Lucrezia Borgia

Autor: Gregorovius, Ferdinand (1821-1891), Erscheinungsjahr: 1874

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Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Buch. Lucrezia Borgia in Rom
  2. Buch. Lucrezia Borgia in Ferrara
Einleitung

Lucrezia Borgia ist die unseligste Frauengestalt der modernen Geschichte. Ist sie das, weil sie auch die schuldigste der Frauen war? Oder ist sie es nur, weil sie einen Fluch tragen muß, mit dem sie die Welt aus Irrtum belegt hat? Denn diese liebt es, die menschlichen Tugenden wie die menschlichen Laster in typischen Persönlichkeiten anzuschauen, mögen solche der Mythe oder der Geschichte angehören.

Jene Fragen sind noch zu entscheiden.

Die Borgia werden lange die Untersuchung des Geschichtsschreibers und des Psychologen reizen. Ein geistreicher Freund fragte mich eines Tags, wodurch es sich erkläre, daß alles was Alexander den VI. und Cesar Borgia und Lucrezia Borgia betrifft, daß jede Tatsache aus ihrem Leben, daß jeder neu entdeckte Brief des einen oder des anderen, unsere Neugierde lebhafter aufregt als Ähnliches, was von manchen anderen, viel bedeutenderen Charakteren der Geschichte uns überliefert wird. Ich weiß keine bessere Erklärung dafür, als diese: für die Borgia ist der beständige Hintergrund die christliche Kirche; sie kommen aus ihm hervor, sie bleiben auf ihm stehen, und der grelle Widerspruch ihres Wesens zum Heiligen macht sie dämonisch. Die Borgia sind die Satire auf eine ganze große Form oder Vorstellung kirchlicher Welt, welche sie zerstören oder verneinen. Auf hohen Postamenten stehen ihre Gestalten, und ihre Angesichter streift stets das Licht des christlichen Ideals. In diesem sehen und erkennen wir sie. Die sittliche Empfindung ihrer Taten gelangt an uns immer durch ein Medium, welches mit religiösen Vorstellungen durchdrungen ist. Ohne alles dies würden die Borgia, auf einem nur profanen Lokal, unter die Linie vieler anderer Menschen ihrer Natur herabsinken, und bald aufhören, mehr zu sein, als Einzelnamen einer großen Gattung.

Es gibt eine Geschichte Alexanders VI. und Cesars: von Lucrezia Borgia gibt es kaum mehr als eine Legende. Nach ihr ist sie eine Mänade, welche in der einen Hand die Giftphiole, in der anderen den Dolch trägt. Und zugleich hat dieses furienhafte Wesen die sanften und schönen Züge einer Grazie.

Als ein moralisches Monstrum hat sie Victor Hugo dargestellt; so geht sie noch heute über die Opernbühnen Europas, und so faßt sie das Vorstellen der Menschen im allgemeinen auf. Das ungeheuerliche Drama „Lucrezia Borgia“ jenes romantischen Dichters wird der Freund echter Poesie als eine groteske Verirrung der Dichtkunst verdammen, und der Kenner der Geschichte wird es belächeln, aber dieser kann den geistvollen Poeten mit seiner Unkenntnis und seinem guten Glauben an eine seit Guicciardini hergebrachte Tradition entschuldigen.

Diese Tradition hatte schon Roscoe bezweifelt und zu widerlegen versucht, und seine Apologie Lucrezias wurde von der Vaterlandsliebe der Italiener dankbar aufgenommen. Es setzte sich auch unter ihnen in neueren Zeiten die Reaktion gegen jene Auffassung Lucrezias fort.

Die Kritik der Lucrezia–Legende konnte am besten in denjenigen Orten gegeben werden, welche die meisten Erinnerungen und Urkunden aus dem Leben dieser Frau bewahren: diese Orte sind Rom und Ferrara, ferner Modena, wo sich das Archiv der Este, und Mantua, wo sich das Archiv der Gonzaga befindet. Gelegentliche Abhandlungen zeigten, daß die angeregte Frage fortlebte und eine Lösung verlangte.

In unserer Zeit behandelte die Geschichte der Borgia zunächst wieder Domenico Cerri in seinem Buch: Borgia ossia Alessandro VI. Papa, e suoi contemporanei, Turin 1858. Ein Jahr später gab Bernardo Gatti in Mailand die Briefe Lucrezias an Bembo heraus. Im Jahre 1866 schrieb der Marchese G. Campori in Modena einen Aufsatz Una vittima della storia, Lucrezia Borgia, in der Nuova Antologia vom 31. August jenes Jahres. Ein Jahr später veröffentlichte der Ferrarese Monsignor Antonelli: Lucrezia Borgia in Ferrara, Sposa a Don Alfonso d'Este, Memorie storiche, Ferrara 1867. Sodann folgte ihm Giovanni Zucchetti in Mantua mit einer ähnlichen kleinen Schrift: Lucrezia Borgia Duchessa di Ferrara, Milano 1869. Alle diese Autoren hatten die Absicht, die Lucrezia–Legende geschichtlich aufzuklären und der unglücklichen Frau eine Ehrenrettung zu geben.

Auch Nicht–Italiener nahmen an dieser Aufgabe Anteil, zunächst Franzosen und Engländer. Herr Armand Baschet, welchem wir manche verdienstliche Publikationen diplomatischer Natur verdanken, verkündigte in seinem Aldo Manuzio, Lettres et Documents 1495–1515, Venedig 1867, daß er seit Jahren ein Werk über das Leben der Madonna Lucrezia Borgia vorbereite und dafür ein großes Urkundenmaterial gesammelt habe. Leider ist diese Arbeit eines gründlichen Kenners vieler Archive Italiens nicht erschienen, was ich beklage, ohne die Hoffnung aufzugeben, daß Herr Baschet seine Zusage noch erfüllen wird.

Unterdes erschien im Jahre 1869 zu London ein erstes ausführlicheres Buch über diesen Gegenstand: Lucrezia. Borgia Duchess of Ferrara, a Biography illustrated by rare and unpublished Documents, von William Gilbert. Der Mangel an Wissenschaft und an Methode mindert leider den Wert dieser sonst brauchbaren Schrift, welche als ein englischer Nachkömmling Roscoes einige Aufmerksamkeit erregte.

Der in Fluß gekommene Strom von Apologien der Borgia trieb sodann in Frankreich eines der wunderlichsten Machwerke hervor, welche jemals in der historischen Literatur aufgetaucht sind. Ein Dominikaner Ollivier veröffentlichte im Jahre 1870 den ersten Teil eines Buches Le Pape Alexandre VI. et les Borgia. Diese Schrift ist das phantastische Extrem des Dramas von Victor Hugo. Denn wie dieser die Geschichte mißhandelte, um ein moralisches Ungeheuer für den Bühneneffekt zustande zu bringen, ganz so verfälschte jener dieselbe in entgegengesetzter Absicht. Aber die Zeiten, wo Dominikanermönche der Welt ihre geschichtlichen Fabelbücher aufnötigten, sind denn doch nicht mehr wiederherzustellen; der lächerliche Roman Olliviers wurde sofort in den strengsten Organen der Kirche selbst abgewiesen: zuerst durch Matagne in der Pariser Revue des questions historiques (April 1871 und Januar 1872), dann sogar in der Civiltà Cattolica, dem eigenen Organ des Ordens Jesu, durch einen Artikel vom 15. März 1873, dessen Verfasser den moralischen Charakter Alexanders VI. preisgab, weil er im Angesicht unbezweifelbarer Urkunden doch nicht mehr zu retten ist.

Dieser Artikel hatte zu seiner Grundlage den im Jahre 1872 zu Turin gedruckten Saggio di Albero Genealogico e di Memorie su la famiglia Borgia specialmente in relazione a Ferrara von L. N. Cittadella, dem Direktor der Gemeindebibliothek jener Stadt. Seine Schrift ist ein dankenswerter Fortschritt zur Aufklärung der Familiengeschichte der Borgia, obwohl sie von Irrtümern nicht frei bleiben konnte.

Am Ende des Jahrs 1872 trat auch ich in die Reihe der genannten Autoren mit einem römischen Beitrag zur Geschichte der Borgia, nachdem im Jahre 1870 derjenige Band der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ erschienen war, welcher die Epoche Alexanders VI. in sich begreift. Bei meinen Nachforschungen in den Archiven Italiens war ich in Besitz vieler Urkunden gekommen, die Borgia betreffend. Nicht alle konnte ich in jenem Werk vollständig verwerten. Ich nahm mir daher vor, dieses kostbare Material für eine Monographie zu gebrauchen, welche entweder Cesar Borgia oder dessen Schwester zum Hauptcharakter haben konnte.

Ich entschied mich für Madonna Lucrezia aus Ursachen, von denen die erste eine äußerliche und diese war. Im Frühjahr 1872 kam im Archiv der Notare des Kapitols zu Rom in meine Hände der Protokollband Camillos de Beneimbene, des langjährigen vertrauten Notars Alexanders VI. Ich entdeckte in diesem großen Manuskript einen unverhofften Schatz. Es bot mir eine lange Reihe echter, bisher unbekannter Urkunden dar. Ich fand in ihm alle Eheverträge der Donna Lucrezia und viele andere gerichtliche Akten, die sich auf die intimsten Verhältnisse der Borgia beziehen. Im November 1872 hielt ich darüber einen Vortrag in der historischen Klasse der Königl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München. Derselbe wurde in den Sitzungsberichten abgedruckt. Der Inhalt der in ihm ausgezogenen Urkunden warf ein neues Licht auf die Geschichte der Familie Borgia, von welcher eben erst Herr Cittadella die schon bemerkte Genealogie veröffentlicht hatte.

Zu diesen Tatsachen gesellten sich noch andere Gründe, welche mich bestimmten, eine Schrift über Donna Lucrezia zu verfassen. Denn ich hatte wohl die politische Geschichte Alexanders VI. und Cesars bereits eingehend behandelt und neu aufgeklärt, aber Lucrezia Borgia selbst nur aus der Ferne betrachtet. Ihre Gestalt reizte mich wie etwas Geheimnisvolles, was in sich selbst einen unerklärten Widerspruch trägt und noch zu enträtseln ist.

Ich ging an meine Aufgabe ohne jede vorgefaßte Absicht. Ich wollte keine Apologie, sondern in kurzen Zügen eine Geschichte Lucrezias schreiben, und zumal konnte ich das gerade für ihre, in bezug auf die schwebende Frage wichtigste Epoche, für ihr Leben in Rom. Ich wollte sehen, welche Gestalt mir unter den Händen entstünde, wenn ich Lucrezia Borgia zum Gegenstand historischer Behandlung machte, in der strengsten und sichersten, weil urkundlichen Weise.

Ich vervollständigte mein Material. Ich suchte die Orte auf, wo jene Frau gelebt hatte. Ich ging wiederholt nach Modena und Mantua. Die dortigen Archive sind unerschöpfte Schatzkammern, zumal für die Geschichte der Renaissance, und aus ihnen zog ich auch das meiste Material. Wie immer waren mir dort meine Freunde behilflich, so in Mantua Herr Zucchetti, bis vor kurzem Direktor des Archivs Gonzaga, und Herr Stefano Davari, dessen Sekretär.

Aber die reichste Ausbeute gab mir das Staatsarchiv der Este in Modena. Sein Direktor ist Herr Cesare Foucard. Dieser ausgezeichnete Mann bemühte sich für meinen Zweck mit einer wahrhaften Liberalität, wie sie eines Nachfolgers Muratoris in jenem Amt würdig ist. Er erleichterte mir meine Arbeit auf jede Weise. Er ließ durch einen jüngeren Beamten des Archivs, Herrn Ognibene, die große Masse von Briefen und Depeschen, welche mir dienen konnten, erst ordnen, setzte mich in Besitz von deren Register, und versorgte mich in der Folge mit Abschriften. Wenn daher diese meine Schrift einigen Wert besitzt, so gebührt der Güte Foucards davon ein nicht geringer Teil.

Auch an anderen Orten, in Nepi, Pesaro und Ferrara, fand ich die freundlichsten Aufklärungen und Mitteilungen. Herrn Cesare Guasti vom Staatsarchiv in Florenz verdanke ich die mühevollen Abschriften, die er für mich von merkwürdigen Briefen Lorenzos Pucci nehmen ließ.

Das Material, welches mir zu Gebote stand, ist begreiflicherweise nicht vollständig zu nennen, aber es ist immerhin reichhaltig und neu ...

In meiner Schrift ist mehr Gewicht auf die römische Epoche Lucrezias gelegt worden, als auf ihre Zeit in Ferrara. Denn diese ist, wenn auch keineswegs ausreichend, so doch bereits behandelt worden, jene aber wesentlich legendär geblieben. Da ich mein Buch durchweg aus urkundlichem Material herzustellen hatte, so konnte ich in ihm eine Methode der Behandlung versuchen, woraus sich von selbst, wie ich glaube, ein echtes Charaktergemälde der Zeit mit Zügen konkretester Persönlichkeit ergeben hat.

Lucrezia Borgia. Gemälde von Anselm Feuerbach, 1864

Lucrezia Borgia. Gemälde von Anselm Feuerbach, 1864