Blind

Blind.

Sterben ist Nichts, — doch leben und
nicht sehen, das ist ein Unglück! — Schiller,


        Nein, sterben ist Nichts! Sterben ist Nichts, als eingehen in Licht, aus einer matten Morgendämmerung hinein geraten in den vollen hellen Tag, dem keine Dämmerung und keine Nacht mehr folgt. Sterben ist Nichts, als einen siebzigjährigen Seufzer friedlich beschließen; Nichts, als den Kanal zwischen Leben und Tod entweder auf einem Schnellsegler oder auf einem Packetboot durchschwommen haben, und anlangen in dem Dover des ewigen Lebens!
Aber leben und nicht sehen, das ist ein Unglück! In diesem Unglücke stirbt man nicht, aber es stirbt Einem Alles ab; wir stehen lebend in einer Welt, die nur Todte für uns hat, denn Licht ist Leben, und Finsternis, ist Tod!
        O, schließt nur einmal eine Viertelstunde lang die Augen zu, und Ihr werdet fühlen, wie Jenen zu Mute ist, die ihr ganzes Leben, eine lange Ewigkeit, ohne Licht herumwandeln. O, der Sehende weiß nicht, wie lang, wie entsetzlich lang das Leben ist; an ihm fliegt die Zeit, in Licht und Farben gehüllt, wie eine bunte, blumenbehangte Operntänzerin vorüber; aber an dem Blinden schleicht sie farbloß und finster, in öder, grässlicher Einförmigkeit, wie ein zigeunerhaft lahmes Weib vorbei.
        Wer will vom Unglück sprechen, der sieht?! Eine jede Farbe ist ein stummer Glückwunsch zu seinem Glücke; ein jeder Lichtstrahl ist ein Gratulationsschreiben, das der Himmel an ihn richtet; ein jedes Morgenrot ruft ihm zu: „Erwache, Glücklicher!“ eine jede Nacht steckt ihm einen Freuden-Blumenstrauß von Sternen an die selige Brust; ein jedes Blumenbeet schenkt ihm einen Farbenkasten zu seinem Freudentage; ein jeder Regenbogen wird für ihn zur Privat-Glückspforte; jeder Blitzstrahl wird ihm zum heitern Epigramm; jedes schöne Angesicht wird ihm zum Freuden-Patent; jeder freundliche Blick ist ihm ein Aufruf zum Genuss; jedes Kind wird ihm zur rosigen Blüte, und jede rosige Blüte zum Kinde, und Beide rufen ihm zu: „das Leben ist doch schön!“ Und all' dieses Glück, den ganzen Born dieses sprudelnden, blühenden, glühenden, flammenden, den unendlichen Raum durchflutenden Glückes, die kleine hohle Hand des Menschen kann ihn einschließen, bedecken, umhüllen, um dann desto frischer und entzückender ausströmen zu lassen alle Lichtbäche und Farbengüsse, durch die unendliche Schöpfung! Nein, ein Mensch, der sieht, soll vom Unglück nimmer sprechen!
        Aber der Blinde, der ewig Blinde, dessen zwei Augen da liegen, wie die falschen Siegel, wie die versiegten Zisternen des Lichtes: der ist unglücklich!
        Ihn freut nicht die rosige Geburt des Tages, wenn er dem Schoße der Nacht sich entringt; an ihm geht der Bote des Himmels, der Strahl, vorüber, wenn er ausgeht, das Weltall zu beglücken; Tag und Nacht reichen kommend und scheidend sich die Hände, Winter und Frühling tauschen ihre Kleider, Felder und Wiesen ziehen ihr Jaspisgewand an. Bäume und Büsche flechten sich jubelnde Blüten in die langen Locken, Rosen- und Blumen-Beete schließen ihr Farben-Klavier auf, der Regenbogen brennt sein Feuerwerk ab, und der Blitz sein Auto da fé; die Sterne beginnen ihren Fackeltanz, die Kometen ziehen ihren Feuermantel durch die blaue Kuppel, das Nordlicht illuminiert sein phantastisches Bildermagazin, alle Atome schwimmen im stillen Ozean des Lichtes: der Blinde allein sieht das Alles nicht, um ihn ist ewiges Einerlei, starre, stehende, stockende Finsternis, ein leeres, graues Nichts!
        Nicht nur die leblose Schöpfung, auch die belebte Natur, der Menschheit lieblichste Beglückung, bleibt dem Blinden versagt. Er kennt nicht die süße Gabe der Schönheit; er sah nie die Rose blühen auf dem zarten Grunde der Wange; er hat des Schöpfers höchstes Werk, der gütigen Götter schönstes Geschenk, er hat das Menschen Auge, das Frauen-Auge, dieses Aquarell-Miniatur-Bildchen der ganzen Welt, nie gesehen! — Er kennt die Süßigkeit nicht, die ein Freundesblick, ein Liebesblick gewährt! Er hat die Unschuld nie erröten, er hat die Anmut nie lächeln gesehen! Er weiß nicht, wie die Träne des Glückes, wie die Träne des Mitleids schimmert! Er sieht nicht das Antlitz Derer, die ihn lieben; er sieht sein eigenes Ebenbild nicht, nicht im lebloßen Spiegel, nicht im entzückenden Spiegel zärtlicher Kinder!
        Blindheit ist lebendiger Tod, ist fortgesetzte Hilflosigkeit, ist endloser Jammer! Saphir.


Blind. Ein schottischer Geistlicher hielt kürzlich eine Predigt zur Unterstützung des Blinden-Institutes und fing seine Rede mit den Worten an: „Wenn alle Menschen blind wären, welchen traurigen Anblick würde dieß gewähren!“