Braut und Bräutigam

So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage — blies ein blinder Flötist bei Alboms vor der Tür. Schon während der glückliche Bräutigam sich zum Ausgehen ankleidete, hatte er das elende Flöten gehört, ohne im mindesten davon belästigt zu werden. Und nun beim Gange die Straße entlang, war es doch genau so, als käme ein kribbelig lustiger Ruck und Zug von der Schulter aus quer über seinen Rücken hernieder und würfe ihm die Hüften taktmäßig herum, oder als marschiere ein ganzes Musikcorps mit klingendem Spiel vor ihm her — genug, sein ästhetisches Gewissen mochte sich sträuben, so viel es wollte, was half's? Seine Beine mussten Schritt halten mit dem „alten Dessauer“, den der arme Blinde so erbärmlich schön auf seiner orangegelben Flöte, die rostige Klappen mit Beiluft hatte, zum Besten gab.

Als Justus um die Ecke bog, kam ihm ein Leichenzug entgegen. Er versuchte sich ernst zu stimmen, brachte es aber kaum zu einem halbwegs elegischen Gefühl, und so quälte er sich nicht länger. „Wie ist's nur möglich, wie kann man jetzt sterben, wo das Leben erst recht anfängt schön zu werden!“ jauchzte in ihm jener liebenswürdige Egoismus, der bei gesundester Jugendkraft im übersprudelnden Glücksgefühl gar nicht selten sein soll, selbst — auf dem Wege zur Braut.




„Das sind mal Stiefeln,“ sagte eine Stimme dicht hinter Alborn. „Und das feine Tuch im Rock,“ sagte eine andere Stimme, beide im Knabendiskant, und accompagnirt von dem gemütlichen Schlarren an den Hacken abgekappter Schuhe. „Es ist ein Bräutigam,“ sagte wieder die erste Stimme. — „Wie so denn?“ — „Siehst du nicht, wie lang ihm das Schnupftuch zur Tasche heraus hängt? und weil er so nobel geht. Ein Bräutigam muss schon immer was Patentes nehmen, hat letzt der Meister gesagt.“



Die Bemerkung war richtig. Justus ging etwas eleganter als vor der Verlobung, obwohl durchaus nicht stutzerhaft. „Das musst du doch Agathe erzählen — es wird sie amüsieren,“ dachte er und näherte sich dem Ende der lieben Straße, die jedoch mir in der Bräutigamstopographie so hieß. Auf dem blauen Schilde des wohlbekannten Eckhauses stand ein anderer Name .... jetzt hatte er es erreicht. Agathe sah ihn kommen, sprang auf und eilte hinaus, ihren Justus schon auf der Schwelle des Hauses zu begrüßen.

Und wieder wie so oft setzte sich der Bräutigam der Braut gegenüber ans Nähtischchen und bat sie, ruhig mit der Arbeit fortzufahren, was er gern sah, und, um doch auch nicht ganz müßig zu sein, spielte er mit dem kleinen Scherchen. Das war so fein und zierlich, so scharf und blank, und spiegelte sich gar nett auf der polierten Tischplatte. Wenn Agathe das Scherchen selbst brauchte, wand sie es ihm still freundlich aus der Hand, und wenn sie es nicht mehr brauchte, nahm er es sich wieder. Nur so viel auf- und zumachen durfte er das Scherchen nicht, davon wurde es ja stumpf!

Dann gingen sie im Zimmer auf und ab, bald Arm in Arm, bald Schulter an Schulter, den einen Arm umgeschlungen, nicht mal so sehr zärtlich, dem Anscheine nach, es hatte mehr was ruhig Gemütvolles, so zu sagen etwas Kameradschaftliches — oder Hand in Hand, die Finger nur lose in einander gelegt und die Arme nach dem Takt der Schritte schwingend, oder sie machten eine kleine Exkursion in die Nebenstube, obgleich sie da ganz allein waren.

Und jetzt standen sie am Fenster, am sogenannten „Blumenfenster“, und vertieften sich in ein leises Zwiegespräch, das nach und nach einen sehr ernsten Charakter annahm. Agathe lauschte Justus' Rede mit einer Andacht, als hörte sie dem Seelsorger zu, nicht dem Verlobten, während die schlanke Hand der sinnvoll Niederblickenden auf der lockeren schwarzen Erde ihres Myrthenbäumchens herumtupfte. Endlich lächelte Justus, aber es war ein ganz eigenes Lächeln. Denkender Ernst, männliches Selbstbewusstsein und liebevolles Überlegenheitsgefühl verklärten sich darin zu heiterer Zärtlichkeit, die allenfalls auch ein väterliches Angesicht hätte erhellen können, und der Wiederschein seines gehaltreichen Lächelns wurde bei Agathe zum Ausdruck demütiger Glückseligkeit. Sie errötete nicht, und doch hüllte sich die jungfräuliche Seele in ihren holdesten Schleier — wohl wegen der kleinen Liebkosung, mit der die Beichte schloss. Der Herr Bräutigam Beichtiger streichelte seinem lieben Beichtkinde gar sanft und zart, nur mit zwei Fingerspitzen, die Wange. Sodann schauten sie noch eine Weile in stillem Sinnen über die Straße nach dem Birnbaum hin, der auf dem Nachbarhofe dicht am Zaune stand, oder sie sahen auch wohl noch — etwas höher hinauf. Am wolkenfreien Himmel blinkten und zuckten einige silberhelle Strahlen, Anfangs schwach und schüchtern, sie kamen und schwanden, aber jedesmal wenn sie wiederkamen, schien dreister und heller der schöne Abendstern — der Stern der Liebe.

Man sieht, wir brauchten uns nicht besonders zu bemühen um die Unterhaltung der Beiden, sie waren sich in der Regel schon allein genug. Doch gehörten sie auch nicht zu der Art glücklicher Liebenden, die so „schrecklich ausschließlich“ sind, dass die übrige Welt kaum noch für sie da zu sein scheint, was namentlich von andern gleichfalls bereits herangereisten jungen Leuten übel vermerkt zu werden pflegt, die selbst noch unversagt, aber doch nicht gefühllos zusehen.

Später, nach dem Abendessen saßen wir wieder in altgewohnter Weise um den großen runden Tisch vor dem Sopha. Wir alle hatten Platz daran, und die Kinder konnten sich auch mit ihren Lieblingsbeschäftigungen darauf ausbreiten. Heute herrschten die, bei Licht eigentlich nicht gern gesehenen, zeichnenden und malenden Künste vor. — Von Tagesereignissen gerieten der Vater und Justus sehr ins graue und blaue Allgemeine über Staat und Kirche, Schule und Haus. Karl hielt seine etwas extremen Ansichten diesmal vorsichtiger als sonst zurück, obwohl er kein Hehl daraus machte. Agathe folgte aufmerksam, nicht ohne einige Beklommenheit. Der Vater sprach wie ein Mann, der aus dem Schatze reicher Erfahrung schöpft, aber während er sprach, dachte sie immer schon an das, was wohl Justus darauf erwidern würde. Justus sprach natürlich erst recht wunderschön und bedeutend, er hatte den Doktor nicht umsonst gemacht. Doch während seiner Rede hing ihr Blick schon immer wieder an des Vaters Auge, forschend, was für einen Eindruck wohl das Gesagte auf ihn mache, und ob es ihm auch nicht zu „philosophisch“ und unpraktisch erschiene. Ohne dem lieben Mädchen Unrecht zu tun, wird erlaubt sein zu vermuten, dass ihre gespannte Teilnahme an dem tiefsinnigen Gespräch keineswegs nur rein sachlicher Natur war — insofern der besten Braut und Tochter allerdings nicht gleichgültig sein konnte, ob die „Richtungen“ ihrer zwei höchsten Autoritäten auch nicht zu sehr aus einander gingen.



Die Hausfrau strickte, von Zeit zu Zeit erhob sie die Hand ruhig und doch mit einer gewissen schnellenden Bewegung , dann tanzte das Knäuel im Korbe, und der Faden wickelte sich weiter ab, oder sie schlichtete mit einem einzigen still gebietenden Aufblick eine jener kleinen Grenzstreitigkeiten, die auch am glücklichsten Familientisch nicht ganz ausbleiben, etwa zwischen einem brüderlichen Ellenbogen und einem schwesterlichen Nähkästchen, oder ebenso in aller Stille wehrte ein missbilligendes Kopfschütteln der schon so oft verbotenen Unsitte, den Pinsel in den Mund zu nehmen — zum Ausspülen der Farbe stand ja die alte gekittete Obertasse mit Wasser da — oder die Mutter nickte beifällig Adolph zu, der ihr das Reißbrett hinhielt, die Fortschritte seiner Landschaft in Sepia vorzeigend. Plötzlich sah sie mit einiger Verwunderung, die jedoch schnell in ein Lächeln überging, auf die herabhängende Tischdecke nieder, die zwischen ihr und dem Hausherrn geheimnisvoll sich zu regen anfing, sich hob und senkte und plastisch rundete, wie von einem kugelförmigen lebendigen Etwas, das darunter steckte — am Ende tauchte ein pudelschwarzer Krauskopf auf, ungemein vorsichtig, nachdem erst das eine, dann das andere Auge recognoscirend mausgrell hervorlugte. Da der Vater aber ungestört weiter sprach — das Gespräch bewegte sich eben in den höchsten Regionen der Sozialpolitik, und er schien aus dieser Höhe das Gekrabbel an seinen Beinen gar nicht zu bemerken — so folgte dem Krauskopf auch Nacken, Kragen, Jacke und alles sonstige Zubehör der Rückseite eines netten strammen kleinen Jungen, der sich bauchlings wie ein echtes Reptil der Tiefe auf das Sophapolster hinaufwand und schlängelte. Vollends oben, machte er ebenso glatt und geschickt die Volte und saß nun mit einmal da, als müsste das so sein! Nur das etwas verruschelte Haar, die halb und halb sich hinter dem Rücken der Mutter versteckende Stellung und das listige Schmunzeln über den gelungenen Streich verriethen noch den Eindringling. Es war Bernhard, der kurz zuvor am entgegengesetzten Ende der Tischperipherie spurlos verschwunden und auf allen Vieren unten durchgekrochen. Der kluge Sohn hatte die Konjunkturen benutzt, die kaum günstiger gedacht werden konnten, um sich à la Hans Igel wieder einmal in Besitz des molligen Restkuckplätzchens zu setzen, dem er von Rechtswegen längst entwachsen. Die gute Mutter aber drückte ein Auge zu und ließ ihn ruhig sich „ankuschen“ — es war doch immer ihr liebes Kind, wenn auch kein ganz kleines mehr.



Gottlob! des Vaters und Justus' Ansichten trafen ja im Wesentlichen gar glücklich zusammen, Agathe wurde immer leichter und froher zu Mut. Nun halte sie erst recht ihre volle Freude daran, zuzuhören, und fragte dreist, wenn sie etwas nicht verstand. Ja mit wahrem Stolz, dass ihr Justus so ungeheuer viel klüger war, wie sie selbst, trug sie kein Bedenken, ihre Bitte um Aufklärung durch den, doch gewiss anspruchslosen Zusatz nachdrücklichst zu begründen: „ich bin nämlich sehr dumm.“ Wir alle mussten herzlich darüber lachen, Justus selbst am meisten, und es ist noch sehr die Frage, ob er lieber eine Braut hätte haben mögen, deren Fähigkeiten und Wissen am Ende wohl gar — seinen eigenen hohen Geist zu überflügeln drohte. Es machte Justus sichtbares Vergnügen, die erbetene Belehrung zu geben. Auch war vielleicht die Schwierigkeit, seine spekulativen Ideen in allgemein fasslicher Form mitzuteilen, nicht ganz so groß, als der, in der Tat etwas verschwenderische Gebrauch von Kunstausdrücken des „Systems“ ursprünglich glauben ließ. „Ich wollte mit einem Worte sagen, erklärte er, dass die Freiheit des Menschen wesentlich auch darin besteht, sich mit Selbstbewusstsein in die Schranken der äußerlichen Notwendigkeit zu fügen, insofern sich diese Schranken nach ernster Erwägung als unabänderlich hinstellen. Und wenn also — wandte er sich, etwas leiser sprechend, an Agathe, — unsere Mittel nicht gleich gestatten, ein großes Haus zu machen, so lassen wir es uns vorerst in einem kleinen gefallen — nicht wahr?“ — „Auch die engsten Räume werden uns nicht bedrücken, wenn wir sie mit einander teilen,“ erwiderte Agathe im zärtlichen Flüsterton — wir Übrigen brauchten es ja nicht zu hören, und Justus verstand es recht gut, wie die Braut unter Anderem aus einem sanften Druck entnehmen konnte, den sie auf der linken Seite fühlte, obwohl der Bräutigam rechts von ihr saß.

Nachdem aber der liebende Denker einmal von der Höhe der Spekulation zur konkreten Betätigung des Systems auf diesem populär gemütlichen Wege der praktischen Philosophie herabgestiegen, wollte es ihm gar nicht mehr recht gelingen, sich wieder in den reinen Äther der abstrakten Theorie zu erheben, und so mußte denn die endgültige Feststellung des absolut besten Zustandes in Staat, Kirche und Haus a priori abermals bis auf Weiteres offene Frage bleiben, während wir auch schon ganz zufrieden waren, wenn uns Gott nur das relative, aber wirkliche Glück erhielt, das bereits mit uns am alten runden Tisch vor dem Sopha saß.



Es war spät geworden, als Justus ging, wir begaben uns sogleich zur Ruhe.

„Es ist eine durch und durch gediegene Natur, er ist ihrer wert, er wird sie glücklich machen,“ dachte der Vater, gähnte, löschte das Licht aus, drehte sich auf die andere Seite und, noch ehe das letzte Fünkchen des nachglimmenden Dochts erloschen, und der nicht unangenehme Geruch der Halbwachskerze sich ganz verzogen — weg war der Hausherr, der doch leider häufig genug an Schlaflosigkeit litt.

„Und dass er auch so nett zu den Kleinen ist!“ dachte die Mutter und mußte noch still in sich hinein lachen im feierlichen Schweigen der Nacht, wie der komische Justus beim Abendbrod gesagt hatte: „nun Fräulein Klärchen, wie steht's, wie geht's? Aber wir haben uns heute wahrhaftig noch gar nicht die Hand gegeben — her mit der kleinen Pfote, wenn sie rein gewaschen ist, doch bitte, unter dem Tisch, dass es Agathe nicht sieht!“ Und mitten in der schönen Heiterkeit über der Kinder harmloses Glück — weg war auch die Hausfrau!

Agathe dagegen konnte lange nicht einschlafen. Aufgeregt war sie eigentlich nicht, nur so unbeschreiblich froh, sie lag ganz still, ihr Herz schlug ruhig, ihr Atem ging in gleichmäßigen, tiefen Zügen. Endlich kam der Schlummer. Ein leichtes Schaudern, fast einem schwachen elektrischen Schlage vergleichbar, durchzuckte ihre Glieder, mehr wonnig als beängstigend, sie schrak aber doch auf, als wäre sie bereits halb und halb' im Schlaf gewesen. Sie faltete die Hände über der blühenden Brust, ein unergründliches Gefühl des Dankes suchte Ausdruck, allein schon schwankte das Bewusstsein, die Vorstellungen verwirrten sich. Dennoch will, dennoch muss sie es ihrem Gotte sagen, wie unendlich glücklich sie ist, schlicht und einfach, wie das Kind dem Vater: „Es war doch wieder ganz reizend, du lieber treuer Justus!“ Die Augen fielen ihr zu.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Liebesgeschichten
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