Zur Landeskunde des ethnographischen Litauen

Zum ethnographischen Gebiet von Litauen gehören die drei Gouvernements Suwalki, Kowno und Wi1na. Diese Fläche, die etwa 110.000 qkm umfasst, bewohnen (nach der amtlichen russischen Statistik von 1897) 3.060.389 Einwohner, von denen 52,18% Litauer,*) 22,67o/ Weißrussen und Polen,**) 15,99% Juden, 3,79% Russen, 5,31% Deutsche (Protestanten), sonstige 0,06% sind.***)

*) In anthropologischer Beziehung stehen die Litauer körperlich den Germanen viel näher, als den Slaven. Man findet unter ihnen 67% Blonde, 28% Gemischte und nur 5% Dunkelhaarige. Die durchschnittliche Körperlänge beträgt 164 cm.


Nach Untersuchungen des Dorpater Gelehrten Brennsohn sind die Litauer von mittlerer Größe und von kräftigem und wohlabgemessenem Körperbau. Beleibtheit kommt äußerst selten vor. Die Hautfarbe ist weiß, bei den jungen Mädchen nicht selten von auffallender Reinheit, das Kopfhaar schlicht und nur ausnahmsweise leicht gelockt, dabei fast immer blond oder hellbraun, selten dunkelbraun, noch seltener schwarz. Die mittelgroßen Augen sind meistens schön blau, allerdings mitunter auch braun, die Köpfe gewöhnlich mäßig kurz, fast mittelschädelig. Ziemlich häufig trifft man germanische Langschädel. Das Gesicht ist länglich rund, nie springen die Backenknochen vor, wie es bei den Russen gewöhnlich ist. Die Stirn ist mittelhoch, und die gerade Nase weist geradezu griechische Form auf. Überhaupt finden wir häufig Gesichsbildungen, die an das klassische Griechentum erinnern, so daß manche Forscher dadurch verführt worden sind, von einer näheren Verwandtschaft der Litauer mit den alten Griechen zu reden

**) Polen allein nur etwa 8%,
***) Eine neuere Statistik gibt die Zahl der Gesamtbevölkerung auf 3.784.00U an, von denen 20% Russen (meist Weissrussen im Gouvernement Wilna), 12% Juden, 8% Polen und 2% Deutsche sind.


Die Deutschen (auch protestantische Litauer werden gewöhnlich als Deutsche gezählt) wohnen hauptsächlich in den Kreisen Wilkowischken (15,9%), Neustadt (Gouvern. Suwalki) und Schaulen (10%). Von der Bevölkerung sind 58% Bauern, 21% Landarbeiter und 12% Städter.

Die Städte weisen vorwiegend jüdische Bevölkerung auf, der mittlere Bürgerstand ist meist polnisch, die Beamtenschaft war russisch. Die Landbevölkerung ist mit Ausnahme einiger Güter und der östlichsten Gebiete rein litauisch; auch in den Städten hat das litauische Element seit einiger Zeit Fuß gefasst.

Das Gouvernement Suwalki mit der Verwaltungsstadt gleichen Namens (27.165 Einwohner) ist 24.860 qkm groß, mit 706.000 Bewohnern.*) Es wohnen auf einem qkm 52,7 Personen.**) Also ist die Bevölkerungsdichte in Anbetracht des Umstandes, daß hier größere Städte überhaupt fehlen, recht erheblich. Die immer von Neuem in der einschlägigen deutschen Literatur wiederholten gegenteiligen Behauptungen sind demnach unrichtig. Das Gouvernement war in 7 Kreise eingeteilt: Suwalki, Augustow, Kalwaria, Mariampol, Seinen, Wilkowischken, Wladislawowo (Neustadt). Es zieht sich an der preußischen Grenze hin und wird im Norden und Osten von dem Niemen, im Süden von der Schwarzen Hancza begrenzt. Zwei Schienenstränge (287 km), von Wirballen nach Kowno-Wilna und von Grodno über Augustow-Suwalki nach Kowno, vermitteln den Schnellverkehr. Eine Chaussee führt von Suwalki über Kalwaria-Mariampol nach Kowno, mit Abzweigung von Mariampol über Wilkowischken nach Wirballen und Neustadt (Wladislawowo), ferner von Augustow über Seinen nach Olita-Kowno. Durch den Augustow -Kanal (200 km) ist eine Wasserstrassen-Verbindung zwischen dem oberen Niemen unterhalb Grodno entlang der Schwarzen Hancza mit dem Bobr, Narew und dem Weichselgebiet hergestellt. Er dient gewöhnlich nur dem Lokalverkehr.

*) Werbelis a. a. O. gibt (1897) die Zahl 582.913 an, darunter 52,24% Litauer, 22,99% Polen, 9,2% Russen, 10,14% Juden und 5,23% Deutsche.

**) In Kurland 26.8 in Ostpreussen 54, in Mecklenburg 35, dagegen
in Polen 84,8.


Von der oben genannten Bodenfläche sind 522.000 ha (49,1%) Acker, 220.000 ha (19,4%) Wiesen und Weiden, 249.000 ha (22,7%) Wald und 75.000 ha (7,8%) Ödland. Dem Großgrundbesitz gehören 23%, dem Staat 20% und den Bauern 57% des Bodens an. Das meiste Ackerland befindet sich in den Kreisen Wladisiawowo (86.000 ha), Mariarapol (83.000 ha) und Wilkowischken (75.000 ha). Weizenboden herrscht vor in den Kreisen Wladisiawowo, Wilkowischken, Kalwaria; Wald in Augustow, Seinen und Mariampol; Wiesen in Mariampol und Wladisiawowo. Dem Fiskus gehören 207.000 ha Wald. Die fruchtbarsten Kreise sind somit Wladisiawowo, Wilkowischken, Mariampol und Kalwaria; aus diesen wird Getreide ausgeführt, während die anderen Kreise mit dem in ihnen angebauten Getreide nicht ausreichen. Die Heuernte genügt meist nur im Kreise Seinen nicht. Im Jahre 1897 gab es im Gouvernement 109.380 Pferde, 137.037 Stück Hornvieh und 456 653 Stück Kleinvieh. 18% der Landwirte haben keine Pferde und 60% der Bevölkerung ist ohne Landbesitz.

Im Gouvernement befinden sich 3 Gymnasien und eine hökere Töchterschule, 202 Volksschulen und ein Volksschullehrerseminar in Weiwer mit 186 Seminaristen. Das kleine Städtchen Seinen ist seit 1822 Bischofsitz und unterhält seit 1826 ein katholisches Priesterseminar mit 73 Seminaristen. Die Kathedrale ist 1619 im Barock-Renaissance-Stil erbaut. Das Gebiet um Lasdija, Simno, Krosnopol wird Dzukija genannt, eine ärmliche sandige Gegend; hier herrscht ein besonderer litauischer Sprachdialekt vor. Größere Städte sind im Gouvernement nicht vorhanden. Erwähnenswert ist eine uralte Kirche in Sapischken am Memelufer, die als Dokument ältester litauischer Baukunst gilt.

Unter der deutschen Verwaltung bildete das Gouvernement einen besonderen Verwaltungsbezirk, ,,Zivilverwaltung Suwalki“, seit dem 1. Mai 1916 ist es mit dem Verwaltungsbezirk Wilna zu einem gemeinsamen Körper vereinigt worden und 1917 der „Militärverwaltung Litauen“ einverleibt.

Das Gouvernement Kowno mit der Verwaltungsstadt gleichen Namens ist 40.640 qkm groß und hat 1.720.500 Einwohner.*) Auf ein qkm kommen 43 Personen.

*) Werbelis gibt a. a. O. 1.544.564 an, darunter 1.019.774 Litauer 212.028 Juden, 139.618 Polen, 112.352 Russen, 35.188 Letten, 21.762 Deutsche. — Schlichting zählt in „Bilder aus Litauen“ (Kowno 1916) für den Bezirk der „Deutschen Verwaltung für Litauen“ nach der Evakuierung 904.217 Litauer, 73.057 Polen, 54.559 Juden, 17.160 Letten, 7.985 Deutsche; darunter waren 965.634 Katholiken, 37.291 Evangelische und 8.614 Orthodoxe.
Dem Glaubensbekenntnis nach gibt es 1.192.159 Katholiken, 41.696 Russen, 26.622 Altgläubige, 47.922 Evangelische, darunter 11.453 Reformierte, 300.000 Juden, 1.200 Mohamedaner u. a. m.


Der Bezirk Kowno wird von der Memel, Ostpreußen, Kurland und den Gouvernements Witebsk und Wi1na begrenzt. Das Land ist von vielen Flüssen durchzogen, unter denen die Dubissa und die Newesza dem Niemen zuströmen, während die Windau und Musza sich nach Norden zu wenden. Mehrere Bahnlinien durchziehen das Gebiet. Von Koszedaren und Swencianen (der Linie Kowno- Wilna-Dünaburg) führen zwei Stränge nach Westen, vereinigen sich bei Radziwilischken und führen über Schaulen und Murawjewo nach Libau. Eine andere Strecke von Dünaburg mündet bei Panewiesch in die letztere. Dazu zweigt eine weitere Strecke von Murawjewo nach Mitau ab. Während des Krieges sind von der deutschen Militärverwaltung noch mehrere andere Strecken gebaut worden. Von den wenigen Kunststraßen sind zu erwähnen die Strecke von Tilsit über Tauroggen, Kielmen, Schaulen nach Mitau und von Kowno über Wilkomir nach Dünaburg. Der Bau einer Kanalverbindung der Dubissa mit der Windau (durch den Windau-Kanal) ist vor längerer Zeit begonnen, aber unausgeführt geblieben.

Das Gouvernement, das sich mit der uralten litauischen Landschaft Samogitien (Szamaitenland), dessen Bevölkerung in der Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat, ziemlich deckt, war in 7 Kreise eingeteilt: Kowno, Wilkomir, Escherianen (Nowo-Alexandrowsk), Panewiesch, Rasseinen, Telschen und Schaulen.

Von der gesamten Bodenfläche sind 38,6% Ackerland, 24,2% Wiesen und Weiden, 25,4% Wald, 3,1% Gärten, 11, 8% Ödland und dazu 397 qkm Seen. Der fiskalische Anteil am Waldbesitz macht etwa den vierten Teil der gesamten Waldfläche aus. Der Großgrundbesitz verfügt über 48%, der Staat über 7%, die Bauern über 45% des Bodens. 10% der ländlichen Besitzer haben keine Pferde. Den größten Grundbesitz repräsentieren Fürst Oginski in Retowo, Wassilczikow in Georgenburg, Radziwill in Taugenen, Nariszkin in Szagaren, Graf Tiszkewicz in Birsen Subow in Schaulen. Die Industrie bringt in 258 Fabriken mit über 10.000 Arbeitern eine Jahreserzeugung von 6 Millionen Rubel hervor.

Im Gouvernement gab es (1912) 724 Volksschulen mit 39.684 Schülern, darunter 27.487 Knaben und 12.197 Mädchen. Das Lehrerseminar befindet sich in Panewiesch. Für das Volksschulwesen im Kownoer Gouvernement wandte die russische Regierung (1912) 600.078 Rubel auf. Im Jahre 1895 kamen auf eine Schule 5.594 Personen (in Livland 720, in Estland 560). Nach der russ. Statistik waren 1897 dort 55,7% männliche und 53% weibliche Personen des Lesens und Schreibens unkundig, was bei dem Verbot jeglichen Unterrichts in litauischer Sprache nicht weiter verwunderlich ist.

Der „Deutschen Verwaltung für Litauen“ (die eigentlich nicht mit vollem geographischen Recht diese Bezeichnung führt) mit dem Sitz zunächst in Tilsit, seit April 1910 in Kowno, war der größte Teil des Kownoer Gouvernenementsgebietes unterstellt. Das Gebiet ist in folgende Kreise eingeteilt, an deren Spitze je ein Kreishauptmann steht: Kowno, Uszjanen, Wilkomir, Janow, Keidanen, Rasseinen, Georgenburg, Pajuris, Kielmen, Kupischken, Birsen, Panewiesch, Schadow, Joganischkele, Schaulen, Baisogala, Kurschanen, Janischken, Okmyana, Weszaiten, Telschen, Siaden Kretingen. Für die einzelnen Kreise sind Friedensgerichte bestellt dazu Bezirksgerichte in Kowno, Rasseinen, Panewiesch, Schaulen und Telschen. Letztere sind außer Kowno wieder aufgehoben worden; dazu gehören jetzt 21 Friedensgerichte. Dem Kreishauptmann stehen ein landwirtschaftlicher Beirat, ein Kreisarzt, ein Kreistierarzt, einige Wirtschaftsoffiziere und die erforderlichen Unteroffiziere und Soldaten zur Seite. Im Ganzen sind bei der Verwaltung etwa 2.000 Militärpersonen tätig.

Die Stadt Kowno (etwa 100.000 Einwohner), eine Festung ersten Ranges mit 11 auf 4 km vorgeschobenen Forts liegt langgestreckt auf einer Landzunge zwischen dem Niemen und der Wilja, deren Uferhöhen bis über 60 Meter emporragen. Die Vororte Niszny-Schanzy, Alexota und Wiliampo1 hängen mit der Stadt zusammen, letztere durch den Niemen und die Wilja getrennt. An Kirchen zählt man 10 russische (von denen außer der griechischen Kathedrale fast alle aus katholischen umgeweiht sind), 8 katholische, darunter die gewaltige, aber schmucklose Kathedrale (15. Jahrhundert), eine kleine evangelische (1683, erneuert 1851),*) 4 Synagogen. Kowno ist Sitz des Bischofs für Szamaiten und des evangelischen Propstes der Wilnaer Diözese. Das Priesterseminar liegt am Paradeplatz, den der schöne Rathausbau mit gotischem Turm und einem weniger schönen „Monument commemoratif“, zur Erinnerung an den Rückzug Napoleons 1812, schmückt. In der Zugangsstraße zum Niemen liegt ein kleines Gebäude mit eigenartigem Giebel, der sogenannte „Perkunastempel“, angeblich aus heidnisch-litauischer Zeit. Nahebei liegt auf dem Niemenufer die aus dem 14. Jahrhundert stammende Kirche des Witaut, jetzt Franziskanerkirche, die natürlich auch zur griechischen umgeweiht ist. Kowno besitzt mehrere Fabriken, in denen etwa 9.000 Arbeiter beschäftigt werden. Die Tillmannsche Schraubenfabrik mit Walzwerk unterhält allein 1.300 Arbeiter. In anderen Fabriken werden Schlösser, Bolzen, Waagen, Gewichte, auch landwirtschaftliche Geräte und anderes mehr hergestellt. Dazu kommt die Leim- und Brau-Industrie.

An bemerkenswerten Städten im Bezirk sind zu nennen Rasseinen (9.000 Einwohner), Tagungsort der szamaitischen Landtage zur Zeit des polnisch-litauischen Reiches. Kedainen, mit einer vom Fürsten Radziwill 1629 erbauten dreischiffigen reformierten Kirche, in der sich die Gräber der Radziwills befinden, in der Nähe ein Gut des Grafen Totleben mit herrlichem Park. — Am Ufer der Windau liegt Popilianen mit Schlossberg und dem Grabe des litauischen Geschichtsschreibers Daukantas. Die Inschrift auf der Steinplatte lautet: „Wanderer, gedenke, daß hier begraben liegt Simon Daukantas, der erste unter den Gelehrten, der die Geschichte Litauens und des Szamaitenlandes und andere nützliche Bücher verfasst hat. Wie ein einfacher Mann hat er sein Leben lang ohne Aufhören nur szamaitisch zum Nutzen seiner Volksgenossen geschrieben.“

*) Die deutsch-evangelische Gemeinde Kowno besteht seit 1550.

— Kraszen, früher Residenz der Fürsten Radziwill, Nonnenkloster. In Betygola , nahe der Dubissa, hat der letzte litauische Kriwe Kriwaitis Gintaut seines Amtes gewaltet. Dort steht noch eine von Witaut erbaute Kirche, in der Nähe ein Opferberg. Szidlawa ist der berühmteste Wallfahrtsort im Szamaitenlande. Polangen am Ostseestrande mit Landungsbrücke in See ist ein frequentierter Badeort. Daneben ein Schloss des Grafen Tyszkewicz mit botanischem Garten, am Strande der Byrutaberg mit Kapelle, wo die nachmalige Gattin des Großfürsten Keistut, namens Byruta, als Waidelottin das heilige Feuer der Göttin Paurime behütet haben soll. Am Abhange befindet sich eine Nachbildung der Mariengruppe zu Lourdes. Das Progymnasium wird von 150 Schülern besucht. In 7 jüdischen Werkstätten wird der an der baltischen Ostseeküste reichlich gefundene Bernstein bearbeitet.

Das Gouvernement Wilna umfasst einen Flächenraum von 42.528 qkm, von denen 40,3% Ackerland, 19,1% Wiesen und Weiden, 27,6% Wald und 13% Ödland sind. Seen bedecken eine Fläche von 546 qkm. Die Bevölkerungszahl beträgt (nach der Statistik von 1897) 1.589.393, nach einer späteren Zählung 1.861.200, nämlich 891.771 Weißrussen (56,1%), 279.694 Litauer (17,6o%), 202.368 Juden (12,8%), 129.651 Polen (8,1%), 78.562 Großrussen (4,9%), 2.915 Deutsche (0,2%), 1.969 Tataren und andere. Nach dem Glaubensbekenntnis sind 935.031 katholisch (58,7%), 415.208 orthodox (26,0%), 202.368 Juden (12,3%). Auf einem qkm wohnen 44,3 Personen. Volksschulen sind 1.015 vorhanden.

Von Wilna aus gehen Eisenbahnstrecken nach Kowno-Wirballen, mit Abzweigung nach Libau von Koschedaren, nach Dünaburg-Petersburg mit Abzweigung nach Panewiesch-Schaulen, von Swencianen nach Minsk-Smolensk, Lida-Pinsk und Grodno-Warschau.

Das Gouvernement Wilna steht in wirtschaftlich-kultureller Beziehung hinter Suwalki und Kowno bedeutend zurück. Die national sehr gemischte Bevölkerung kommt auf dem sandigen und wenig ertragfähigen Boden nicht recht vorwärts. Von dem litauisch-nationalen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung hat Wilna in seiner Abgelegenheit am wenigsten profitiert.

Die Stadt Wilna mit gegen 200.000 Einwohnern, von denen 18% orthodox, 34% katholisch und 47% Juden sind, war früher Residenz des Generalgouverneurs und gegenwärtig noch Sitz eines römisch-katholischen Bischofs (z. Z. Sedisvakanz). Das Bistum ist 1388 gegründet und hat bisher 38 Bischöfe, darunter mehrere aus den altlitauischen Adelsgeschlechtern der Radziwill, Sapieha, Pac, Tyszkewicz und anderer, aufzuweisen. Wilna liegt in anmutigem Hügelland an dem Zusammenfluss der Wileika mit der Wilja. Der auf steiler Höhe ragende Turm der alten Königsburg Gedimins schaut weit hinaus in die Lande. Überall auf Schritt und Tritt findet man Spuren und Denkmäler einer Vergangenheit, die im krassen Widerspruch steht mit dem der Stadt von Russland aufgezwungenen Gewande. Das polnisch-litauisch-weißruthenische Element kommt hier gegenüber dem noch immer als Eindringling geltenden Groß-Russentum sehr stark zur Geltung. Verflossene Jahrhunderte erzählen, daß Litauen ein Vorposten abendländischer Kultur und seine Hauptstadt eines ihrer Bollwerke war. Aber furchtbare Leiden hat die Stadt im Laufe der Geschichte über sich ergehen lassen müssen. Deutsche und Franzosen, Schweden und Tataren haben tiefe Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen. Wilna ist nächst Moskau und Kiew die Stadt der Kirchen. Vor allem fällt der mächtige Bau der St. Stanislaus-Kathedrale in antiker Tempelform auf, die 1801 umgebaut worden ist. Sechs mächtige dorische Säulen tragen den Portikus, dessen Giebelfeld mit Skulpturen sehr reich geschmückt ist. Das teilweise im barocken Stil umgebaute Innere birgt als größten Schatz den seit 1636 aufgestellten silbernen 1200 kg schweren Sarg des heiligen Kasimir. Dazu kommen noch silberne Statuen polnisch-litauischer Könige und Königinnen. Neben der Kathedrale erhebt sich ein runder Turm, auf dessen Unterbau die Heidenpriester dem Volke Götterlehren verkündigt haben sollen. Ein Raum unter der Kathedrale birgt noch einen Altar aus heidnischer Zeit. Es gibt in Wilna 6 griechischkatholische Klöster, 34 orthodoxe Kirchen und Kapellen, 15 katholische, 2 protestantische Kirchen und 77 jüdische Synagogen und Bethäuser. Die meisten griechischen Kirchen sind aus römischen umgeweiht und dem Turm meist eine Zwiebelform verliehen. Die deutsche evangelisch-lutherische Kirche stammt aus dem Jahre 1550. Das besondere Heiligtum Wilnas bildet das „scharfe Tor“ (Ostrabrama), ein Torweg, über dem in einem Bogengewölbe eine Kapelle mit einem wundertätigen schwarzen Marienbild sich befindet, das für Litauen dieselbe Bedeutung hat, wie Czenstochau für Polen. Alle den Torweg Durchschreitenden, ob Katholiken, Russen, Protestanten oder Juden entblößen ihr Haupt, Hunderte knieen zu jeder Tageszeit an den Straßenflanken. Weiter ziehen die Theresien-, St. Annen- und Peter-Paulskirche, das Residenzschloss der Wilnaer Bischöfe, das später Sitz des russischen Gouverneurs war, die ehemalige Universität, die 1832 aufgehoben wurde, deren wertvolle 220.000 Bände umfassende Bibliothek aber der Stadt verblieben ist, und manche verborgene Paläste der alten litauischen Adelsgeschlechter den Blick auf sich. Im Übrigen sind die Straßen eng und schlecht gepflastert, in denen besonders die Armut der jüdischen Bevölkerung unangenehm auffällt. Sie tragen oft zwei verschiedene Namen, einen offiziellen und einen alten volkstümlichen. Die russischen Hausinschriften wechseln in wirrem Durcheinander mit polnischen, litauischen und hebräischen ab. Drei Denkmäler sollten den echt russischen Charakter der Stadt bezeugen: das der Kaiserin Katharina II., die Litauen unter russische Herrschaft brachte, das des „Hängers“ Murawjew und das des Dichters Puschkin. — Unweit Wilna am Oberlauf der Wilja liegt herrlich auf hohem Ufer das Schloss Werki, wo einst die Wilnaer Bischöfe ihren Sommersitz hatten; dies spätere Eigentum des Fürsten Hohenlohe ist jetzt ziemlich verödet. Südwestlich von Wilna über die Bahnstation Landworowo hinaus liegen auf einer Insel die noch heute mächtigen Ruinen des uralten Traken, einer Burg, die mit Litauens ältester Geschichte aufs engste verknüpft ist. Dort hat Keistut residiert, dort ist Witaut geboren. Später war Traken die Hauptstadt der großen Wojwodschaft gleichen Namens, ist gegenwärtig aber zum Dorfe herabgesunken. — Die weiteren Städte des Gouvernements nehmen unser Interesse nicht sonderlich in Anspruch.

Zur „Militärverwaltung Litauen“ zählen aus dem früheren Gouvernement Wilna folgende Kreise: Merecz-Olita, Koschedaren, Schirwinten, Maliaten, Podbrodsie.