Viertes Kapitel

Wenn aber Lessing dem Handeln und Denken des Juden eine philosophische Unterlage geben zu dürfen glaubt, so ist er ganz anderer Meinung im Bezug auf das Handeln und Denken der Christen. Alle ihre Handlungen, all ihr Denken als solche, führt er auf das Dogma des ein für alle Mal geschehenen Factums zurück. Nichts als dieses bestimmt seine Christen so oder so zu handeln, so oder so zu denken.

Jede edle Handlung Seitens des Tempelherrn, jeder moralisch-philosophischer Satz, der seinen Lippen entfließt, wird als mit einer Dogmatik im Widerspruch stehend hingestellt. Das Christentum vertreten bei Lessing vier Personen. Ein Mönch, Tempelherr genannt, ein Patriarch, ein Klosterbruder und ein Weib, die Pflegemutter der Adoptivtochter Nathans.


Der Tempelherr, der Träger eines Epithets, das schon zu Zeit Lessings nur noch wenigen bekannt war, verdankt seinen Titel und Charakter einem Mönchsorden, der durch seine Heldentaten und einen Mut, noch mehr aber durch ein so trauriges Ende berühmt geworden war; was aber eine gewisse Art, die Weltgeschichte zu behandeln, lieber in ein ewiges Dunkel gehüllt wissen wollte. Dieser Orden hatte seinen Bestand von 1118 bis 1313, als er vom Papst Clemens V. aufgelöst wurde. Gegründet soll er von einem Manne Namens Geoffroi St. Aumer gewesen sein, und seinen Namen von einem Gebäude, der Tempel genannt, das Balduin II., König von Jerusalem, ihm zur Wohnstätte in dieser Stadt einräumte erhalten haben. Der Orden war ein geistlich-militärischer, was den Ordensbruder zum Soldaten und Mönch machte, hatte seinen Stock in Jerusalem, rekrutierte sich aber aus der ganzen Christenheit, meistenteils aus Franzosen. Was war natürlicher, als dass ihm ein militärischer Stand, der ihm zu Zeit der Kreuzzüge so viel zu schaffen gab, zu Macht, und Reichtum verhalf? Bis endlich das Eine wie das Andere die Eifersucht des Papstes Clemens V. und des Königs Philipp des Schönen von Frankreich weckte. Dieser geldbedürftige oder geldsüchtige König wies die Juden aus seinem Reiche bloß um sich ihres Vermögens zu bemächtigen (1312). Ein Jahr später sollen die in Frankreich lebenden Templer ein gleiches Los erfahren. Ohne Zustimmung des Papstes durfte einem so ansehnlichen Teil eines Mönchsordens nichts zu Leid geschehen. Wie durfte aber Clemens V. mit der bloßen Ausweisung zufrieden sein? Er, der überall gegenwärtig sein und nirgends eine geistige Macht dulden möchte? Man kam überein, die Templer der ungereimtesten Ketzereien zu beschuldigen, man machte ihnen den Prozess und es kam dazu, dass ihrer fünf und fünfzig eines schönen Vormittags in Paris, ungeachtet das Doppelte dieser Zahl an Händen gegen den Himmel sich erhob, Unschuld, Aufrichtigkeit, Glauben und selbst Orthodoxie beteuernd, hinter der Saint-Antoine-Abtei verbrannt wurden, worauf alsbald die Auflösung des Ordens in Jerusalem erfolgte. 1313.*)

*) Man vergl. Historia Templariarum von Gürtler. Amst. 1703 und Histoire des Templiers. Paris an VII.

Lessing hatte also in einen Tempelherren die beste Gelegenheit gehabt, den Herren Theologen Possen zu spielen. Er hätte nur einen Mann den ganzen Kram von ungereimten Ketzereien, deren ein Orden beschuldigt war, auspacken lassen dürfen, um ein Theaterpublikum auf Rechnung der Herren Theologen und Mönche zu unterhalten.

Das tut er aber nicht. – Entweder hielt er die Beschuldigungen selber für aus der Luft gegriffen, die somit in der Satire falsche Schüsse abgeben würden, die Niemanden erreichen – an Patriarchen, die gern verketzern, um den Scheiterhaufen, den Holzstoß für Jemanden zu bestimmen, fehlt's dem Stück auch ohnehin nicht – oder, wollte er die Weihe eines Werkes, das für zweckdienliche Didaktik geschaffen war, nicht durch albernes Zeug verunglimpfen. Sein Tempelherr weiß nichts von ungereimter Ketzerei, er ist zur Hälfte Christ, zur Hälfte Philosoph; nicht aber zu zwei etwa gleichen sich ruhig neben einander verhaltenden Hälften, wie es gar oft vorkommt, Nein, eine christliche Hälfte verliert sich zu oft auf das Gebiet einer philosophischen und so umgekehrt.

Er gibt uns selber über den Kampf, der in seinem Kopfe braust, Aufschluss.
er spricht:

      Der Kopf den Saladin mir schenkte wär'
      Mein Alter? – Ist ein neuer, der von allem
      Nichts weiß, was jenem eingeplaudert ward,
      Was jenen band, und ist ein besserer; für
      Den väterlichen Himmel mehr gemacht,
      Das spüre ich ja, denn erst mit ihm beginn"
      Ich so zu denken.

Er ist übrigens mehr Krieger als Pfaff, der Soldat hat in ihm den Mönch verdorben, es fehlte ihm viel zum Papsttum.

Der Patriarch, hinlänglich bekannt, um noch einer Nachweisung zu bedürfen, denkt und wirkt viel, spricht jedoch wenig, erscheint nur einmal auf dem Schauplatze unserer Handlung, um standesgemäße Ausfälle gegen die Vernunft zu machen, überhaupt um zu dem Spruche zu gelangen: Der Jude wird verbrannt.

Bei einem so spärlichen Mitwirken in unserem Stücke werden uns seine Gedanken und Worte durch ein Organ, den Klosterbruder, übermittelt, der sie uns in einem sarkastischen Redeton, indem er auf die Ausdrücke: jagt der Patriarch, meint der Patriarch, zu wiederholten Malen zurückkommt, vorträgt. Es sind die Possen, die Lessing den Herren Theologen versprochenermaßen spielt. – Was sagt der Patriarch, was meint der Patriarch.

      Dies Briefchen wohl bestellt zu haben – sagt
      Der Patriarch, werde einst im Himmel Gott,
      Mit einer ganz besonderen Krone lohnen (Aufz 2. Auftr. 5)

Nur

      Meint der Patriarch, sei Bubenstück
      Vor Menschen nicht auch Bubenstück vor Gott (Dass.)

      Denn diese Krone zu verdienen – jagt
      Der Patriarch, sei schwerlich jemand auch
      Geschickter als mein Herr (Dass.)

      Ein Feind der Christenheit, der Euer Freund
      Zu sein kein Recht erwerben könne (Dass.)

Meint der Patriarch.

Es gibt auch Dinge die den Patriarchen bedünken: Eines besonders ist's das ihn die wahre Sünde wider den heiligen Geist bedünkt: die Aufnahme nämlich, des christlichen Waisenmädchens im jüdischen Hause als Adoptivkind.

Nun wartet aber Lessing nicht auf das Urteil der Leser und Zuschauer über dieses Sagen, Meinen und Bedünken. Er weiß wohl, dass gar Mancher sagen würde, ja, ja, er hat schon recht, der Patriarch, und hat deswegen seine Beurteiler im Stücke selbst. Der Tempelherr und der Klosterbruder; der eine ein strenger Mönch, der andere ein Laienbruder, denen allerdings Eindringlichkeit und Umsicht in solchen Dingen nicht abzusprechen sei, Beide gehorchen schlecht den Befehlen des Patriarchen und sind dessen Kritiker. Der eine nennt die Spioniererei, Auskundschafterei, Schurkerei, der andere erklärt, vor diesen Befehlen einen Ekel zu haben *) und spricht sich über die erwähnte vermeinte Sünde in einer Weise aus, welche lautet:

      Das ist die Sünde
      Die aller Sünden größte Sünde uns gilt,
      Nur, dass wir, Gott sei Dank, so recht nicht wissen
      Worin sie eigentlich besteht. (Aufz. 4. Auftr. 7)

*) Aufz. 4. Auftr. 7.

Tempelherr und Klosterbruder sind also nicht sowohl um das Christentum a quo zu vertreten, als vielmehr um diesem die Zensur zu machen da. Sie sind übrigens brav und edel gesinnt; nur geben sie uns fast jedesmal zu verstehen, dass ihre Bravour und ihr Edelsinn mit ihrem christlichen Wesen a quo nichts oder wenig zu schaffen habe.

Der Patriarch steht also vereinzelt da, erscheint, wie gesagt, nur einmal auf dem Schauplatz des Stückes, als er von einem Kranken kommt. Sein Charakter wird uns größtenteils durch die zwei ihm treulosen Mönche überbracht. Das Christentum wäre also in Lessings Nathan nicht hinreichend oder sehr schlecht vertreten. Alle drei sind Mönche; ihre Repräsentanz müsse notwendiger Weise eine erkünstelte, allerdings eine leidenschaftliche sein, und es bliebe uns noch der Wunsch zu wissen übrig, wie es mit dieser Sache im Volke selber aussieht. Wir sind zu sehen begierig, wie die Vertretung auf einer natürlicheren Weise und weniger parteiisch ausfallen würde. Dem zu entsprechen ernennt der Dichter seine Daja, die die Pflegemutter im Hause des Juden ist.

Wie wir bereits wissen, ist ihr Gewissen fortwährend in Angst wegen dem Seelenheil der ihrer Pflege anvertrauten Person. Es wird zwar durch die Freigebigkeit Nathans beruhigt, um aber dann später desto unerbittlicher aufzubrausen. Ihr religiöses Bewusstsein, das sie so gerne an ihrem Zögling verwerten möchte, platzt an dem Geiste Rechas, der in der Schule der Vernunft groß geworden ist, ab. Ihr Charakter ist sonst schlicht und ehrlich; sie verrät Nathan, ihren und Rechas Wohltäter, an die Geistlichkeit weniger um dem Juden zu schaden, als um der Judenschaft und der Christenheit eine Seele mehr ab- und zuzugewinnen. Sie handelt übrigens im Sinne ihrer Überzeugungen, ohne Verschmitztheit und selbst ohne Schlauheit, und es darf dem Dichter nicht zum Vorwurf gemacht werden, er habe sich die Christen unter dem Bilde der Verworfenheit gerne verstellen wollen. In Dajas Charakter blickt nichts hervor, was sie in den Augen ihres Volkes brandmarken könnte. Wenn sie gerne Ehe stiften möchte, so ist sie nur ihrem Geschlechte treu und es droht ihr von dieser Seite kein Vorwurf. Ihre Proselytenmacherei und zum Teil ihre blumige Dogmatik ist es, was Lessing in ihr verwiesen haben wollte. Aber auch hierin wartet er das Urteil des außerhalb des Dramas stehenden Publikums nicht ab. Gar mancher würde auch hier wiederholen: ja ja sie hat schon recht, die Pflegemutter. – Was aber sagt hierzu der Herr Tempelherr? Als sie diesem das Mädchen als Christin anempfiehlt fällt er mit dem Einwurf ein:

Besonders da
Sie eine Christin ist von Eurer Mache. (Aufz. 3. Auftr. 10)

Diese zu eifrige Christin beurkundet sich uns überhaupt, auch in weltlichen Dingen, als ein äußerst geknechtetes Wesen, dass sie sogar ihren Stolz auf die Knechtschaft jetzt. Sie spricht:

      Auch mir ward’s vor der Wiege nicht gesungen,
      Dass ich nur darum meinem Gemahl
      Nach Palästina folgen würde; um da
      Ein Judenmädchen zu erziehen. Es war
      Mein lieber Ehgemahl ein edler Knecht
      In Kaiser Friedrichs Heere – (Aufz. 1. Auftr. 6)

Zu dieser so abgeschmackten Prahlerei glaubt der Tempelherr noch zufügen zu dürfen:

                              Von Geburt
      Ein Schweizer, dem die Ehre und Gnade ward
      Mit einer kaiserlichen Majestät
      In einem Flusse zu ersaufen. (Dass.)

Lessing scheint uns durch diese fast unnötige Notiz anzeigen zu wollen, dass religiöse Ängstlichkeit nur knechtisch gesinnten Geistern eigentümlich sei. Ist aber einmal diese Notiz für die Didaktik des Stückes gegeben, so entlehnen wir derselben auch den eigentlichen Zeitpunkt, in den die Handlung fällt. Der Dichter zeigte, dass er über den Himmel die Erde nicht vergaß, und dass er den Boden unter sich wohl gespürt habe. Es ist die erste und die wichtigste Notiz, die uns andeutet, dass die Handlung in die Zeit der Kreuzzüge fällt. Und zwar in dem des Kaiser Friedrich, Rotbart (Barbarossa) genannt, der einen Kreuzzug gegen Saladin unternahm. Von diesem Kaiser ist bekannt, dass er am 10. Juni 1190 im Fluss Saleph, der die Stadt Tars in Zilizien durchstreift, ertrank, während er ein Flussbad nahm. Nun aber sagt Lessing in seiner Vorrede zu Nathan, er habe sich nicht recht an die Chronologie gehalten. Auffallend genug – wer spricht von Chronologie in einem dramatischen und noch dazu didaktischen Gedicht? Wo man berechtigt ist, sich über Namen, Ort und Zeit hinwegzusetzen, um nur noch Tatsachen bestehen zu lassen. Auffallend um so mehr als Lessing in diesem Gedicht sich strikte an die Chronologie gehalten hat. Der Kreuzzug Kaiser Friedrichs fällt gerade in die Zeit, als Saladin, der vorerst in Ägypten, dann über Jerusalem thronte, 1187–1193. Der durch letzteren entthronte König von Jerusalem, Gui de Lusignan, führte unter seinen Titeln auch den eines Meisters der Templer, (maitre de templiers) die dazumal viel Aufsehen machten. Das Briefchen, das der Patriarch an König Philipp bestellt wissen wollte, ist an den König von Frankreich adressiert mit dem Beinamen August, der schon sehr jung die Krone trug; seine erste Regierungsjahre fallen gerade in die Zeit Kaiser Friedrichs und Sultan Saladins. Die Ortschaften Gasa, Askalon, Ramla und Alko, letzte Stadt als Heiratsgut, in das durch die Moslems projektierte, durch die Bischöfe aber vereitelte Ehebündnis zwischen dem Hause Saladins und dem des Königs von England, Richard Löwenherz, ausbedungen, ist geschichtlich richtig. Und was soll da noch fehlen? Jerusalem hat zu jeder Zeit ein Patriarch sich nennendes kirchliches Oberhaupt gehabt, dem die Templer sehr oft den Gehorsam gekündigt hatten. Liegt etwa der Fehler in den Namen Stauffen und Filmek, die in Deutschland nach Kaiser Friedrich aufgetaucht sein sollen? Nennet Assad und Kurd wie Ihr wollet, lasset nur den Einen Vater und den Anderen Sohn sein, und unser Stück wird hierdurch kein Haar breit an Terrain verlieren. Allein wenn Lessing Possen zu spielen verstand, so spielt er auch in dieser die Chronologie betreffenden Bemerkung den Herren Theologen eine Posse. Während sich diese die Köpfe zerbrechen, um Daten zu rektifizieren, so herrscht in dem Werke ein Anachronismus von ganz anderer Natur, indem das Christentum zu viel stabil, etwa zu sehr nach der Vergangenheit, das Judentum hingegen etwa zu viel nach der Zukunft geschildert ist. Auch muss Daja schon zur Zeit der Kreuzzüge eine Protestantin gewesen sein, wenn sie einem erzkatholischen Mönch eine Frau anzutragen wagt, und so einen doppelten Fang beabsichtiget, die quasi Jüdin zur völligen Christin und den Katholiken zum Protestanten zu machen. Wenn Lessing die letzte päpstliche Enzyklika, die gegen die Resultate der Weltweisheit eifert einerseits, und die selbst in der katholischen Welt, die so oft rührige Zölibat-Frage andererseits gekannt hätte, so würde er vielleicht auch wegen diesen Anachronismen sich zu entschuldigen unterlassen haben. Er hätte nur noch selbst mit Einhaltung der Namen, die in einem Stücke, wo es mehr auf Prinzip als auf Geschichte ankommt, unmaßgeblich sind, das in der siebenten Szene des fünften Aktes erwähnte, zu Gath vorgefallen sein sollendes Ereignis etwas weniger zu vergegenwärtigen gehabt, um das Ganze von irgend welchen chronologischen Fehlern frei zu erhalten.

So wie wir einerseits gesehen haben, dass Lessing in seinem Patriarchen, sowie in der Daja, weniger den verworfenen Menschen als den Christen als solchen zu treffen bemüht war, so ist er auch andererseits vorsichtig genug, um auf sich den Vorwurf nicht lasten zu lassen, er wäre gegen das Christentum schon im Voraus so eingenommen gewesen, dass er diesem Boden gar keine gute Pflanze entwachsen ließ, als hätte es im Leben nie einen guten Christenmenschen gegeben. Sein Klosterbruder ist gut genug, ist auch als Christ gut genug, und ist auf sein Christentum so eingebildet, dass alle gute Menschen ihm Christen zu sein scheinen. Freilich muss im Lessingschen Sinne der Mann nicht lesen können, der Buchstabe wäre sonst sein Geist und die Bibel seine Religion, es wäre um seine Güte geschehen oder eine Neigungen wären im ewigen Kampfe mit seinen Grundsätzen und der Klosterbruder wäre eine Wiederholung des Tempelherrn, die ein Dichter wie Lessing in einem und demselben Drama zu vermeiden hätte; es wäre um der didaktischsten Figur seines Christentum geschehen.

Als jedoch der des Lesens unkundige gute Mann zu Nathan spricht:

      Ihr seid ein Christ, bei Gott, Ihr seid ein Christ,
      Ein besserer Christ war nie. (Aufz. 4. Auftr. 7)

glaubt Lessing seinen Nathan, der an die Sache besser versteht, der, Buchstabe und Bibel auf den Fingern zu zählen weiß, der ein Weltweiser ist, einfallen lassen zu müssen:

                                    Was
      Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden. (Aufz. 4. Auftr. 7)

Eine ähnliche Stimmung herrscht in des Klosterbruders Didaktik, die einzig harmlose unter Lessings Christen. Er spricht:

      Und ist denn nicht das Christentum
      Aufs Judentum gegründet? Es hat mich oft
      Geärgert, hat mir Tränen g’nug gekostet,
      Wenn Christen gar zu sehr vergessen konnten,
      Dass unser Herr ja selbst ein Jude war. (Aufz. 4. Auftr. 7)

Als Nathan dieses hört, eröffnet er ihm ganz sein Herz, ergießt vor ihm seine Seele; er erzählt ihm, welches Los die Vergesslichen den Juden während der Kreuzzüge bereitet hatten, worüber der gute Mann Allergerechter ausruft. (Aufz. 4. Auftr. 7)

Lessing vergaß nicht diesen so wichtigen Charakter ganz für seine Zwecke auszubeuten. Dieser Klosterbruder, der mit dem Juden auf so gutem Fuße lebt, ist übrigens die Versinnlichung der in der Nathan-Novelle bei Boccaccio ausgedrückten Aussöhnung zwischen Mitridanes und Nathan. Mit dem Unterschiede jedoch, dass es bei Boccaccio Mitridanes selber ist, der sich aussöhnt; bei Lessing hingegen kommt’s zwischen Patriarchen und selbst zwischen Tempelherren und Juden niemals zur Aussöhnung. Es müsste denn ein Laienbruder sein, der nie eine Mitra trug, ja der nicht einmal lesen kann und so, ein guter Christ zu sein beansprucht. Wer kann dafür, Lessing hat seine Idee, der Buchstabe ist nicht der Geist und die Bibel nicht die Religion. Und wenn die Kenntnis des Alten bei dem Juden und bei Nathan dem Weisen überhaupt nicht schadet, so meint Lessing, dass sie bei Nichtphilosophen gerade wenig fördernd sei. Er lässt deshalb sogar seine Recha, die, weil sie nur noch auf dem Wege der Erziehung steht, der Bücherlektüre fern bleiben. Ein Merkmal, das in Lessings Nathan sowohl in der Charakteristik des Klosterbruders, als in der der Recha nicht unbeachtet zu lassen sei. Freilich wäre noch ein Unterschied zwischen der sogenannten heiligen und profanen Lektüre zu machen, allein Lessing als Dichter konnte sich auf diesen Unterschied nicht einlassen, wenn sein Nathan nicht eine buchstäbliche Wiederholung seiner Fragmente sein soll.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lessings Verdienste um das Judentum