Literatur und Kunst. Unterwegs - Ein Skizzenbuch, von Alfred Meißner 1867. Rezension

Aus: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben von Robert Prutz. 17ter Jahrgang 1867. Januar-Juni.
Autor: Redaktion - Deutsches Museum, Erscheinungsjahr: 1867
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Literatur, Rezension, Reisebuch, Reisebeschreibung, Tagebuch
Unter den vielen Reisebüchern, Schilderungen aus Touristen-Tagebüchern, Bildern und Skizzen, mit denen uns in jedem Jahre der buchhändlerische Markt beschenkt, haben wir lange kein so liebenswürdiges Büchlein gefunden als Alfred Meißners „Unterwegs“ (Leipzig, Günther). Uns war es beim Lesen, als atmeten wir selbst den Duft des Bregenzer Waldes, als stände die Ruine des Heidelberger Schlosses im Mondenglanze vor uns, als weilten wir in Ostende am Strande und schwelgten im Anblicke des Meeres. Meißner ist den meisten Reiseschriftstellern einen Schritt voraus: er bringt keine langatmigen Beschreibungen von Sonnenauf- und Untergang, von Wald und Meer; ihm ist die Natur gleichsam nur Dekoration, er stellt die Menschen in ihren Bestrebungen und Beschäftigungen voran. Die Wanderung beginnt bei Bregenz. Im Hause einer liebenswürdigen Familie hat der Reisende Villeggiatura [italienisch: Aufenthalt auf dem Lande, Ferien] gehalten und täglich Ausflüge nach den Dörfern und durch die Wälder unternommen. Er hat scharf beobachtet, und bemerkt am Schluss dieser Skizze: „Einige Reflexionen sind unabweisbar.

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Der Eindruck, den man von diesem Lande mit fortnimmt, ist ein höchst poetischer, aber es schlummert, und wo ist der Zauberstab, der es zum Leben erweckt? So viel Wasserkraft vertost in der Einsamkeit, so wenig Produkte finden den Weg nach auswärts. Der Bretterhandel ist bedeutend, Butter und Käse gehen bis Köln und Berlin, man sieht keine Armut, aber es fehlt bei aller industriellen Tätigkeit der hin und her verstreuten Fabriken der behäbige Eindruck des Wohlstandes, der in der Schweiz dem Reisenden allenthalben entgegentritt. Der Geist der Intoleranz, der Tirol so hässlich entstellt, herrscht in Vorarlberg im Ganzen genommen nicht mehr. Protestanten sitzen im Gemeinderat, sie haben eine schöne Kirche gebaut, die weithin über den See sichtbar ist, fast wie ein Wahrzeichen. Durch das ganze Land zieht im Vergleiche mit dem mittelalterlichen Tirol ein freierer Geist, und dennoch, welche verschiedenen Stufen der Entwickelung dies- und jenseits jenes schmalen Wasserstreifens, der Vorarlberg von der Schweiz scheidet — dies- und jenseits des Altvaters Rhein! Bei aller Ähnlichkeit im Wesen und im Charakter der Bewohner, welche Verschiedenheit! Möge der Bann bald gehoben werden, der noch immer auf dieser Provinz lastet und sie verhindert, der schönen Zukunft, für die sie unleugbar prädestiniert erscheint, rascher entgegenzugehen.“ Wir folgen dem Verfasser nach Zürich, wo er Georg Herwegh besucht. Seine Mittheilungen über den Sänger der „Gedichte eines Lebendigen“ und über Felice Orsini, der seine Flucht aus dem furchtbaren Gefängnisse in Hermannstadt der Frau Herwegh zu danken hatte, sind von höchstem Interesse. Über Herwegh heißt es: „Wie er da sitzt, kahl, aber kräftig von Aussehen, mit schwarzem Vollbart, den südlich funkelnden Augen, als stünde man vor Dr. Faust!“ Das Gespräch kommt aufs Gebiet der Politik. Herwegh fußt noch auf dem, was er früher geglaubt; er, immer nur mit den Spitzen einer äußersten Demokratie in Verbindung, hat beständig auf Tage und Entscheidungen gewartet, die nicht eintreten sollten. Daher die Unzufriedenheit des Gemütes, welche in allen möglichen Wissenschaften, in Physiologie, Zootomie, Mittelhochdeutsch und Sanskrit, Ablenkung und Zerstreuung suchte. „Und Herweghs poetische Produktion? Der Quell der Lieder voll Schwung und Kraft und Klarheit, einst von so unbeschreiblicher Wirkung, ist er ganz verschüttet, ganz verschwunden? Ja und nein, wie ihr wollt! Wie soll ich es euch schildern? Seht da in der Gebirgslandschaft, die unter der brennenden Mittagssonne glänzt, die tiefe, zerrissene Windung. Ihr seht auf Stundenweite nur Geröll und starrende Felsen. Das ist der Gießbach oder vielmehr sein Bett, denn er selbst ist bis zur schmalen Silberader herabgeschwunden. Das ärmlichste Flüsslein im Flachland kann von ihm sagen: Der ist fertig, der hat sich ausgeströmt! Aber lasst nur den Föhn wieder blasen, den Schnee schmelzen, da fragt ihr nicht mehr: Wo ist er? denn sein Tosen betäubt euch. Er ist nicht verschüttet, nicht versiegt, im Kristall der Höhe geborgen sind seine Adern.“ Von Zürich nach Straßburg ist ein weiter Sprung und es sind gar herbe Gedanken, die beim Anblick dieser alten deutschen Reichsstadt in uns aufsteigen. Jetzt ist Straßburg der dritte große französische Waffenplatz mit einer Bevölkerung, die teilweise noch deutsch spricht, aber möglichst wenig von uns wissen will. Meißners Entrüstung ist groß und gerecht.

Die wenigen Blätter über Baden-Baden enthalten reizende Plaudereien. Welch drastische Schilderungen von dem phantastischen Putz der Damen, von all den närrischen Hütchen, Federn, Mänteln, Kleidern mit mächtigen Bauschen! Geistvoll hat Meißner einige Charakterköpfe gezeichnet. Da ist Hector Berlioz, ein Kopf mit dem Ausdruck eines Falken. Er ist grau geworden, hager wie ein Taktstock. Emile de Girardin ist von Kopf bis zum Fuß weiß gekleidet, ein Glas im Auge, das Band der Ehrenlegion im Knopfloch. Sein Calcul, sagt unser Cicerone, fiel bis jetzt noch immer falsch aus. Erst war ihm das Ludwig-Philipp’sche Zweikammersystem die beste Staatsform, die Pairswürde das höchste Ziel politischen Strebens; dann warf er sich der Republik, ja dem Sozialismus in die Arme, berechnete jedoch fortwährend den Napoleonischen Glücksstern. Und da, die kleine runde Gestalt eines alten Mannes mit scharfer und feingeschwungener Nase, bitter zusammengekniffenem Munde, grauen Augen, welche hinter einer goldenen Brille hervorsehen — das ist Thiers. Er ist verdrießlich geworden, er, der echte Sohn des Orleanismus. Der große Mann hat viel geschrieben und viel geredet und sich sehr oft verrechnet. Aus dem Munde eines Hrn. Desbarolles, eines Chiromanten, erfahren wir Ausführliches über Napoleons III. Hand. Diese Hand hat Hr. Desbarolles genau studiert und sagt von ihr, sie sei ein Muster von Gleichgewicht, eine ruhige Hand, der Ausdruck der Selbstbeherrschung. Was die Lebenslinie in dieser Hand betrifft, so ist nach Desbarolles Meinung kein einziges Zeichen da, das auf ein gewalttätiges oder plötzliches Ende deutete, darum hätten denn auch alle Anschläge auf das Leben des Kaisers bisher fehlschlagen müssen. Auch erfährt der erstaunte Leser noch, dass Napoleon III. ein Zweites Gesicht und eine magnetische Gewalt hat.

Von Baden nach Heidelberg ist nur ein Sprung. Da liegt das Schloss im Abendsonnenschein. „Wer ist so vermessen, dass er es beschreiben wollte? Es kann nur einer Feder gelingen, die wie ein zarter Pinsel das Geisterhafte, Weiche, Traumhafte wiederzugeben wüsste. Selbst die traumhafte Stimmung, die bei dem Anblick meine Seele fasst, vermag ich nicht zu analysieren. Ist es Freude, dass die Trümmer so schön, ist es Wehmut, dass alles zerfallen?“ Im westlichen Erker des großen Altans hat der Dichter gesessen und jenes Friedrich von der Pfalz und seiner Gemahlin gedacht, durch die sich geistige Fäden bilden, welche vom verödeten Holyrood zum verödeten Heidelberger Schloss und von da weit hinüber zum Hradschin in Prag sich ziehen. Weiter geht es; ein Pfiff:

Brüssel! Hier besonders zeigt sich Meißner als scharfer Beobachter. Er steht auf dem herrlichen Platze, auf dem sich die Kongresssäule erhebt. Oben das Standbild König Leopolds, unten, um den Sockel herum, vier Figuren in Erz-Guss, die genii loci, die Freiheit der Presse, des Unterrichts, der Assoziation und des Kultus. „Belgien selbst ist das Produkt moderner Kulturresultate. Alle Forderungen des Liberalismus, volle Freiheit der Schrift und der Versammlung, Trennung der Justiz von der Administration, Jury etc. sind hier realisiert beisammen. Trotz der dichtesten Bevölkerung, die auf dem Kontinent zu finden, herrscht hier, annähernd wie in der Schweiz, Wohlhabenheit bis in die untersten Klassen hinab. Der Aufschwung der Industrie ist unbeschreiblich. Kurz, es ist ein Musterstaat, in welchem der Beweis geliefert wurde, dass die Monarchie mit der Freiheit vereinbar sei.“ Ein wahrhaft gelobtes Land, wenn es nicht so tief katholisch und der Priesterpartei in so großem Maße untertan wäre. Jesuiten in ihren schwarzen Gewändern und mit den Schaufelhüten wie Sand am Meere! Meißner erzählt, dass auf 950 Seelen bereits ein Weltgeistlicher kommt, und wer zählt erst die Mitglieder aller Orden! Einem so kundigen Führer folgen wir gern zu den Sehenswürdigkeiten in Brüssel. Wir treten vor das Rathaus, dieses „Wunder altbrabantischer Pracht“, in den Justizpalast und vor die in demselben aufbewahrten großen Gemälde von Gallait und Biefve, in den herrlichen Park, wo Diana und Narziss aus ihren Laubnischen hervorsehen, die Militärmusik spielt und die ganze schöne Welt von Brüssel promeniert. Meißner ist der Ansicht, dass Brüssel von Jahr zu Jahr immer mehr französisch in Aussehen, Charakter und Sprache wird. „Was würde wohl Egmont sagen“, ruft er ironisch aus, „wenn er wieder erwachte? Wie er auch suchte, ein Klärchen fände er nimmer. Denn wer kann sich wohl ein französisch sprechendes Klärchen vorstellen?“

In Antwerpen hat sich der Reisende unbehaglich gefühlt, auf seine in französischer Sprache an die Leute gerichteten Fragen bekam er stets dieselbe Antwort: „Kan niet verstahn.“ Auch trugen die Jesuiten, Nonnen, Kirchen, frommen Inschriften und zahllosen Betteleien zur Ehre der Jungfrau Maria gewiss nicht bei, ein Behagen in ihm aufkommen lassen; er wanderte weiter nach Ostende. Mit wie lebhaften Farben hat er hier die vlämische Reinlichkeitsliebe, das Badepublikum, seine Unterhaltung mit dem alten Fischer und die solenne Feier, die bénediction de la mer, gezeichnet!
Der Leser reißt sich nur ungern von dieser lieblichen Idylle los, um nach einer prachtvoll geschilderten Meerfahrt in Hull den englischen Boden zu betreten und auf der Eisenbahn nach Glasgow zu fahren.

Die Beschreibung der zahllosen Baumwollspinnereien, der Tuch- und Eisenfabriken ist wirklich lesenswert, der Besuch in der Kapelle der Quäker höchst komisch, und die Schilderung des in dieser reichen Stadt herrschenden furchtbaren Elends wahrhaft erschütternd. Nach diesem traurigen Bilde tut es wohl, die schottischen Seen zu besuchen. Hier, am Loch-Lomond, hat Ossian gesessen und von der schönen Jungfrau gesungen, die wie ein Sonnenstrahl sei. „Die plötzlichen Übergänge von Sonnenschein und Regenschauer bewirken magische Effekte. Die Wolken sind in ununterbrochener Bewegung. Jetzt blickt noch der hellste Sonnenschein auf die hellgrünen Laubwaldkuppeln, einige Minuten darauf umzieht sich alles, schwere Nebelmassen fahren chaotisch durcheinander, der Regen prasselt nieder, man sieht die nächsten Gegenstände nicht mehr. Doch das dauert nicht lange, das Grau zerteilt sich, silberne Schimmer laufen über Wasser und Land, der Glanz des Tages ist wieder da.“

Und nun zum Schlusse nach Edinburgh, dem nordischen Athen. Allenthalben erinnern Monumente an ausgezeichnete Dichter und Denker: Ossian, David Hume, Robertson, Ferguson, Dugald Stuart, Walter Scott, Robert Burns, Macpherson, Allan Ramsay u. a. treten hier immer neu anregend vor die Seele. Edinburgh soll eine der schönsten Städte Europas sein. Auf das Nelson-Denkmal muss man steigen, um das großartige Bild zu überschauen. Am längsten bleibt das Auge natürlich auf Edinburgh-Castle ruhen, auf dem Schlosse von Holyrood. Hier in einem fensterlosen Raume zeigt man bei Lampenschein auf einem steinernen Tische die Insignien des alten schottischen Königtums; dort ist das Gemach, in welchem Maria Stuart, kurz vor ihrer Entbindung, als Gefangene gewohnt hat. Von den Erinnerungen an sie kehrt der Verfasser noch einmal zur Gegenwart und zu dem heutigen Schottland zurück. Die Hochlande veröden, sagt er, die Gutsherren treiben die Pächter, welche Zahlungsrückstände schulden, aus den Hütten, und machen diese dem Boden gleich, dass Raum für die Schafherden werde. Damit Glasgow und Paisley zu ungeheuren Industrieorten heranwachsen, werden die Heiden und Moore immer öder. „So verlassen wir Schottland mit einem Gefühle der Trauer. Es ist das Schottland, das es vor fünfzig Jahren war, nicht mehr. England hat sich dort bereits vollständig festgesetzt mit seinen Essen, Schloten, Maschinen, Webstühlen; hier wie dort gibt es nur noch zwei Klassen von Menschen, die sehr Reichen und die sehr Armen. Diese Bewegung ist unaufhaltsam, die Schicksale Englands werden sich bis in die letzten Ausläufer des Reichs hinaus erfüllen. Was dann? ruft der Reisende und schaut in die Wellen. Aber sie rauschen und rauschen, ohne dass er ihre Antwort versteht.“ S. N.-St.