Tanz

Der „erste Walzer“ war kein Raschwalzer gewesen, sondern ein Galopp, und wie sich von selbst versteht, hatten Justus und Agathe den Ball eröffnet, der ja ihnen zu Ehren von Alborns gegeben wurde. Sodann folgten ein paar andere Rundtänze, und nun sollte der „Contre“ kommen, es wurde schon dazu aufgefordert. Auch unser Karl musterte die holde Schar der Damen, er sah hierhin und dahin, mit einer gewissen ernsten Dringlichkeit, die sprechend ausdrückte, was es auf sich hat für einen jungen Herrn in Tanzgesellschaft, die engagierte Schöne nicht finden zu können. Dann verließ er den Saal, suchte die Nebenzimmer ab und kam wieder zurück. Er strich sich den Backenbart, steckte zwei Finger lüftend in die weiße Kravatte, sah sich abermals überall um, ebenso forschenden Blicks und machte zuletzt ein Gesicht, als wollte er sagen: „wo blieb sie denn nur — sie wird doch nicht ganz und gar verschwunden sein!“ Die Sache war einfach die. Gretchen Engelrecht hatte gegen Ende des vorigen Tanzes jenen gelinde erschütternden Krach in der Taille verspürt, der das Missgeschick eines abgetretenen Besatzes oder ausgerissener Falten in der Regel schon als vollendete Tatsache verkündet, so dass selbst das schnellste instinktive Nachgeben zu spät kommt. Inzwischen war die kleine Verlegenheit glücklich beseitigt, Gretchen wartete nur noch auf Aurelie Jäschek, der eine Schleife abgefallen, ein Band aufgegangen war, oder — was weiß ich, nur so viel weiß ich, dass beide junge Damen, obwohl sich noch ziemlich fremd und dem ersten Eindruck nach nicht sehr sympathisch, in der Tat einem aufrichtigen Herzensbedürfnis folgten, da sie Arm in Arm wieder eintraten. Es war das schwesterliche Schutz- und Trutzbündnis jungfräulichen Zarismus gegen müßige Neugierde — namentlich das profane Männergeschlecht durfte ums Himmelswillen nicht ahnen, weshalb sie sich so lange zurückgezogen hatten, obwohl es doch durchaus nichts Böses ist, dass die jungen Mädchen nicht schon in fix und fertiger Balltoilette auf die Welt kommen.



Gretchen erblicken und ihr entgegen eilen mit dem verbindlichsten Lächeln, war eins für Karl, der also nicht gesonnen schien, das kleine Unbehagen des Wartens die sehnlichst Erwartete entgelten zu lassen.

Schon hatten sich unterdessen die Kolonnen geordnet, jetzt traten rasch auch noch Karl und Gretchen an, sowie Aurelie und Hans Engelrecht, Gretchens Vetter, als ihr vis-a-vis. Der Aufführende klatschte in die Hände, die Musik, die vorher signalartig nur die ersten Takte gespielt und dann wieder abbrach, setzte definitiv ein, der Kommandierende rief: „Avant en quatre!“ und mit aller Anmut und all der unterhaltenden Mannigfaltigkeit, die man vom Nationaltanz des elegantesten und, für die Reize heiterer Abwechslung gewiss nicht unzugänglichsten Volkes der Welt erwarten darf, entwickelte sich die Française. Graziös schwebten die Damen dahin, gewandt flitzten die Herren zwischen ihnen durch, herüber und hinüber schlang sich die lebendige Kette, und aus den verschiedenartigsten Figuren ging zuletzt doch stets wieder die ursprüngliche Ordnung hervor. Auf strenge Durchführung der Pas wurde nicht viel gegeben, es war damals bereits, wie noch jetzt, mehr ein rhythmisches Schlendern im Contretanz, namentlich von Seiten der Herren. Nur bei den Solos schwang sich Einer und der Andere zu der außerordentlichen Kunstleistung eines kühnen Entrechat auf. Ja, Hans Engelrecht wagte sogar, als die Reihe an ihn kam, die bescheidenen Mittel seiner beiden Frackschöße in kecker Nachahmung, gerade so mit zierlich gespitzten Fingern beim Vortänzeln zu halten, wie die Damen ihre, allerdings etwas stoffreicheren Kleider. Gewiss, es war sehr albern, dennoch sah es drollig aus, und wie überrumpelt von der unvermuteten Improvisation des faden Scherzes lächelten im ersten Augenblick auch einige der Mädchen, so zu sagen wider Willen, dann aber setzten sie alle mit einander eine um so entschiedener ablehnende Miene auf, die diesem Eingriff in ein ausschließliches Vorrecht der weiblichen Grazie und — Rockfalten das verdiente Urteil sprach, — Bis dahin war Alles geglückt. Selbst „grande chaine“, bei der so leicht ein einziger Fehler die größte Unordnung hervorbringt, ging glatt und rund, ohne jeden Anstoß von Statten ... rechte Hand, linke Hand, linke — rechte, und so wurde im ganzen großen Kreis das gefällige Prinzip wechselnden Tausches der Hände mit tadelloser Präzision durchgeführt; schon rückten sich Karl und Gretchen wieder näher und näher, schon warf Aurelie dem jungen Engelrecht wieder einen ihrer großen Blicke zu und — nun haben sie sich gleich, im Nu sind ja Alle wieder beisammen, die zusammen gehören, dachte wohl, wer nichts davon verstand, ... da heißt's munter „tournez“ — rechts um kehrt! Und — einmal ist keinmal, sagte der Tanzmeister, der das artige Manöver erfand, erst wird sich die bunte Reihe auf der Wanderschaft auch rückwärts von A bis Z hübsch noch einmal durch einander kringeln!

Und wieder wurde die Musik abgeklatscht, und wieder die neue Tour auch mit einer andern Weise angefangen, was wie immer sehr „animierend“ klang. als käme jetzt erst „die wahre Höhe“, so amüsant es auch schon bisher gewesen. Die nunmehr folgende allerliebste Melodie war aus einer italienischen Oper, in welcher Gift, Dolch, schnöde Untreue, Verrat, Gattenmord und sonstige tragische Requisite nicht sparsam verwendet worden — es ließ sich aber auch recht nett danach tanzen.

„Sie passen schon wieder nicht auf,“ schalt Gretchen — und Karl sah lustiger drein bei diesem traulichen Verweis, als wenn seine Proberelation das allerbeste Zeugnis erhalten hätte. Nur schade, dass die Muntere, so liebenswürdig bedacht, ihn mit holder Bevormundung auf den rechten Weg zu leiten, selbst dabei ein wenig in die Irre geriet.

„Aber gnädiges Fräulein, wo wollen Sie denn da hin? Die Damen nach innen — die Herren nach außen — Sie sind doch kein Herr!“

Ohne grobe Unwahrheit durfte dies Gretchen in der Tat nicht behaupten, sie zog es daher vor, nur — zu lachen, während Karl die Stirn runzelte. Der Kommandierende kehrte sich aber nicht im Geringsten daran, und sein sofortiger zweiter Ordnungsruf, der Karl, selbst galt: „Mein Gott, kennen Sie denn nicht mal moulinet?“ klang noch aus einem ganz anderen Ton, und wirklich nicht viel milder, als ob diese betrübende Unkenntnis der Mühlen-Flügeltour die krasseste geistige und sittliche Verwahrlosung dartäte.

„Nein!“ antwortete Karl lakonisch, und Gretchen lachte noch herzlicher als vorher. „Es ist eine schreckliche Konfusion, wirklich gelungen!“ — Der Anführende fuhr fort, sich fast aufzurebbeln für die gute Sache der Ordnung, vermochte indessen nicht, der immer weiter um sich greifenden Verwirrung Einhalt zu tun. Alles Winken und Schreien, Schieben und Zerren war vergebens, es half nichts — die Tour mußte richtig von Anfang an wiederholt werden. Jetzt ging es aber auch wie am Schnürchen, denn Alle gaben Acht, und Jeder begriff es, selbst die Ungeübtesten, wie die zwei kleinen „Frischlinge“ — ein Paar noch sehr jugendliche Schwestern, die „auf die Diele zu bringen“ freilich Mühe genug gekostet hatte — sagte ihr älterer Bruder. Doch es war gar nicht wahr! Der neckte sie bloß immer. Die beiden netten Mädchen gefielen sehr, saßen keinen Tanz, und noch ehe der „Contre“ — sie hatten die geniale Abkürzung sich gelehrig schnell angeeignet — mit „großer Promenade“ sein heiteres Ende erreichte, war die Weltanschauung der beiden, erst letzten Herbst eingesegneten jungen Damen schon so weit herangereist, dass sie Gertrud Rademacher unbedingt beipflichteten, die bereits im vorigen Jahre die Gesellschaften besuchte und tiefsinnig „den ersten Ball für den schönsten Tag im Leben“ erklärt hatte.

Die Herren machten ihre Schlussverbeugung und die Musik schwieg — nur unserm Karl klang es fort und fort im Ohr, und nicht allein im Ohr. Ich glaube gar, er hörte noch immer Gretchens Stimme. Die Stimme mußte freilich Jedem gefallen, sie kam so weich und voll aus der jungen Brust hervor — immer gar herzig, bald in tiefen, fast ein wenig zu tiefen, aber so recht Vertrauen erweckenden Tönen, bald jubelhell sich aufschwingend wie Lerchensang. Und was sie süß lachte! Es war noch etwas kindlich Jauchzendes in Gretchens Heiterkeit. Dabei mochte sie keineswegs fortwährend scherzen und lachen, sie ging ebenso gerne auf ernste Gespräche ein. Aber das war eigen, Gretchen Engelrecht konnte so arglos und sanftmütig, ja schüchtern die Augen niederschlagen, allein schaute sie dann wieder empor, so blitzte aus diesen selben arglosen und sanftmütigen, ja schüchternen Augen ein Strahl unwillkürlicher, gleichsam verstohlener Schalkhaftigkeit. Legitimer Weise saß der Schalk allerdings nicht im Blick, sondern im Nacken der lieben Unschuld, dicht unter den beiden flockenartigen Löckchen, die sich noch nie dem fesselnden Aufstrich von Kamm und Bürste gefügt.



Eins dieser freiheitsliebenden Natürlichen streifte jetzt eben Gretchens Hand, die über der Schulter weg mit einem gewissen reizend lässigen Tasten sich zu überzeugen schien, ob auch in der Unordnung des Haupthaars Alles noch so wäre, wie es sein sollte. Der Spieß mit den beiden blanken Knöpfen von Gold und schwarzem Email, der die Flechten zusammenhielt, tat seine Schuldigkeit. Die vielfach durch einander geschlungenen braunen Zöpfe fühlten sich vollkommen probemäßig an. Ein beiläufiger Blick in den Spiegel, ein leichtes elastisches Neigen des Kopfes, halb nachgebend, halb Widerstand leistend, ein nicht starker, aber sicherer Druck auf die Haarnadeln — und auch der hängende Maiglockenstrauß sitzt wieder fest wie angenagelt! Dann kreuzte Gretchen beide Arme über dem Gürtel, was sehr ihre Gewohnheit war. Es gab das den biegsamen, geschmeidigen jungen Gliedern einen gar behaglichen Zusammenschluss, ein so angenehm erhöhtes Gefühl sicheren Beruhens in sich selbst.

Eigentlich schön war Gretchen Engelrecht nicht, namentlich keine von den Schönheiten, die nur schön sind — und nichts weiter, aber höchst anmutig war sie, und frisch — frisch wie die Blume im Morgentau, das mußte ihr der Feind lassen. Nach dem originellen geistreichen Gleichnis eines ihrer Freunde aber war Gretchen Engelrecht — ein Engel! Auch kam dem Engel die Neuheit der Erscheinung zu Statten. Sie war von auswärts, doch bereits seit einiger Zeit zum Besuche bei unseren Engelrechts, ihren Verwandten.

Nun trat Gretchen mit einem ganzen Rudel anderer hübscher Mädchen zusammen — und man muss sagen: all' die fröhlichen Gesichter, all' die bunten Farben, all' die feinen leichten, duftig zarten Stoffe und all' die schlanken zierlichen Formen, so dicht auf einem Fleck bei einander, das war ein durchaus erfreuliches Bild, nicht nur für den Kenner von — Bildern, sondern auch für den Liebhaber. Da tändelt die eine mit dem Strauß, die andere mit dem Fächer. Diese dreht ihr Armband um das schmächtige Handgelenk, jene widmet sich dem reizvollen Spiel, die Perlen, die ihren weißen Hals umschlingen, hin und her zu rücken oder eine um die andere weiter zu schieben, wie an einem Rosenkranz der Weltfreude; die niedliche Kleine neben ihr fasst nach der Busenspange — die schöne Brosche gehört zum selben Schmuck und hat ganz die gleichen vergissmeinnichtblauen Steinchen wie ihre ewig beweglichen Ohrbaumeln — während dort die blonde Schöne mit dem Apfelblütenkranz den einen Finger — es ist ja wohl das Zeigefingerchen? — auf die anmutig weiche Übergangslinie vom Hals zur Wange legt. Kurz, das lebhafte junge Blut äußert seine stets rege Beweglichkeit auf das mannigfaltigste — den holden Mund aber hält Keine. Alle haben sich unendlich viel Wichtiges und Interessantes mitzuteilen nach dieser ereignisreichen Quadrille. Und so stand fast jedesmal in der Zwischenzeit bis zum nächsten Tanze ein bald mehr, bald weniger zahlreicher Schwarm der schönen Kinder unter sich beisammen, um in festgeschlossener Masse, gewissermaßen auf Gewinn und Schaden genossenschaftlich versichert, den weiteren Aufforderungen oder — Nichtaufforderungen ruhig entgegen zu sehen. Namentlich Aurelie beobachtete dann stets eine streng neutrale Haltung, die auf alle Fälle gerüstet, äußerst zart und echt weiblich die wahren Interessen der Nachfrage und des Angebots zu vermitteln nicht ungeeignet sein mochte.

„Und nun schlage ich vor, wir lassen die Damen nicht länger schmachten,“ rief lustig einer der Herren vom „engeren Ausschuss“, die im gemütlichen Kabinett mit der Weinranken-Tapete die Bowle gründlich prüften. — „Was kommt denn jetzt?“ — „Raschwalzer.“ — Es wurde ausgetrunken, nur der junge Rademacher setzte sich haushälterisch und vorsichtig seinen Rest hinter die Gardine auf den Fensterkopf, Hans Engelrecht aber tauschte noch flink sein leeres Glas gegen ein volles, ich weiß nicht, sein „wievieltes“, das er sich geschickt von hinten her unter dem Ellenbogen des präsentierenden Dieners Schroke hervorlangte. Dieser, gleichsam wehrlos dadurch, dass er das große Umreichbrett mit beiden breit gespreizten Armes halten mußte, bemerkte die liebenswürdige kleine Hinterlist dennoch sehr wohl, nicht ohne ein feines Lächeln, an dem Würdegefühl des nobelsten Lohndieners der Stadt, listiges Verständnis für den Bowlenhumor der eleganten jungen Herren und Freude über die Anerkennung, die das Getränk fand, gleichen Anteil hatten. Noch zog einer der Tonangeber feine Haarbürste aus der Tasche und strich mit größter Ungezwungenheit sich die Frisur vor dem Spiegel wieder frisch auf, keinem — selbst mir nicht — mehr imponierend als unserm Max, dem „mitgebetenen“ Secundaner, der in diesem „sehr sicher auftretenden“ jungen Herrn den vollendeten Weltmann anstaunte. „Das ist'n Kellchen — der hat's heraus!“ — „O ja, er weiß zu leben,“ sagte Adolph, etwas gemäßigter in seiner Bewunderung, wie es dem höheren Standpunkte des gereisten Primaners entsprach. — Und der Walzer begann.

Karl schien diesmal nur zuschauen zu wollen. Er stand am Türpfosten. was nicht immer steif und unbeholfen aussieht, sondern unter Umständen auch recht interessant und romantisch lässt — aber deshalb tat er es nicht! Da klopfte ihm Justus' Vater, der freundliche Wirt, auf die Schulter: „Warum tanzen Sie denn nicht? Wenn solche Köpfe feiern . . . . . es sind ja noch Damen da, oder machen Sie doch wenigstens eine Extratour!“ Und der letzte wohlgemeinte Rat fiel auf keinen unfruchtbaren Boden. Erst holte Karl Gretchens Schwester, dann ihre Cousine, dann noch eine Cousine, demnächst eine jugendliche Tante. Hierauf hieß es im Moquirwinkel: „er macht sein Decernat ab.“ Karl arbeitete nämlich damals gerade bei dem Assessor, mit dessen Gattin er nunmehr offiziös hospitierte, im Privatleben war der Herr Assessor ein Onkel Gretchens. „Wer das Kleine nicht ehrt, ist des Großen nicht wert,“ oder er denkt: „die wächst mit der Zeit auch heran,“ hieß es wiederum in der Ecke der Spötter, als Karl demnächst das jüngste Töchterchen des Hauses beglückte. Allein die erste Auslegung hatte entschieden mehr Wahrscheinlichkeit für sich. „Ich bewundere den alten Jungen, sagte Bruder Ferdinand, jetzt macht er sich sogar an die zweite Perwitt — ja, ja, mein Karlchen, mit der kutschiert sich's nicht so bequem, wie mit 'nem gut geschmierten Beschlagwagen — es ist ein wahres Scharwerk — schade, hätte ich das im Voraus gewusst, ich hätte mir eine eiserne Brechstange oder 'nen Hebebaum mitgebracht zum Umkantern der leichten Kleinen.“ Aber ihre Mutter war doch auch eine geborne Engelrecht — also nur immer zu, immer munter vorwärts! Frisch gewagt, ist halb gewonnen! Und so kam nach und nach die ganze, nur noch irgend lokomobile Damenverwandtschaft der ausgebreiteten Engelrecht-Albornschen Familie pflichtmäßig an die Reihe. Als dann erst, nachdem der strebsame junge Mann im Schweiße seines Angesichts allen Rücksichten der Höflichkeit genügt, belohnte er sich und tanzte extra con amore — mit wem aber, das sage ich nicht.



Schon zeigte sich auf manchen blühenden Wangen, Schultern und Armen jener dunkelrosige Hauch, der noch lieblicher wäre, wenn er nicht leider all zu leicht in unliebsame Hitzflecke ausartete — nur die, gleich der Tanzkunst selbst, ewig junge Wittwe, die bereits so viele Generationen von Gymnasiasten und Studenten eingetanzt, behielt unabänderlich fast dieselbe bleiche, mattglänzende Farbe wie die Besatzröllchen von weißem Atlas an ihrem Kleide. Schon begannen hie und da die duftigen Locken sich in schmachtende Zerflossenheit aufzulösen und drohten, am Ende ganz und gar auszufallen, denn ihr reizendes Gekraust! war allerdings nicht das alleinige Werk der schönen Natur, sondern Kunst — Pomade und Lederwickel hatten auch ihr bescheiden Teil daran. Schon wallten die Busen immer höher, und wenn gewisse Herren von unendlicher Suade, sowie das Paar ausgetanzt, gleich wieder auf die Dame einsprachen, konnte diese, gänzlich außer Atem und mit heftig klopfenden Halsadern, kaum Luft schöpfen, geschweige denn antworten. Und doch walzten noch immer wieder die folgenden Paare an, sowie die Vortanzenden in die Reihe zurückgetreten — noch immer hüpften und schleiften im raschen Dreivierteltakt die Fußspitzen über die glatt und glatter werdenden Dielen dahin, noch immer spürte man ein leises Beben und Dröhnen durchs ganze Haus, als hätten die Balken und Wände nicht üble Lust, selbst ein wenig mitzutanzen, noch immer flackerten und liefen die Lichte vom Zuge der heißen und keineswegs staubfreien Luft, zumal wenn so ein „Durchgänger“, dem das einfache Walzen nicht mehr zu genügen schien, mit verdoppelter Geschwindigkeit im Galopp oder vielmehr „Carrière“ vorüberras'te — noch immer streckten einige Herren den Arm steif aufrecht in die Höhe wie eine Segelstange, während andere in regelmäßigem, doch nicht anmutigem Wechsel der Hebung und Senkung „pumpten“, und noch andere die Hand ihrer Tänzerin mit dem wehenden Batisttüchlein sich dicht unter die Nase hielten und so verhimmelt dazu aussahen, als seien alle Wohlgerüche Arabiens nichts gegen den süßen Mischduft von kölnischem Wasser und durch und durch warmen Mädchen-Handschuhen — und noch immer wurde, wenn der letzte Teil des Walzers zu Ende war, unverzüglich wieder der erste Teil begonnen, als sollte nun schon fort und fort, mit echt deutscher Gründlichkeit und Gemütstiefe, nach dieser einen und selben Weise, wo nicht durchs ganze Leben, doch mindestens bis an den hellen lichten Morgen Raschwalzer getanzt werden.

„Ach, schon die Pause!“ Die jungen Damen waren ganz erstaunt, als endlich denn doch ein Strich gemacht und zu Tische gegangen wurde. „Natürlich, die hungern nicht, die dursten nicht, die werden schon vom bloßen Vergnügen satt!“ sagte unser Hausherr zu Frau Engelrecht, die er zur Tafel führte. „Namentlich im ersten Winter; nachher hat es mir wenigstens immer recht gut geschmeckt,“ antwortete die heitere Frau mit liebenswürdiger Unbefangenheit.

Auch verschiedene andere Herren Väter waren der Ansicht, dass nun das Schlimmste überstanden sei, als sie sich den Serviettenzipfel behaglich unter das Kinn ins Halstuch steckten, die Wildpastete „recht gut“ fanden und ihre Tischnachbarinnen zuvorkommend fragten: „weiß oder rot?“ Denn was waren den ernsten, gesetzten Männern die bisherigen unreellen Genüsse von Tee, Kuchen, zu süß gemischten Getränken und — Tanzen zusehen! Und an die Karten setzen mochten sich doch auch nicht alle. Für die verehrten Ballmütter hingegen kam die schwerere Hälfte des Vergnügens erst nach dem Essen. Sicherlich hatte Frau Rademacher bei Nachtwachen am Krankenbett, sowie in den holden Freuden und Leiden des Kleinkinderentwöhnens den bewundernswerten Heroismus mütterlicher Geduld und Unermüdlichkeit oft noch gediegener bewährt, aber war es darum etwa keine rührende Betätigung treuer Mutterpflicht, wie sie jetzt im schimmernden Ballsaal mit dem übermächtigen Schlummer rang, den Töchtern zu Liebe, die „unglücklich gewesen wären“, hätten sie nicht zum Kotillon bleiben dürfen!
Als die Stühle im Kreise gestellt wurden, hielt sich die treffliche Frau noch brav genug. Dann freilich nickte sie ein, rappelte sich aber schnell wieder auf, da es ihr — wenn gleich nebelhaft verschwommen und halb wie im Traume — doch gerade so vorkam, als ob der Herr ihrer Emilie, hingerissen vom Feuer der lebhaften Unterhaltung seinen Arm, allerdings nicht sehr passender Weise, hinter Emiliens Rücken — auf die Stuhllehne stützte. Als jedoch gleich darauf derselbe Herr dieser ihrer selbigen lieben Tochter Emilie denselben Arm direkt um die Taille legte und flott mit ihr abtanzte, war durchaus nichts Unpassendes dabei — und die wachsame Mutter konnte unbesorgt weiter nicken.



„Guten Morgen, liebe Rademacher,“ sagte unsere Hausfrau „wie ist Ihnen denn? — wieder ganz munter? Ja — das glaube ich — Sie sind gut d'ran, Sie haben nun schon gemächlich ein Paar Kopfkissen abgeschlafen — wir Andern müssen uns noch quälen!“

Wirklich war die Tour mit den Sträußen und Orden, die doch in der Regel nicht gleich Anfangs gemacht wird, bereits in vollem Gange, als Frau Rademacher, wunderbar gestärkt und erfrischt, die — wie sie beteuerte — nur — „geruhten“, nicht im Schlaf geschlossenen Augen wieder aufschlug, gerade noch zur Zeit, um eine recht heitere und sie auch persönlich interessierende Episode des beliebten Schlusstanzes nicht zu versäumen. Denn eben stürzte sich ihr anderes Töchterchen, die Gertrud, „mit Todesverachtung“ in den dicksten Qualm des Rauchzimmers, um den Mann ihrer Wahl an einem der dort etablierten Spieltische zu suchen. „Darf ich bitten, Herr Major?“

„Was — noch einen mehr zu meinen alten Ordens? Und so 'nen schönen Stern von Goldpapier! Ei, das lässt man sich schon gefallen.“ Der muntere Veteran sprang auf, ließ sich „dekorieren“, zog geschwind wenigstens einen Handschuh an und entwickelte all' die Galanterie, die ein alter Kriegsheld von so ritterlichem Sinn unter keinen Umständen verleugnen wird, selbst wenn er das jüngste und hübscheste Mädchen zum Tanze führt. Die ganze Bostonpartie geriet in Aufruhr, die Herren wollten sich alle den Spaß in der Nähe mit ansehen. Und es lohnte auch! Unser wackrer Onkel Major, trotz der alten Schusswunde im linken Bein, die sich immer noch von Zeit zu Zeit meldete, schwenkte seine Dreimal herum fürwahr noch so stramm und rüstig, wie der jüngste Fähnrich von — Anno Dreizehn. —

„Es war eigentlich nett von der kleinen Rademacher, dass sie mich alten Krümper auch mal wieder mobil machte,“ sagte der Major beim Nachhaufegehen zu Karl. „Aber am Ende hast du mir das eingebrockt — du tanztest wohl mit ihr — was?“ — „Nein, ich tanzte Kotillon mit Fräulein Engelrecht,“ lautete die Antwort ungemein förmlich. „Schwerenot, mit der hast du aber viel getanzt,“ entgegnete der Onkel etwas weniger förmlich. Eine Weile gingen sie still neben einander her, dann bat der alte Herr Karl um Feuer: „Du hast ja wohl?“ — „O ja, damit kann ich dienen, lieber Onkel.“ Onkel und Neffe blieben stehen, beide die Glimmstengel in der bekannten Schnäbelmanier zusammenhaltend, beide abwechselnd glühhell im Gesicht und beide taktmäßig saugend mit dem charaktervollen Eifer, den dies ernste Männergeschäft unter allen Umständen erheischt. „So, jetzt brennt sie — ich dank' dir schön.“ Karl wollte weiter, aber der Onkel hielt ihn beim Arm fest. Die Sterne am klaren Nachthimmel blitzten, die Straßenlaternen warfen ihren flackrigen Schein in die Finsternis; mehr blendend, als erhellend. Der Onkel Major räusperte mit all' der Energie einer kräftigen Kehle, die über dreißig Jahre im aktiven Dienste kommandiert hat, und nun — waren die Andern weit genug voraus. „Ja, was ich dir sagen wollte, Alterchen, tu' mir den einzigen Gefallen und verplempere dir nicht eher, als bis du Brod hast — es taugt den Henker nichts!“




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Liebesgeschichten
Die Tanzstunde

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Der Eröffnungstanz

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Prima-Ballerina

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Tanz auf dem fürstlichen Hofe

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Maitanz

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Orientalischer Tanz

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Tanz des Apollo mit seinen Musen

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Zigeunertanz

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Indischer Hochzeitstanz

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Venezianischer Hochzeitstanz

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