Lindert die bittere Not unserer alten Leute! Mit zwei Aufnahmen von Heinrich Lichte & Co.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Otto Gnadler. im Auftrage der „Altershilfe des deutschen Volkes“ (Volksammlung für das notleidende Alter), Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Not, Elend, Hunger, Kranke, Alte, Pflegebedürftige, Lebensbedingungen, Notstandsmaßnahmen, Altersheim, Sozialhilfe,
Es gibt Menschen, die an allem Zweifeln, was man ihnen sagt, die auch dann noch nicht an das große Elend in breiten Schichten unseres Volkes glauben wollen, wenn man sie in einzelnen Fällen davon überzeugt hat. Dann meinen sie, es seien Ausnahmen. Entspräche der Einwurf der Wahrheit, dürfte man allerdings nicht sagen: Tausende, viele, viele Tausende leiden bei uns bittere Not. Das Elend in den sogenannten Rentnerstädten ist grenzenlos. So meldet man aus Heidelberg, dass dort manche alte oder erwerbslose Leute buchstäblich verhungern. Dort starben im August 1921 sieben Mitglieder des Kleinrentnerbundes aus Mangel an Nahrung an völliger Entkräftung, andere Angehörige dieses Vereins verbrachten fast den ganzen Tag im Bett, weil Ruhe und Wärme den Hunger weniger fühlbar werden lassen, manche genossen nur jeden zweiten Tag eine warme Mahlzeit, andere konnten nicht einmal mehr die nötigsten Ausgänge unternehmen, weil ihnen die Kleidung dazu fehlte.

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Und so, wie es dort ist, sind diese entsetzlichen Zustände fast in allen deutschen Städten, heute nur noch weit schlimmer, denn seit August 1921 sind die Lebensbedingungen viel trauriger geworden. Überall gibt es Elendswinkel, die oft dem Auge der Nächststehenden verborgen bleiben, bis der Tod eintritt. Überall siechen Kranke, Alte, Pflegebedürftige dahin, die einem trostlosen einsamen Sterben entgegensetzen. Immer mehr häufen sich die Selbstmorde verzweifelter alter Leute, die nirgends mehr Hilfe zu finden vermochten, oder die nicht durch längeres Leben die Not ihrer Angehörigen noch mehr steigern wollten. Unsere Redaktion erhielt häufig Anfragen, wo pflegebedürftige Leute in Anstalten untergebracht werden, oder wo man sich für den Rest des Lebens einkaufen könne. Man wollte uns fast nie glauben, wenn wir mitteilen mussten, dass alle Einrichtungen, die solchen Zwecken dienen, überfüllt seien. Leider ist man aber auch im Publikum der Meinung, dass alte Leute ja nur in solche Anstalten einzutreten brauchten, um nicht verhungern zu müssen. Man hilft sich dann wohl damit, zu sagen: „Dann muss eben der Staat helfen!“ Das Reich, die Länder und die Stadtverwaltungen haben eingegriffen. Ein Gesetz über Notstandsmaßnahmen zur Unterstützung von Empfängern von Renten aus der Invaliden- und Altersversicherung ist geschaffen, und die Vorlage zur Unterstützung der Kleinrentner ist eingebracht. Viel Not kann damit gelindert werden, aber diese Mittel genügen bei weitem nicht. Alle müssen helfen! Hier zu versagen, wäre Schande!



Die Not der alten Leute. Herr N., 82 Jahre alt, von Beruf Tischler, früher selbständig. Er war froh, durch den Aufenthalt im Stift nach dem Tod seiner Frau für seine alten Tage versorgt zu sein. In einem Berliner Altersheim hat er ein Zimmer, Heizung, Beleuchtung und Kochgas frei und bekommt einen monatlichen Barzuschuss von 140 Mark. Aber dies Geld reicht nicht aus, um Beköstigung, Wäsche usw. davon zu bestreiten. Nun hat der alte Mann wieder angelangen zu arbeiten, er macht Reparaturen und dergleichen und verdient sich noch ein paar Mark damit. Die jetzt einsetzende Sozialrentnerhilfe kommt leider für ihn nicht in Betracht, da er als selbständiger Meister keine Versicherungsmarken kleben konnte; er ist also allein auf den Barzuschuss von monatlich 140 Mark und seinen kargen Nebenverdienst angewiesen.

Veranstaltet von der Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege hat sich ein Unternehmen gebildet, die „Altershilfe des deutschen Volkes“, das eine Volkssammlung für das notleidende Alter in die Wege leiten wird *).

Das tiefe Wort eines Weisen lautet: „Alles Elend in der Welt entspringt einem Mangel an Phantasie“. Eine erschütternde Wahrheit, denn wo keine Vorstellung vom Jammer möglich ist, versagt das Gefühl. Darum fühlen sich Menschen erst ergriffen, wenn die Verzweiflung offenbar wird. Es ist also weniger Herzenshärte als die Unfähigkeit, sich vorzustellen, welches Matz von Leiden auf andere Menschen gehäuft sein kann. Um es zu fassen, müssen sie erst selbst darunter zusammenbrechen und ihm erliegen.

Was heißt altern! Es heißt: viele überleben, immer einsamer und hilfloser werden, bis die letzten Abendstunden leer, stumm und kalt dahinfließen. Altern ist hart, auch dann, wenn keine Sorge die letzten Jahre bedrückt. Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsere Freuden, sondern weil unsere Hoffnungen aufhören und dahinsiechen. Gesellt sich Armut, Kummer und leibliche Not, Mangel an Nahrung dazu, dann wird auch die Seele mit Lumpen behängt. Und da gibt es noch Menschen, die erst fragen, ob und wem sie geben sollen, wenn sie sich schon dazu aufraffen! Wer da erst fragen zu müssen glaubt, auf welche Weise ein Hilfsbedürftiger arm und elend geworden, und wie er die Wohltat anwenden wird, der ist ein armes, innerlich ödes Geschöpf. Genug, dass es Arme, Hungernde gibt! Fragen sind unnütz! Vorsicht ein Zeichen menschlicher Kälte! Wie armselig ist der flüchtige Sinnenkitzel, der Genuss einer besseren Nahrung, den ein paar geschenkte Groschen bereiten können! Bedenkt, die ihr gebt, doch lieber die Freude, die man dadurch in ein ausgehungertes Herz, in seine weiten, kalten, engen Adern erwärmend hineingießt; und wer da denkt: „Was soll mein Groschen viel dazu helfen können, Elend zu lindern?“ der möge bedenken, dass aus vielen kleinen Gaben große Kräfte wachsen. Hilft doch ein Gefangener dem anderen die Eisenfesseln tragen, weil seine ihm nicht so schwer dünken wie die des Bruders. Ein jeder Mensch hat, um einen gerechten Anspruch an Wohlwollen, Mitleid und Hilfe von feiten eines jeden Menschen zu haben, keinen anderen Titel vonnöten, als dass er ein Mensch ist. Öffnet Herzen und Hände, gebt unseren darbenden, kummervollen Alten; das bittere Wort Jean Pauls soll nicht wahr werden: „Man steigt den grünen Berg des Lebens hinauf, um oben auf einem Eisberg zu sterben.“ Gebt unseren schuldlos dahinkümmernden Alten, wenn ihr nicht erleben wollt, dass auch euer Ende kalt und trostlos werden soll, wenn einst das Geschick die schwere Hand auf euch legt und niemand euren stillen Jammer sehen will.



Die 78jährige Frau F. wohnt in einem dunklen, feuchten Keller in Berlin und kann sich darum von einer schweren Lungenentzündung nicht erholen. Sie bezieht 80 Mark vom Armenvorsteher und 8t Mark Invalidenrente, wovon 15 Mark auf die Miete für ihr dürftiges Obdach abgehen. Bisher hatte sie sich noch etwas durch Papiersammeln verdient; seit ihrer Erkrankung kann sie dies aber nicht mehr. Der Sohn ist Fensterputzer gewesen, dabei gestürzt und hat sich eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen, an welcher er noch jetzt in der Berliner Charité krank daniederliegt. Es ist fraglich, ob er wieder arbeitsfähig werden wird; doch ist die ganze Hoffnung der alten Frau, dass der Sohn dann wieder mehr für sie sorgen und sie vielleicht auch zu sich nehmen könnte.

Die Not der alten Leute

Die Not der alten Leute

Soziales, Die Not der alten Leute 2

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