Abgeblitzt

Ein junges Mädchen saß im Garten auf einer Bank in der Nähe des Hauses ... ein junger Mann ging spazieren.

Es war Frühling und ein herrlicher Morgen, der Himmel strahlte im reinsten Blau — nur den Horizont verschleierte ein weißlicher Dunst, der schwerlich auf Bestand des Wetters deutete. Das helle Laub der Linden hatte noch jenen rötlichen Schimmer, den ihm die jungen eben erst geöffneten Blattknospen geben, üppig wuchernde Blumen mischten ihren bunten Schmelz in das saftige Grasgrün der Wiesen, goldgelb blühten die Rapsfelder, und drüben am Fuße der fernen Höhen zeigte eine Reihe weiß glänzender Segel den Lauf des Stromes an. Es war schön überall — überall Licht und Wärme, überall blühender Lebenstrieb. Ein Posthorn klang vom Tal herauf, der junge Mann horchte und schöpfte tief Atem. Eine eigentümliche Bewegung ergriff ihn, doch war es nicht Wanderlust, die sich sonst um die Frühjahrszeit stets bei diesem Klange in seiner Brust zu regen pflegte. Er blieb jetzt gern, o wie gern für immer in der Heimat — unter einer Voraussetzung.




„So wage es doch, versuche dein Glück, ich will dich geleiten und dir beistehen!“

Der junge Man wandte sich rasch um. Eine Frauengestalt von nicht zu beschreibender Schönheit stand vor ihm, in schwebender Haltung, als käme sie geraden Weges vom Himmel und hätte eben erst den Fuß auf die Erde gesetzt. Der Überraschte suchte vergeblich nach Worten seines gerechten Staunens, wie geblendet von der unvergleichlichen Erscheinung. Des gewohnten Eindrucks sicher, mochte diese dennoch die abermalige Erprobung ihres unfehlbaren Zaubers — nicht übel aufnehmen; sie lächelte, und ohne die Antwort auf ihren nochmaligen ermutigenden Zuspruch abzuwarten, fasste sie den jungen Mann mit einem hinreißenden Blick traulicher Gönnerschaft bei der Hand und zog ihn sanft, doch unwiderstehlich mit sich fort.

Es gingen aber noch mehr Leute spazieren, und so blieb der seltsame Auftritt weder unbemerkt, noch unbesprochen. Den Meisten kam die wunderbare Fremde bekannt vor, doch konnte sich niemand erinnern, wo er sie schon früher gesehen hatte. Einige priesen sie als ein „göttliches Weib“, Andere griffen sie mit beißendem Spotte an — kalt und gleichgültig ließ sie Keinen. Allen aber fiel die, selbst in der warmen Jahreszeit ungewöhnlich leichte Bekleidung des schönen kleinen Knaben auf, der ihr anzugehören schien. Er trug nichts wie — einen Flitzbogen und ein paar Pfeile.

Das junge Mädchen saß noch immer im Garten auf der Bank in der Nähe des Hauses und las so eifrig in ihrem Buch, dass sie gar nicht gewahr wurde, wie die wundersame Frau mit ihrem Kleinen und dem jungen Manne durch das offene Gittertor eintrat. Das Herz des jungen Mannes pochte, als er das junge Mädchen sah.

„Die möchtest du wohl gerne haben? — wisperte ein feines Stimmchen, — das glaube ich! Soll ich sie dir schießen? Aber halte doch still, dass ich zielen kann! Bist du ein Mann und zitterst vor einem Mädchen?“ Das Kind hatte sich mit reizender Keckheit auf einen blühenden Busch geschwungen und sein Geschoss über die Schulter des jungen Mannes gelegt, nahm sein holdes Ziel aufs Korn, zog an, die Sehne schwirrte — und flitz! flog das gefiederte scharfe Stäblein dahin. Das junge Mädchen fuhr auf, erbleichte, errötete, fasste mit der Hand wie krampfhaft nach der linken Seite ihrer Brust, machte eine abwehrende Bewegung und ging eilig ins Haus zurück. Der Pfeil lag machtlos am Boden — ein greller Schein zuckte vor den Augen des jungen Mannes.
„Abgeblitzt!“ sagte der Kleine und holte sich seinen Pfeil wieder, den er aufmerksam von allen Seiten betrachtete. „Dies verstehe ich nicht, es ist mein allerbester Pfeil, der mit der Treffspitze — ich habe nur diesen Morgen noch zwei Sperlinge auf einen Schuss damit getroffen.“

„Dummer Junge, mache nicht noch schlechte Witze — sonst sollst du mal sehen!“ Der kecke Kleine hielt es doch nicht für unangemessen, rasch ein paar Schritte zurückzutreten, indem er auf alle Fälle seinen Arm schon im Voraus parierend erhob. Dann blieb er wieder ruhig stehen, um sich nachträglich zu entschuldigen: „es tut mir von Herzen leid, aber das kann dem Besten passieren,“ dazu ein altklug bedauerliches Achselzucken und — husch! flatterte der verdammte kleine Schlingel davon, denn er hatte auch Flügel.

Der junge Mann wusste hernach gar nicht, wie er wieder aus dem Garten gekommen. Schon flammten grelle Blitze, der Donner krachte, einige Wagen fuhren im schärfsten Trabe vorüber, wirbelnder Staub fegte hinterdrein, der Wind setzte sich aufhaltend in die Kleider der Fußgänger, riß Hüte ab und stülpte die Regenschirme um, große Tropfen sielen, eine Fensterscheibe klirrte — Jeder suchte unter Dach und Fach zu gelangen, Keiner kümmerte sich um den Andern. Dennoch glaubte der arme junge Mann, alle Welt sähe ihn spöttisch und schadenfroh an. Er hatte das Gefühl, als stände ihm die eben erfahrene tiefe Beschämung mit brennenden Buchstaben auf der Stirn. Auch er eilte nach Hause.

Allein der Arme hatte keine Ruhe im dumpfen engen Zimmer. Sobald der heftigste Platzregen vorüber, suchte er doch wieder das Weite. Auch klärte es sich bald auf. Es war ein starkes Gewitter gewesen und, so kurze Zeit es auch nur dauerte, nicht ohne mannigfachen Schaden anzurichten, über das Land dahin gebraust. Seine verheerenden Spuren waren ringsum sichtbar! Hier lag die junge Saat darnieder, vom Hagel zerschlagen oder vom Wirbelwinde arg zersaust. Da brach sich ein wildes Wasser die eigenmächtige Bahn quer durch die Ackerbeete, deren fruchtbare Erde wieder an anderen Stellen, weniger gewaltsam weggespült, die Kiesschüttung der Promenade schwarz verschlämmte. Und dort hatte der Sturm den schönsten und stärksten Zweig eines reich blühenden Baumes, wenn auch nicht ganz abgebrochen, doch geknickt, nur noch durch einen Streifen Rinde mit dem Stamm verbunden, hing er gleichsam häuptlings herab. Dem jungen Mann tat der Anblick weh; er hatte ein Messer bei sich, im Nu war es zur Hand — ein paar sichere Schnitte machten der kläglichen Schwebe ein Ende. Darauf legte er den vollends abgelösten Zweig still seitwärts, hinter die nächste Hecke; was sollte Jeder, der des Weges ging, sehen, wie all' die Blüten, noch vor einer Stunde die liebliche Hoffnung schönster Früchte, nun nutzlos im Staub und Sonnenbrand verdorren mußten! Und wunderbar, nachdem er das gute Werk getan, obschon es kein großes war, wurde ihm gleich etwas besser. Sein erloschener Blick belebte sich, er trat wieder fester auf und schwang, den Schritt beschleunigend, seinen Stock so kräftig, als wollte er einen unsichtbaren, aber lästigen Feind — ein für allemal damit abschlagen. „Und sie ist doch ein Engel!“ rief er mit einer eigenen Heiterkeit im Schmerz, die ein flüchtiges Rot auf sein blasses Gesicht trieb.



Er hatte nun die Stelle erreicht, wo der Pfad, der sich bisher auf der Anhöhe hielt, in die Niederung hinabführte. Die morschen Pfosten einer alten Brücke zitterten, ihr Bretterbelag knarrte und bog sich unter seinen Füßen, durch breite Ritzen war hie und da das Wasser zu sehen. Drüben ging er am Flüsschen entlang, auf dem schmalen Uferdamm. Es mochte um die Mittagstunde sein, die Sonne stand hoch, und eine eintönige Beleuchtung ohne jeden kräftigen Schatten raubte der Gegend, die am Morgen so malerisch erschien, ihren besten landschaftlichen Reiz. Sie war schöner selbst, als die jähen Blitze über ihr züngelten im fahlen Gewölk, und der Donner dröhnend rollte. Fast sehnte sich der junge Mann nach dem ersten heftigen Schmerz; denn die traurige Ernüchterung, welche dieser zurückließ, hatte nicht die Schwingen, die ein gütiger Gott der Leidenschaft gab, sich über sich selbst zu erheben. Da erblickte er noch einmal die wunderbar schöne Frau, sie saß am Wasser bei den Weiden, in tiefes Sinnen verloren, das Haupt auf die Hand gestützt, gleich einem Marmorbilde der Melancholie. Das Kind, der Mutter heiterer Genius, mochte sich ein wenig langweilen in der erhabenen Stille, die ringsum herrschte, es rührte leise die goldenen Saiten einer Laute, welche zwischen ihm und der Mutter im Grase lag, und sah sie lächelnd an. Da wurde die Schwermut milde Trauer. Jetzt nahm der Kleine die Leier in den Arm und wagte schon einen lebhafteren Akkord, der in einen andern, noch reineren Wohllauts überging, ein Hauch süßer Wehmut öffnete die Lippen der erstarrten Schönheit.

Sie sang ein Lied, und sogleich begann der träge schleichende Fluss ihr Spiegelbild, dessen Umrisse bisher kaum zitterten und schwankten, wieder sanft zu schaukeln, so dass es weilend doch dahin zu rieseln schien. Ein Fischlein schnellte empor, silbern blinkend, und verschwand im Augenblick wieder. Eine Libelle flog auf, das feine Knistern ihrer durchsichtigen Flügel lockte eine zweite herbei, beide tummelten sich wie in haschendem Spiel um einander, sie flogen immer höher und höher, bis das Auge sie in dem blendenden, vor Lichtfülle gleichsam zitternden Blau des Äthers nicht mehr unterscheiden konnte. Tautropfen sielen vom Himmel, der Erde ein Labsal wie dem Schmerz die Träne — und die Welt war noch immer schön! Auch die alten grauen Weidenstämme, die schon so oft „geköpft“, hohl und inwendig brandschwarz waren, als hätte sie der Blitz getroffen, trieben wie das Ufergebüsch, das der Korbmacher so grausam beschnitten, von neuem ihre zartgrünen Sprossen, ja ein paar am weitesten überhängende Zweige wurden von den Wellen, die nun immer voller und voller flossen, murmelten und rauschten, trotz alles Sträubens und Spritzens doch noch einmal mit hineingezogen in den lustigen Strudel des hoffnungsreich wieder erwachten Lebens.

Erst jetzt bemerkte unser junger Mann, dass ringsumher ganz neue Parkanlagen entstanden waren, in denen eine elegante Gesellschaft lustwandelte. Auch bildete sich bald ein Zuhörerkreis um die schöne Frau, und ihr wundersames Lied entzückte Alle. Wohl waren Text und Komposition langst bekannt, aber das Hinreißende ihres Gesanges lag im Vortrage, sie sang „mit Ausdruck“, Ja, ein gutes Mädchen tief ergriffen, wäre auf der Stelle bereit gewesen, den jungen Mann, von dessen schwerem Herzeleid das Lied so rührend Kunde gab . gar liebreich zu trösten, allein er merkte ihre wohlwollende Absicht gar nicht oder wollte nichts merken, und schlich still davon. Die verhallenden letzten Töne des Lautenspiels geleiteten den Einsamen. Kaum bog er jedoch um das nächste Gebüsch, so trat ihm — wer entgegen? Niemand anders, als unser alter Hausfreund. Der begrüßte ihn sehr herzlich, und wenn er es auch nicht geradezu sagte, aus seinem ganzen Wesen und Benehmen ging deutlich hervor, er wisse Alles. „Aber warum laufen Sie denn vor den heitern Menschen? Das sollten Sie nicht tun. Ich will Sie nicht aufhalten, behüte! Denn freilich gibt es mancherlei im Leben, womit jeder am besten allein fertig wird. Sollte Ihnen indessen des süßen Trosts der Einsamkeit am Ende doch zu viel werden, so machen Sie's wie ich, Spiel und Tanz, wissen Sie, sind für meine alten Beine schon lange vorüber, trotzdem war auch ich neulich bei Alborns auf dem Ball. Denn ich finde immer, es gibt kein besseres Mittel, zu vergessen, dass man allein im Leben steht, als wenn man sich am Glücke Anderer erfreut. Auf Wiedersehen denn! Entweder Sie tanzen das nächste Mal schon wieder selbst mit, oder Sie setzen sich zu mir in meine stillbeschauliche Ecke, — ein Gläschen vom Guten kommt da auch hin. Ja noch Eins, Sie sehen so bleich aus, Sie scheinen gar nicht recht wohl zu sein. Wollen Sie nicht zum Doktor gehen? Aber dann wenden Sie sich doch nur ja an unfern alten Medizinalrat. Der hat mir mal sehr gut gerathen; irre ich nicht, so war es bald darauf, als ich das erste Mal abblitzte. Natürlich waren wir beide damals noch etwas jünger; ein dreißig Jährchen dürften bald darüber hingegangen sein, viel mehr nicht, bis zu meinem Jubiläum als goldener alter Junggesell ist es immer noch ein Ende hin. Aber schon damals hatte der gute Doktor seine besondere Art und Weise mit den Patienten. Denken Sie, dass er mir erlaubte, ihm ein Langes und Breites von meiner Leidensgeschichte — ich hätte bald gesagt, von meiner Liebesgeschichte — zu erzählen? „Seien Sie nur ganz still von Ihren Empfindungen, die kann ich als exakter Mann nicht brauchen. Ich richte mich nur nach dem, was ich selbst sehe, höre und fühle.“ Und nun hat er doch an mir herum getastet, mich besehen, behorcht und, beklopft, von oben bis unten, von vorne und von der andern Seite — ich sage Ihnen, er machte Jagd auf Symptome, wie der Specht, der hämmernd um den Baumstamm läuft, auf die Würmer in der Borke. Endlich erklärte er: „Ja, lieber Freund, beim besten Willen, ich kann nichts finden, und wenn Sie platterdings schon jetzt aus der Welt wollen, müssen Sie sich auf eine andere Extrapost setzen, am gebrochenen Herzen stirbt man in der Wirklichkeit nicht so leicht, wie in den Romanen; ich sollte auch denken, ein Mann wie Sie, ja jedermann, selbst das weichlichste Frauenzimmer, kann immer noch was Gescheiteres thun, als vor Liebesgram die Schwindsucht kriegen! Da ich mir aber seitdem noch verschiedene andere Körbe holte, zwei ausweichende Antworten ungerechnet, und noch immer nicht Todes verblichen bin, so mag er wohl ziemlich das Richtige getroffen haben. Und ich gestehe, es tut mir nicht leid. Zwar bin ich nicht auf Rosen gewandelt und habe mir mein Bisschen spaßhafte Lebensweisheit um keinen billigen Preis erkauft, allein mancher glückliche Familienvater, der einen Haufen Kinder hat und nicht weiß, wie es werden soll, kratzt sich auch bedeutend hinter den Ohren! Überall ist dafür gesorgt, dass wir nicht schon hienieden den Himmel haben. Also nochmals auf Wiedersehen — so oder so!“ —



Und noch immer grünten die Wiesen, obwohl nicht mehr ganz so frisch und üppig wie früher, noch immer glänzten die Segel drüben an den steil abfallenden Höhen, und der Strom blinkte hie und da zwischen den Deichen hervor, noch immer strahlte der Himmel in wolkenlosem Blau, doch die Luft war kühler, freilich auch klarer. Man sah Alles so deutlich in der Ferne, die Linie des Horizontes zog sich wunderbar rein hin im weit geschwungenen Bogen, nicht mehr wie in der Morgenstunde umflort von jenem zarten weißlichen Duft, der Himmel und Erde in Eins verschwimmen ließ, es drohte auch kein Gewitter mehr. Und noch immer lag ein hellfarbiger Teppich um jeden Baum — nur nicht mehr aus Knospenhüllen gewebt, es waren welke Blätter. Lustig schallte taktmäßiges Klopfen von der Tenne, kein Vogel sang, keine Blume blühte mehr, die Sonne ging unter, weiß schimmernde feine Fäden schwebten durch die Luft, von Morgen nach Abend, und der „ziehende Sommer“, der an den dünner gewordenen Locken des — nicht mehr jungen Mannes hängen blieb, war kaum zu unterscheiden von dem ersten weißen Haar.

Was er in der Frühe des Tages erlebt, lag weit, weit hinter ihm, wie ein schöner Traum der Jugend. Wohl gedachte er noch jenes jungen Mädchens im Garten mit herzlicher Teilnahme, aber ohne Schmerz, „Mag sie recht glücklich sein, wenn auch nicht durch mich!“ Und wieder hörte er das Posthorn, aber es klang nicht mehr sehnsuchtsvoll, es war etwas Beruhigendes und doch Jubelndes, Siegesgewisses in dem hellen frischen Ton, der immer lauter und lauter schmetterte ....

Der junge Mann erwachte, rieb sich die Augen, sah nach der Uhr, bemerkte mit Schrecken, wie viel Zeit er auf der Bank unter den blühenden Bäumen verträumt, sprang auf und entfernte sich rasch. Seine Gedanken mochten sich aber doch wohl noch nicht ganz aus der Traumwelt in die Wirklichkeit zurück gefunden haben, jedenfalls sah er nicht achtsam genug vor sich hin, wo er ging, und da stieß sein Fuß gegen einen der scharfkantigen Holzpflöcke, die in den Boden geschlagen waren, um das Übertreten auf den Acker zu verhindern. Es war ein empfindlicher Schmerz, aber er wies ihn auf den rechten Weg.

Macht es das Schicksal nicht zuweilen ähnlich mit uns? —




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Liebesgeschichten