Schattenseiten

Alle Welt stimmte darin überein. Justus und Agathe seien ein sehr glückliches Paar, und gewiss das waren sie. Dennoch machten auch sie die allerdings nicht ganz neue Erfahrung, dass selbst das schönste Glück auf Erden kein vollkommenes ist.

Justus hatte von Kindesbeinen an einen Widerwillen gegen Milchspeisen, also natürlich — gleich am Abende des Verlobungstages, als die Terrine auf den Tisch kam, und der Deckel abgehoben wurde .... ach, du lieber Himmel — Milchsuppe! Nun, das wird nett werden! Allein wahre Liebe überwindet Alles, selbst die Haut von der Milch. Um sich nichts merken zu lassen, löffelte der Höfliche seinen Teller mit besonderem Eifer bis auf die Nagelprobe aus, was die Hausfrau wohlgefällig bemerkte, und fortan stand es fest bei ihr: „Justus liebt Milchgrütze.“ Auch später, als er sich keinen Zwang mehr antat, nützte ihm alles Protestieren nichts, es galt für Bescheidenheit, und er wurde stets auf das reichlichste mit der vermeintlichen Lieblingssuppe bedacht. —




Die Versendung der gedruckten Anzeigen, die das Paar gemeinschaftlich couvertirte und adressierte, hatte ihnen Beiden gleiches Vergnügen gemacht. Dagegen dachten sie nicht ganz gleich über die Briefe, die außerdem noch zu schreiben waren, um Freunden und Verwandten das Nähere mitzuteilen. Agathe konnte sich nicht genügen im Ausdruck ihrer Glückseligkeit und war unerschöpflich, immer noch eine neue Wendung zu finden, die das anmutige Geschäft vor der Langenweile beständiger Wiederholungen bewahrte. Justus aber leugnete nicht, er schriebe lieber jeden strohernen Geschäftsbrief, — Und weshalb? „Ich mag mir mein Glück nicht durch Phrasen trivialisieren,“ sagte er. —



Einem dreiwöchentlichen Visitensturm hatte unser altes Haus mit Gottes Hilfe und Dank seiner schmucklosen, aber soliden Bauart Stand gehalten, ohne dass Maurer oder Zimmermeister Stützen anzubringen für nötig hielt. Jetzt kamen die „Gratulationsgegenvisiten“ an die Reihe. „Einzige Kinder, zu Perwitts müsst ihr! Sie hat es mir schon so übel genommen, dass ich neulich zu ihrem großen Kaffee absagen ließ — sie vergäbe es mir im Leben nicht!“ Die Gehorsamen fügten sich mit Anstand in das Unvermeidliche. Doch wollte es Justus nickt gelingen, sich vollkommen klar darüber zu werden, aus welchen moralischen Gründen oder aus welcher juristischen condictio der Schwiegersohn dafür zu haften hätte, wenn die Schwiegermutter keine Freundin ist von Allerweltskaffees mit zehnerlei Kuchen und Stadtklatsch in noch größerer Auswahl. —

Immer mehr wurde Alborn den Eltern Sohn. den Geschwistern Bruder, und die Frau Stadträtin, seine Mutter, fing bereits an, leise zu Nagen: „Justus gewöhnt sich aber auch ganz von uns ab!“ Allein der Mensch ist ein gar schwaches Gefäß. Selbst die besten, liebevollsten Gemüter können sich nicht immer auf gleicher Stimmungshöhe halten. Trat nun jene unglückliche Stellung der Gestirne ein, die es so sehr erschwert, liebenswürdig mit Vorsatz zu sein. während der freie Trieb des Herzens die löbliche Absicht leider nicht unterstützt, so quälten sich die eingebornen Kinder des Hauses nicht erst lange, sondern waren einfach und offen — unliebenswürdig. Machten sie aber von diesem angenehmen Vorrecht ursprünglicher Familienangehörigkeit einen zu freigebigen Gebrauch, so konnten sie auch sicher sein, nicht minder offen und ohne

Umschweife auf den Zopf zu bekommen, selbst diejenigen, welche ihr Haar ungeflochten und so kurz trugen wie der Rekrut, der eben unter der Regimentsschere gewesen ist. Wie nahe uns Allen Justus schon stand, dasselbe summarische Verfahren ließ sich doch noch immer nicht so ohne Weiteres auch bei ihm anwenden. Die unausbleibliche Folge waren gelegentlich kleine Misshelligkeiten nach verschiedenen Seiten hin, bei denen Agathe oft mehr litt, als Alborn selbst, und dann am meisten, wenn sie ohne geflissentliche Selbsttäuschung ihrem Justus innerlich in der Tat nicht so ganz Recht geben konnte. Ganz Unrecht hatte er natürlicherweise nie, wir Andern wussten ihn nur samt und sonders nicht richtig zu nehmen. Die einzig richtige Art, mit dem Trefflichen umzugehen, bei der man auch ganz sicher war, stets gut mit ihm auszukommen, schien aber die zu sein, dass ihm auf jeden Fall und unter allen Umständen der Wille geschah — sofern das Beispiel der lieben Braut maßgebend sein durfte.



Obschon selten ein Tag verging, an dem Justus nicht zu uns kam, fand doch ein ziemlich lebhafter Depeschenwechsel statt. Einmal schrieb Agathe auch wieder, schon in früher Vormittagsstunde, und die Flore mußte als postillon d’ amour sofort das duftige Billetchen hintragen. Die Sache hatte also Eile — es war ein Citissime. Das süße Briefchen auf zartestem rosa Papier lautete kurz und bündig: „Für Dich allein — ganz allein! Du lieber, lieber Justus — guten Morgen! Ich schicke Dir hier ein Blatt von meinem Epheu, das habe ich geküsst, das musst Du auch tun und schickst es mir dann umgehend zurück.“ Verliebe, liebe Justus würde als prompter Geschäftsmann, der er war, es sicherlich nicht daran haben fehlen lassen, der anmutigen Requisition sofort nachzukommen, obwohl die Pièce nicht den registraturmäßigen feuerfarbenen Umschlag der schleunigen Sachen hatte. Aber seine Mutter war gerade bei ihm, und zwar auch in einer Geschäftsangelegenheit, jedoch in einer weniger lieblichen, sie half ihm — den Wäschzettel redigieren, eine literarische Beschäftigung, die für die wirtschaftliche Frau Stadträten einer gewissen Verklärung im häuslich gemütvollen Sinne immerhin fähig, ihren Sohn hingegen so überwiegend prosaisch anmutete, dass es ihm in diesem Augenblick rein unmöglich war, dem poetischen Verlangen der zärtlichen Braut sofort zu entsprechen. Sie erhielt durch die rückkehrende Flore den etwas trockenen mündlichen Bescheid: „der Herr sagte nur, es ist schon gut!“

Es war aber noch gar nicht gut! Und wenn auch Justus hernach die Unbefangenheit hatte, zu seiner Verteidigung schlecht und recht den wahren Sachverhalt nicht zu verschweigen, es gingen doch erst Stunden und Stunden darüber hin, und so lange mußte die Arme nun harren und schmachten, nicht ohne schwere Anfechtung von ihrem alten Fehler, — einer allzugroßen Empfindlichkeit. Wie oft glaubte sie sich nicht schon davon frei gemacht zu haben — wohl eben so oft, wie der alte Fußsteg, der quer über den Mühlenacker ging, umgepflügt wurde! War aber die Bestellung vorüber, und sprießte die hoffnungsvolle junge Saat von neuem auf, so war der alte Weg — und der alte Fehler doch auch immer wieder da, obgleich es nicht sein sollte. „Und wenn er mir nur mit einer einzigen freundlichen Zeile geantwortet hätte, ich wäre ja ganz glücklich und zufrieden gewesen, aber dies kalt abfertigende „es ist schon gut“, das nehme ich ihm wirklich übel!“

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe.
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Was aber das andere Mal, an jenem trübseligen Sonntage eigentlich vorgewesen, mag der liebe Himmel wissen. Agathe gab sich redlich Mühe, heiter zu sein, diese Art Heiterkeit einer glücklichen Braut mit schwimmendem Glanz des Auges, gefiel uns jedoch gar nicht. Und Justus war auch nach Kräften bemüht, sich aufzuheitern. Er trank ein Glas Wein nach dem andern. Schade um den schönen Sauternes, der mit Sinn und Verstand genossen sein wollte! Er goss ihn ja wie Wasser hinunter. Allein statt munterer zu werden, zog der Missgestimmte sich nur immer mehr und mehr in sich zurück und versank zuletzt vollständig in düsteres Schweigen. Sonst wunderten wir uns immer, wo die Beiden nur all den Stoff hernahmen zu ihrem unablässigen Geplauder. Heute hatten sie sich früh genug ausgesprochen, und kaum schlug die Bürgerstunde, so ging Justus. Doch so früh er ging, so früh kam er Tags darauf auch schon wieder, und so früh er auch wiederkam, schien er doch unterdessen bereits hinreichend Zeit gehabt zu haben, sich die Grillen zu vertreiben. Vielleicht dachte er über Nacht: ??Der klügste gibt nach,“ und Agathe dachte: „Wer nachgibt, hat den Andern am meisten lieb,“ oder umgekehrt. Gleichviel, Verstand und Herz kamen sich halbwegs entgegen, und so konnte es nicht fehlen, dass schnell Alles vergeben und vergessen war. Ein sicheres Symptom der Versöhnung zeigte sich unter Anderem auch in einem scheinbar sehr unbedeutenden Umstande. Am Abend zuvor — Sonntags — war Justus' Hemdskragen doch wahrhaftig so steif und starr gewesen, als würden bei Alborns die feinen Oberhemden von der Medusa gekraftmehlt und geplättet, und am Montage sahen wir die eine Hälfte seines Kragens schon wieder so gemütlich zwanglos umgeklappt, wie es der normale Zustand ist für jeden Hemdenkragen eines glücklichen Bräutigams — umgeklappt nämlich auf der Seite, nach welcher die Sonnenblume immer den Kopf hindreht, also nicht auf der — Schattenseite.

„Gut, dass die beiden jungen Leute keine Ideale sind! sagte unser alter Hausfreund, indem er mich vertraulich bei Seite nahm, und das ist mir namentlich um Agath'chens willen lieb.“

„Wie so denn?“

„Ja, wer weiß, ob sie sich sonst so sehr lieben möchten! Lachen Sie nicht — das ist mein voller Ernst. Aber sagen Sie's Keinem weiter! Mädchen, die ganz fehlerfrei sind oder zu sein scheinen, bleiben öfter sitzen, als solche, deren reizendes Wesen vielleicht nicht zum geringsten Teil auf ihren Fehlern beruht. Denn die argen Männer werden leider in der Regel von ganz andern Dingen gefesselt, als durch diesen negativen Tugendpreis und gute Schulkenntnisse. Ja, man möchte glauben, es ist mit der Liebe wie — mit dem Schießpulver. Die stillglimmende Kohle leidenschaftsloser Neigung tut's wahrlich nicht allein, der leibhaftigen Teufelei Schwefel und Salpeter freilich auch nicht. Aber etwelcher süßer Unverstand, nebst einigen andern leicht explodierenden Ingredienzien, scheint allerdings nicht ganz unwesentlich mit dazu zugehören — wohl gemerkt, immer nur in mäßigem Prozentsatz — oder es kann großes Unglück geben. Und der das Menschenherz schuf, so stark und so schwach, so liebebedürftig und liebefähig, der darin des Himmels und der Erde Feuer so wunderlich mischte, wird wohl am besten gewusst haben, was er tat.“




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Liebesgeschichten