Vorrede.

Was ich in Beziehung auf Russische Sprache und Literatur bereits früher in öffentliche Blätter einrücken ließ*), dürfte vorliegendes Buch am Besten rechtfertigen, und daher Folgendes auch hier am passenden Orte stehen. „Die Literatur des Südens ist uns durch das Studium der südlichen Sprachen allgemein bekannt. Anders verhält es sich mit der nordischen und insbesondere Russischen Literatur, von der sogar die meisten Gelehrten nicht viel mehr wissen, als was Russische Miscellen ihnen erzählen. Der Grund dieser Unkunde möchte nur allein in der geringen Bekanntschaft mit den nordischen (slawischen) Sprachen überhaupt zu suchen seyn, und hier trifft den sonst so wissbegierigen Deutschen derselbe Vorwurf, den man mit Recht Franzosen und Italienern in Beziehung auf deutsche Literatur macht. Von allen Reichen des Nordens fesselt wohl am meisten das mit Riesenschritten seiner Vervollkommnung zueilende Russische Reich unsere Aufmerksamkeit, und dessen ungeachtet bleiben uns seine Sprache und Literatur noch immer fremd. Seit dem Anfang des 18ten Jahrhunderts sieht man Russland im geistigen Bunde mit den übrigen Staaten Europa’s, und bei einer genauern Vergleichung würde sich zeigen, dass zu jener Zeit auch die deutsche Literatur auf keiner hohen Stufe stand. Dürfte nicht diese Betrachtung Italienern und Franzosen zur Entschuldigung dienen, wenn diese noch zu Anfang des 19ten Jahrhunderts der Meinung waren, die deutsche Literatur habe wenig Großes aufzuweisen? Behauptet man, daß in Russland nur die höhern Klassen auf Bildung Anspruch machen können, so vergisst man, daß die Menge in allen Ländern sich gleiche, wovon der mit gründlichen Sprachkenntnissen ausgerüstete Reisende zur Genüge sich überzeugen kann, wenn er die Hauptstädte nicht zum alleinigen Maaßstabe seiner Urtheile über Volksbildung macht, sondern vorzüglich auch auf dem Lande verweilt. Obgleich die Russen noch keinen Göthe oder Shakspeare — wenn anders diese je erreicht werden können — besitzen, so erblicken wir sie jedoch seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf der Bahn, welche sie bei ihren herrlichen Geistesanlagen dieser Höhe einst nahe bringen muß. Um sich hiervon zu überzeugen, lese man den im J. 1822 zu St. Petersburg in russischer Sprache erschienenen Versuch einer kurzen Geschichte der Russischen Literatur von N. Gretsch, worin biographische und literarische Notizen von beinahe 300 russischen Schriftstellern zu finden sind, von denen, was die Werke der schönen Literatur betrifft, besonders Karamsin, Dmitrijeff, Murawjeff, Oseroff, Schischkoff, Podobädoff, Leßnizkj, Droßdoff, Protassoff, Krüloff, Shukofskj, Batjuschkoff, Wäsemskj, Schachofskoj, Gnäditsch, Wojejkoff, Puschkin u. m. A. die glorreiche Regierung Alexanders I, verherrlichen....“ Dieses von dem Kaiserl. Russischen Staatsrath Nikolai von Gretsch, eines durch Kritik und Sprachkenntniß ausgezeichneten Gelehrten, verfasste Werk ist vorliegendem Lehrbuche der Russischen Literatur zu Grunde gelegt, dessen Herausgabe einem fühlbaren Mangel abzuhelfen bestimmt ist, da wir seit der von 1772 bis 1789 in 11 Bänden erschienenen Russischen Bibliothek von Bacmeister — mithin über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren — nichts Aehnliches in deutscher Sprache besitzen, denn auch Strahls gelehrtes Russland enthält blos die russischen Schriftsteller des geistlichen Standes, deren Anzahl noch durch die in meinem Russischen Schriftsteller-Lexikon befindlichen Artikel, als: Alexejeff, Amwrossj-Protassoff, Andrej Lüsloff, Eugenj Bolchowitinoff **), Bußlajeff, Wassilj, Grigorj (Diakon), Grigorowitsch Wassilj, Michael Deßnizkj, Filaret Droßdoff, Sestrenzewitsch-Bogusch, vermehrt wird. — Außer den von Hrn. v. Gretsch angegebenen russischen Schriftstellern sind der Vollständigkeit wegen auch noch mehrere Andere in den II. Theil aufgenommen worden, so namentlich diejenigen, welche Alex. Betuscheff in seiner Uebersicht der Russ. Literatur angeführt hat. — Obgleich ich mich im Ganzen an das oben genannte Werk des Hrn. v. Gretsch gehalten habe, so schien es mir doch für meinen Zweck angemessener, die Geschichte der Literatur in zwei Theile zu trennen, von denen nämlich der erste die eigentliche Geschichte der russ. Literatur, der zweite aber die biographisch-literarischen Nachrichten der russischen Schriftsteller enthält, und welchem letztern ich zu größerer Bequemlichkeit die Form eines Lexikons gab. — Bei der Orthographie der russ. Eigennamen bin ich der neuesten gefolgt, wie sie Tappe angegeben hat, wonach ich z. B.ff, ü, sh setze, wo Andere w oder v, y oder ui, und sch oder ein französisches j schreiben, doch hielt ich mich hinsichtlich der Ortsnamen meistens an die in neuern Geographien übliche.
Otto.




*) S. Neue Breslauer Zeitung vom 17. Sept. 1825.

**) Verf. des Werkes, welchem Hr. Prof. Strahl bei Bearbeitung seines gelehrten Rußlands gefolgt ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lehrbuch der Russischen Literatur.