Liebesleben der Skorpione

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Herrmann Radestock, Erscheinungsjahr: 1926
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Insekten, Spinnen, Giftstachel, Begattungsakt, Liebeswerben, Liebesleben
Während bei den Wirbeltieren das Männchen meistens größer und stärker als das Weibchen ist und aus diesem Grunde bei etwaigen Auseinandersetzungen den Vorrang hat, ist das bei manchen Insektenarten, besonders bei den mit Giftstachel bewehrten Spinnenarten, umgekehrt. Das hängt mit der ganzen Lebensweise zusammen. Nie wird man Spinnen, ähnlich den Bienen, Wespen, Hummeln, gemeinsam hausen, Nahrung suchen, spielend sich herumtummeln sehen, sondern die Spinne betrachtet, ähnlich wie Katze und Maulwurf, als Einzeljäger jedes ihm in den Weg kommende andere Tier, sei es auch von der gleichen Art, instinktiv als Feind und Wettbewerber. Selbst die kurze Befriedigung des Fortpflanzungstriebes steht dem starken Ernährungstrieb eines hungrigen Riesenweibchens dem Zwergenmännchen gegenüber nicht im Weg. Ja, die Tigerspinne Argiope bringt es fertig, zur Anlockung von Freiern einen besonderen „Hochzeitspfad“ zu bauen. Verduftet aber das kaum ein Viertel der weiblichen Größe messende Männchen nicht augenblicklich nach der Hochzeit, so wird es auf diesem unheimlichen Hochzeitspfad eingewickelt und gefressen! Als noch blutdürstiger erwies sich nach einer zuverlässigen Beobachtung das Weibchen einer Springspinne. Als nämlich zufällig zwei Freier zu gleicher Zeit erschienen, sagte sich die Hungrige, eine so günstige Gelegenheit kommt nicht gleich wieder, sprang erst auf den einen, dann auf den anderen und tötete beide Freier.

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Weiblicher Skorpion (links) nach dem Begattungsakt im Kampf mit dem kleinen Männchen, das vom Weibchen aufgefressen werden soll

Auch das auf unserer Abbildung rechts befindliche kleine Skorpionmännchen hat von dem großen Weibchen Ähnliches zu erwarten. Bereits ist es von den Scherenklammern des Weibchens erfasst. In dieser Lage empfängt es durch den am emporkrümmbaren Schwanz sitzenden Giftstachel den Todesstoß und wird verspeist. Wir möchten die Frau Skorpionin ob dieser „Heldentat“ nicht gerade beloben und in Schutz nehmen. Ihr Tun bleibt in unseren Augen grausam und barbarisch. Da aber die Natur nie ohne Grund grausam ist, muss die Tat der Skorpionin von einer anderen Seite, nämlich von der Mutter- und Brutfürsorge her, betrachtet werden. Wir wissen, wie sorgfältig zum Beispiel die Katze ihre neugeborenen Jungen auf dem Heuboden oder sonst wo vor dem Kater verstecken muss, damit sie nicht von ihm gefunden und gefressen werden. Nicht besser würde es den hilflosen jungen Skorpionen durch ihren Vater ergehen, der ganz in der Nähe auf sie lauert. Man könnte annehmen, solch ein Skorpionmännchen fände doch auch sonst Beutetiere genug, zum Beispiel die vielen Larven und Puppen von Käfern, die Schmetterlingsraupen und so weiter. Aber es ist durch Versuche erwiesen, dass diese unfertigen Tiere fast alle giftfest sind und wohl deshalb instinktiv vom Skorpion verschmäht werden, während die fertigen Tiere derselben Arten seinem Stich sofort erliegen, wenn sie der nicht sehr Behende erwischt. Kurz, die jungen Skorpione würden unfehlbar ausgerottet werden, die ganze Tiergattung würde binnen kurzem verschwinden und damit zugleich eine für die wärmeren Länder durchaus nicht überflüssige Insektenpolizei, wenn Mutter Natur den Skorpionmüttern nicht den Instinkt des Gattenmordes eingepflanzt hätte.

So grausam wie gegen das Männchen, ebenso treu besorgt ist die Skorpionin gegen ihre dreißig bis vierzig Jungen, die sie in eiförmiger Verpackung zur Welt bringt. Mit unendlicher Geduld und Zartheit zieht das sonst etwas plump zugreifende Tier mit der Spitze seines Oberkiefers ein Häutchen nach dem anderen herunter, was die Jungen selbst gar nicht fertigbekommen würden. Dann lädt sie die kleinen, etwa neun Millimeter langen, hilflosen, weißen Tiere auf ihren Rücken, wo sie ruhig auf der die ganze Zeit über unbeweglich und ohne Nahrung bleibenden Mutter bis zur ersten, nach acht Tagen erfolgenden Häutung verbleiben. Nun werden die Kleinen sehr beweglich, und die Mutter muss scharf aufmerken, dass keins verunglückt oder verlorengeht. Die Mehrzahl schmiegt sich auf der Erde an das Muttertier, einzelne halten sich an der durch die Häutung entstandenen weichen Decke auf dem Rücken der Skorpionin fest, andere klettern an deren gekrümmtem Schwanz empor und benützen ihn als Aussichtswarte, solange, bis nachfolgende Geschwister sie verdrängen, wieder andere machen bereits kleine Streifzüge in die nähere Umgebung, werden aber von der fürsorglichen Mutter stets rechtzeitig mit den Fangscheren in die Bannmeile zurück geharkt. Diese Beaufsichtigung dauert weitere acht Tage. Die jetzt dunkel gefärbten Tierchen sind nun fast zwei Zentimeter lang und verlangen zu fressen. Doch dafür hat die Mutter nicht mehr zu sorgen. Eines von ihren Kindern nach dem anderen entfernt sich allmählich und lernt nun auf eigene Faust das Jagen auf kleine Insekten, wobei die jungen Skorpione instinktmäßig das Jagdgebiet ihrer bisher so fürsorglichen Mutter meiden, als ahnten sie, dass sie ihr jetzt schon fremd geworden sind und von ihr sogar als feindliche Wettbewerber um dieselbe Beute betrachtet werden.

Weiblicher Skorpion (links) nach dem Begattungsakt im Kampf mit dem kleinen Männchen, das vom Weibchen aufgefressen werden soll

Weiblicher Skorpion (links) nach dem Begattungsakt im Kampf mit dem kleinen Männchen, das vom Weibchen aufgefressen werden soll