008. Das Vogelnest (Nach Grimm.)

Unter solchem Gespräch sah ich am Schatten oder Gegenschein eines Baumes im Wasser etwas auf der Zwickgabel liegen, das ich gleichwohl auf dem Baume selbst nicht sehen konnte, solches wies ich meinem Weib wunderswegen. Als sie solches betrachtet und die Zwickgabel gemerkt, darauf es lag, kletterte sie auf den Baum und holte es herunter, was wir im Wasser gesehen hatten. Ich sah ihr gar eben zu und wurde gewahr, dass sie in demselben Augenblicke verschwand, als sie das Ding dessen Schatten (Abbild) wir im Wasser erblickt, in die Hand genommen hatte; allein ich sah noch wohl ihre Gestalt im Wasser, wie sie nämlich den Baum wieder herabkletterte und ein kleines Vogelnest in der Hand hielt, das sie vom Zwickast herunter genommen. Ich fragte sie: was sie für ein Vogelnest hätte? Sie hingegen fragte mich: ob ich sie denn sähe? Ich antwortete: „Auf dem Baum selbst sehe ich Dich nicht, aber wohl deine Gestalt im Wasser." „Es ist gut," sagte sie, „wenn ich herunter komme, wirst Du sehen, was ich habe." Es kam mir gar verwunderlich vor, dass ich mein Weib sollte reden hören, die ich doch nicht sah, und noch seltsamer, dass ich ihren Schatten an der Sonne wandeln sah und sie selbst nicht. Und da sie sich besser zu mir in den Schatten näherte, so dass sie selbst keinen Schatten mehr warf, weil sie sich nunmehr außerhalb dem Sonnenschein im Schatten befand, konnte ich gar nichts mehr von ihr merken, außer, dass ich ein kleines Geräusch vernahm, welches sie beides mit ihrem Fußtritt und ihrer Kleidung machte, welches mir vorkam, als ob ein Gespenst um mich her gewesen wäre. Sie setzte sich zu mir und gab mir das Nest in die Hand, sobald ich das selbige empfangen, sah ich sie wiederum, hingegen sie aber mich nicht; solches probierten wir oft mit einander, und fanden jedes mal, dass Dasjenige, so das Nest in Händen hatte, ganz unsichtbar war. Darauf wickelte sie das Nest in ein Nasentüchel, damit der Stein oder das Kraut oder Wurzel, welches sich im Nest befand und solche Wirkung in sich hatte, nicht heraus fallen sollte und etwa verloren würde, und nachdem sie solches neben sich gelegt, sahen wir einander wiederum wie zuvor, ehe sie auf den Baum gestiegen. Das Nestnastüchel sahen wir nicht, konnten es aber an demjenigen Orte wohl fühlen, wohin sie es gelegt hatte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lesebuch zur Förderung humaner Bildung