Die Frühstücksstube

Noch herrschte in dem beliebten Lokal jene nüchtern nachdenkliche Stimmung, welche allen der öffentlichen Geselligkeit geweihten Räumen, in denen es am Abend zuvor lebhaft herging, des Morgens eigen zu sein pflegt. Die Oberfenster standen schon lange offen, doch war die übernächtige Luft noch nicht ganz hinausgezogen, in der verdunstete Wein- und Biersäure, versessener Tabaksdampf und der beim Ausfegen aufgeregte Staub sich innig durchdrangen. Sonst war die große Stube vollständig aufgeräumt, der tiefeingegraute Fußboden frisch mit feinem Sande bestreut, jeder Tisch und Stuhl wieder zurecht gerückt, die Mostrichbüchsen, Salz- und Pfefferfässchen hatten neue Füllung erhalten, so wie der Fidibusbecher und die gemeinsame Dose mit der alten, aber noch immer unübertroffenen Inschrift: „Wenn sich Herz und Auge laben, will die Nase auch was haben.“ Die neueste Nummer des Wochenblatts und ein paar Zeitungen lagen auf dem Haupttisch, der, eben nass abgewischt, noch hier und da einen ungewohnten Glanz zeigte, während der Lederbezug des alten Sophas, vor dem er stand, an den ausgesessenen Stellen stets so schon blank poliert aussah, wie jetzt. Kurz, die „Stammkneipe“ war empfangbereit, es fehlten nur noch die Stammgäste.

Und nun kamen die Ersten der Getreuen. Es waren junge Rechtsgelehrte, die den Schluss der Session nicht abgewartet. Nachdem ihre Namen auf die Präsenzliste gesetzt, hatten sie das unterste Ende des grünen Tisches verlassen, um sich in diesen andern Senat zu begeben, wo Sitz und Stimme nicht von Rang und Dienstalter abhängig waren.




Der Wirt begrüßte die Herren; diese bestellten, und der kleine Kellner war um so diensteifriger, ihren Befehlen nachzukommen, als ihm sein Prinzipal den ermunternden Zuspruch mit auf den Weg gab: „es ist wohl schon wieder zu lange her, dass ich dich nicht bei den Ohren genommen habe,“ Bald klappten die Deckel der, schäumend voll aus dem Keller herauf gebrachten Biergläser. Dennoch behielt der Genius des Ortes noch immer eine etwas matte Stimmung. Selbst die Beleuchtung des Zimmers war trübe, noch trüber als gewöhnlich. Denn Sonne, Mond und Sterne sah man auch sonst nie von Angesicht zu Angesicht in der traulichen großen Hinterstube, deren Fenster auf einen engen, ringsumbauten Hof hinausgingen. Auch die Unterhaltung war zunächst keine sehr angeregte, man hörte zwischendurch deutlich den Pendelschlag der alten Uhr auf der Konsole an der Wand, und ihr unablässiges, pedantisch regelmäßiges Ticktack-Ticktack mahnte ernst, selbst die Trägsten, die nie aus den Resten kamen, die kurze Spanne Zeit des Erdenlebens zu nutzen und sich d'ran zu halten, wenn sie es noch bis Mittag auf eine anständige Zahl von Seideln oder Schoppen bringen wollten. Da ließ sich ein wohlbekannter Ton vernehmen, der das niedergedrückte Menschenherz von jeher gar tröstlich ansprach. Der Ton kam nicht unerwartet und doch ein wenig überraschend, wenn auch keineswegs erschütternd. Er hatte etwas Plötzliches, doch nichts Jähes, etwas Kräftiges, doch durchaus nichts Gewaltsames, ja seine herausplatzende Energie war nicht ohne eine gewisse weich schwellende Elastizität — der Herr Wirth in halbgebückter Stellung, welche die sonst gerade Haltung seiner Figur gleichsam im Zickzack einbog, klemmte die Knie zusammen, verzog das Gesicht, wie man's wohl auch bei einer mäßigen Anstrengung tut, seine Armmuskeln spannten sich, langsam, aber sicher hob die scharfe Spirale des Ziehers in seiner Hand den Kork, den er tief durchbohrt hatte, und — die erste Flasche vom besten Roten war entstöpselt. Die erste blieb aber nicht die einzige und letzte. Die Stimmung wurde eine immer gehobenere, und selbst der schwermütige junge Mann mit semmelblondem Haar und bleicher, ins Aschgraue spielender Gesichtsfarbe, der bisher so starr in die finstere Ecke geblickt, wo der Spieltisch stand, scheinheilig zusammengeklappt, wie das böse Gewissen, das es auch nicht liebt, wenn ihm der helle Tagesschein in die Karten guckt, fasste wieder neuen Lebensmut und trällerte: „lasst doch der Jugend — der Jugend — der Jugend ihren Lauf!“

Inzwischen hatte sich der Kreis erweitert, auch einige nicht mehr junge Herren waren erschienen. Unter anderen der Rechtsanwalt mit scharfer Brille, scharfer Feder und nicht stumpferer Zunge, von dem das trostvolle Wort herrührte: „jeder Staatsbürger ist verpflichtet, die Gesetze zu kennen, nur die Auskultatoren nicht, die sollen sie erst kennen lernen“, — der Kassenrat, welcher zu sagen pflegte: „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand, die Staatsregierung ist jedoch durchaus nicht in der Lage, sogleich Diäten zu bewilligen, von festem Gehalt ganz zu schweigen — ferner der Kriminalrichter, ein wohlwollender Mann und der jovialste Gesellschafter beim Glase Wein. Wer ihn nicht kannte, wunderte sich, zu hören, dass der fröhliche Herr ein so entsetzlich ernstes Amt hatte; die ihn aber kannten, vermuteten nicht ohne Grund, dass es gerade die Last dieser düstern Amtspflichten war, die seinem Gemüt die heitere Zerstreuung zum Bedürfnis machte. Der Kriminalrichter, gewiss nicht über Fünfzig, hatte bereits einen schneeweißen Kopf und liebte sehr Musik, Die Session beider Abteilungen schien heute ungewöhnlich früh aus zu sein. Auch jener ehrgeizig missvergnügte Rath des Zivilsenats fand sich ein, welcher stets über Zurücksetzung klagte und sogar dem, Alles gleichmachenden Genius mit der umgekehrten Fackel Ungerechtigkeit in der Beförderung vorwarf: „Wenn jemand mit Tode abgeht, geht er nie vor mir, sondern allemal hinter mir ab,“ Jubel erregte, dass ausnahmsweise „Saul unter den Propheten“, der klassisch gebildete Geheimrat und Examinator die Frühstücksstube beehrte. Das war noch ein gelehrter Jurist der guten alten. Schule, die nun wohl schon ganz ausgestorben ist. Jeden Morgen, ehe er die Tagesarbeit begann, hatte er eine Stunde übrig für seine großen stillen Freunde aus dem Altertum, und Nachmittags auf der Promenade schloss er sich viel lieber Einem oder dem Andern der jungen Leute an, bei dem er ein wissenschaftliches Streben zu bemerken glaubte, als dass er mit dem routiniertesten Nummerntödter des Kollegiums ging, in dessen Schädel, wie der Geheimrat sagte, dereinst bei der Sektion nichts zu finden sein würde, als das Allgemeine Landrecht und ein Spiel Karten. Unserm Karl hatte der freundliche alte Herr nur noch vor Kurzem einen wahrhaft väterlichen Rat gegeben: „Lassen Sie auch nicht zu lange liegen, es muss nie dahin kommen, dass einen die Sachen so wie mit dem bösen Blick ansehen, sonst ist man verloren und macht am Ende ganz und gar bankerott — ist auch schon da gewesen, und es passierte dies Malheur gar nicht einmal immer den Unfähigsten.“

Zufällig kam die Rede auf den letzten Zopf in unserer Stadt, der bei einem frohen Gelage seinem Inhaber, jenem ehrsamen Schneidermeister, von kecker Hand mir nichts dir nichts abgeschnitten wurde. Es entstand ein Prozess darüber, und der Zopf lag, so erzählten die bejahrten Herren dem jüngeren Geschlecht, als corpus delicti den Akten bei. „Und daher ist auch sein Geist, der noch immer umgeht, so stets mit Aktenbindfaden gewickelt,“ fügte der Rechtsanwalt. Noch eine Menge anderer lustiger Geschichtchen aus alter Zeit wurden aufgetischt. Ja, die Erinnerungen des ältesten Stammgastes, der nie mehr eine Feder ansetzte, als alle Vierteljahr einmal, bei Erhebung seiner Pension, um die Quittung zu schreiben, reichten bis in jene ferne Vergangenheit zurück, wo es nur eine Weinstube im ganzen Orte gab — und wie viele sind jetzt! — wo die Justizkommissarien noch Assistenzräte hießen, und wo der unvergessliche Vorgänger des damaligen Präsidenten eben erst Direktor geworden, aber doch schon den Ausschlag in allen wichtigeren Sachen gab. Und da hätte denn der selige Zwickbach . . . . „hat Einer von Ihnen den Zwickbach vielleicht noch gekannt?“ fragte der greise Erzähler und nahm wieder einen Schluck von seinem Pontak, den er immer trank. Nein, Niemand hatte den seligen Zwickbach mehr gekannt. Doch wäre Karl zugegen gewesen, er hätte sich des Namens gewiss erinnert, der auch in seiner Eltern Erzählungen aus ihren Jugendtagen oft vorkam. Aber Karl fehlte wieder.

„Der Zwickbach also, ein grundgescheidter Mensch, aber ein Erzlustigmacher — und immer hatte er seinen Teufel mit dem Karikaturenzeichnen — fuhr der alte Herr fort, der ließ einst eine Federzeichnung am Sessionstisch sub lege remissionis rundumgehen, bis hinauf dicht an das hohe Präsidium. Auf dem Bock eines vierspännigen Wagens sah man den Direktor, der die Zügel hielt, — nicht der schwache Präsident neben ihm — im Innern der „Plenarkutsche“ aber saßen so viele von den Mitgliedern, als sich hineinbringen ließen, auch der Nogatis, unser damaliger Bedenklichkeitsrat, mit einem Perspectiv am Auge, und oben, gerade über ihm, stand „Vorgesehen, meine Herren, da liegt ein Steinchen!“ „Ja ja, jetzt sind sie alle tot, der Zwickbach, Nogatis, Präsident, Vizepräsident und Räte — alles tot, tot, mausetot!“



Die Uhr schlug Eins, der alte Rat außer Dienst erhob sich, der Wirt half ihm den warmen Rock überziehen, der kleine Kellner reichte Hut und spanisches Rohr, und der Nestor der Stammkneipe ging ab, ohne Schwanken, ehrwürdig steif — er hatte gerade seine richtige Ladung. Punkt Ein Uhr stand die Suppe auf dem Tisch, da mußte er zu Hause sein, sonst brummte seine Wirtschafterin. Denn Ordre pariren müssen wir alle, wer das sanfte Pantoffelregiment einer liebevollen Gattin scheut, fällt am Ende der Gnade seiner Köchin anheim. Und „wen der Teufel begris't, den begraut er auch — Gott verzeih' mir die Sünde, es ist ein hässliches Sprichwort, aber wahr!“ sagte unsere Hausfrau. Sie hatte Mitleid mit jedem Geschöpf, nur nicht mit Motten, Mäusen, Ratten, allem ähnlichen Gelichter und — ihren „Freunden“, wie wir scherzweise gewisse alte Herren nannten, die sich nicht ihrer besonderen Gunst erfreuten, und die merkwürdiger Weise sämtlich unvermählt geblieben waren. Der älteste Stammgast der Frühstücksstube gehörte auch zu ihnen.

Als er weg war, kam man bald wieder auf interessante Züge aus dem Rechtsleben der Gegenwart zurück, das natürlich wie immer die ergiebigste Quelle der Unterhaltung blieb. Die schon Jahre lang verschleppte Sache „Wallsteiner c/a Fiscus“ war abermals zur Vervollständigung der Beweisaufnahme in die erste Instanz zurückgewiesen. Die berüchtigten Winkelkonsulenten und Querulanten hörten noch immer nicht auf, durch unsubstantiirte Klagen, frivole Beschwerden oder gänzlich unsinnige Eingaben den Herren Wochendeputierten ihren, ohnehin nicht sehr beneidenswerten Posten noch mehr zu verleiden. Der alte Registratur-Assistent, der wenig Hoffnung hatte, diesseits des Grabes noch zu einer festen Anstellung zu gelangen, ein kleines dürres, von Kopf bis zu Fuß graues Männchen, war noch immer in der glücklichen Lage, außerordentlich wenig Bedürfnisse zu haben, sein einziger Luxus bestand darin, jeden Sonntag nach der Kirche ein Apothekerschnapschen zu trinken, und zufolge der neuesten Analyse des geschickten Chemikers, der diesen heilsamen Liqueur braute, war das ganze Kerlchen nichts als ein Convolut von Aktenstaub und Spinneweb. Das juristische Orakel sämtlicher Stadtdörfer, der vormalige Schullehrer Grashammel, sah stets scharf darauf, dass die Gegenpartei, die zum Schwur kam, nicht „durch den Knopf schwor“. Grashammel lebte der festen, obwohl
etwas mystischen Überzeugung, selbst der frechste falsche Eid gehe straflos aus, wenn es dem Meineidigen gelingt, während der Ableistung des Schwurs mit der andern Hand einen metallnen Knopf, an welchem Kleidungsstück es auch immer sei, unbemerkt zu berühren, als ob so gleichsam durch einen elektrisch diabolischen Leitungsapparat der rächende Blitzstrahl der Nemesis hinterlistig abgelenkt werden könne vom Haupte des Schuldigen. Der bekannte strenge Korreferent verlangte mehr als je, dass man den Flöhen nicht nur das Fell abzog, sondern es auch sauber gerbte. Und das Allerneueste war das Versehen eines der jungen Herren, der als Referent bei Absetzung des Erkenntnisses die gesetzliche Bestimmung über den Kostenpunkt ausgelassen hatte, was allgemeine Heiterkeit erregte — nur der Wirt blieb ernst. Er stand an seinem Pulte und schrieb Rechnungen.

„Aber welche krankhafte Anwandlung von Solidität hat denn der Knabe Karl? Er lässt sich ja gar nicht mehr sehen!“ sagte der Vater der Kneipe, ein stattlicher Mann mit hochblühender Gesichtsfarbe, immer noch jugendlichen Alters und doch von einer würdevollen Leibesrundung, die zu seiner unbestrittenen Autorität als Präses dieser Sitzungen sehr wohl passte: „Wir werden wahrhaftig auch eine Anwesenheitsliste auflegen müssen, sonst ist keine Ordnung in die jungen Leute zu bringen,“ Ein späterhin ergangenes, vielbesprochenes Rescript soll freilich eine andere Ansicht über das gewohnheitsmäßige Frühstücken des Richterstandes entwickelt haben.

Es wurden allerlei Vermutungen laut, um das Wegbleiben des Abtrünnigen zu erklären, allein Niemand traf den Nagel auf den Kopf. Am meisten mochte sich noch der Wahrheit nähern, was ein guter Bekannter von unserm Karl äußerte, der ihn jetzt öfter als sonst und noch ganz vor Kurzem in einer Familie sah, mit welcher er selbst verwandt war: „Ich glaube, er ist wieder mal lyrisch gestimmt!“




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Liebesgeschichten