freute sich über dies Buch fast mehr als über alle anderen Werke Luthers, weil er aus demselben lernen könne, wie er sich als Fürst zu verhalten habe.

In allen diesen Schriften machen wir die Wahrnehmung, dass Luther im Gebrauche der deutschen Sprache fortdauernd an Erkenntnis und Gewandtheit zunimmt. Nicht nur die Rechtschreibung der Wörter wird ihrem Ursprung entsprechender, sondern es findet auch eine feinere Auswahl und Unterscheidung rücksichtlich des Sinnes und der Bedeutung der Ausdrücke statt. Am belehrendsten in dieser Beziehung ist allerdings die Übersetzung des Neuen Testamentes, doch liegt dies vielleicht in dem eigentümlichen Grunde, dass die allgemeine Bildung Luthers und der deutschen Sprache seiner Zeit auf dem Standpunkte sich befand, auf welchem die Verfasser der Evangelien und Epistel rücksichtlich ihrer Kenntnis der griechischen Literatur und Sprache standen. Dass Luther durch die Tiefe seiner religiösen Anschauungen durch Glaubensreinheit und Glaubenskraft mit den Autoren des Neuen Testamentes in ganz naher geistiger Verwandtschaft sich befunden, und dass er dadurch vorzugsweise befähigt wurde, den Sinn und Geist der heiligen Schriften im Deutschen wiederzugeben, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Wenn er sich aber hin und wieder sehr starker Ausdrücke und Vergleichungen bedient, die in unserem überhöflichen Zeitalter nicht nur Anstoß erregen, sondern wirklich unser Gefühl verletzen, so liegt das an der Derbheit und Rohheit der Zeit, deren Sohn er war, und deren Einfluss er sich bei aller christlichen Liebe doch nicht völlig entziehen konnte. Auf einen groben Klotz, sagte er, gehört ein grober Keil, d. h. abgesehen vom einzelnen Falle: wer es mit rohen Stoffen zu tun hat, der kommt gar nicht dazu, sich ein feines Handwerkszeug auszubilden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben