Legenden als Geschichtsquellen
Von allen diesen Erzählungen und vielen ähnlichen wissen wir heute, dass sie nicht tatsachliche Wahrheit wiedergeben oder mindestens nicht bewiesen werden können. Und doch erzählen wir sie weiter, nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsenen, und halten es für schlimmer, sie nicht zu kennen als manche Züge beglaubigter Geschichte. Lassen sie sich malerisch darstellen, so beglückwünschen wir den Künstler, der sich solche Stoffe gewählt hat. Man kann nichts Schöneres sehen als die Wunder des h. Franziskus, gemalt von Giotto, und man kann nichts Eindrucksvolleres und Gewaltigeres in sich aufnehmen, als die Propheten und Sibyllen Michel Angelos in der Sixtina und doch sind diese Sibyllen nur Gestalten der Legende, und die Wunder des Franziskus Stücke einer Geschichte, die sich niemals begeben hat.
Ich meine, es verlohnt sich wohl der Mühe, eine flüchtige Stunde dem Nachdenken darüber zu widmen, was denn eigentlich Legenden sind, warum sie uns teuer sind und ob sie uns teuer bleiben dürfen. Wir leben in einem Zeitalter, das vielleicht nicht geringeren Selbsttäuschungen ausgesetzt ist, als die vergangenen, aber doch ernsthafter als die meisten der früheren sich bemüht, der wirklichen Geschichte ins Auge zu sehen. Wir sind ängstlich besorgt, uns vor Täuschungen zu sichern. Wenn wir manches von dem verloren haben, was den früheren Geschlechtern als unantastbar und herrlich galt, so wollen wir wenigstens den herben Trost behalten, dafür die Wahrheit zu besitzen. Was sollen nun noch die Legenden? Sind sie nicht das Überbleibsel einer Epoche, die anders empfand und anders urteilte als wir? Können sie uns denn überhaupt irgend etwas lehren? oder haben sie nicht vielmehr die Menschen stets in die Irre geführt und halten sie noch heute mit Täuschungen hin?
Gewiss die Legende ist in vieler Hinsicht die schlimmste, nie rastende Feindin der wirklichen Geschichte. Man kann sie der Schlingpflanze vergleichen, die aufwächst, wo nur immer Geschichte aufwächst. Fast gleichzeitig mit dem großen Ereignis und mit dem großen Mann strebt auch die Legende auf. Je größer jene werden, umso stärker wuchert auch sie. Sie umrankt und umklammert elementare Ereignisse ebenso wie gewaltige Taten, das Faktum ebenso wie die Person. Sie sendet ihre Ranken von Baum zu Baum; je hoher der Stamm, umso dichter und fester umzieht sie ihn. Zuletzt ist der ganze Wald in ein Gewirr von Ranken und Laub geschlungen. Ein Stamm nach dem andern ist ausgesogen und verdorrt: nicht mehr die natürliche Mannigfaltigkeit der verschiedenen Baume stellt sich dem Beschauer dar; überall erscheint das einförmige Laub der Schlingpflanze; nur das unbedeutende Gestrüpp am niederen Waldboden bleibt verschont.
Das ist das Bild, welches die von der Legende umsponnene Geschichte bietet. Bedarf es Beweise? Was haben die Griechen, was die Römer von ihrer ältesten Geschichte gewusst? So gut wie nichts mehr, weil die Legende alles überwuchert hatte. Was Livius von der ältesten Geschichte Roms berichtet, ist mannigfaltig genug; aber fast nichts hält vor der Kritik Stich. Man wendet ein, das läge zu weit zurück; denn es führe in das Kindesalter der europäischen Menschheit. Nun wohl, blichen wir auf das Mittelalter! Was hat man im Mittelalter von der ältesten Geschichte des Christentums gewusst, von der Geschichte Jesu Christi, von dem apostolischen Zeitalter, von den Christenverfolgungen, von der Entstehung der katholischen Kirche und dem Ursprung des Papsttums, von dem großen Umschwung unter Konstantin und der Entstehung der Staatskirche? Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, dass man weniger als nichts gewusst hat; denn nur nebelhafte und unsichere Erinnerungen an die Wirklichkeit waren vorhanden, wahrend ein ungeheures Gestrüpp fortwuchernder Legenden alles überzog. Die Legende herrschte damals ebenso im Abendland, wie im Morgenland. Volkstümlich und nationalkirchlich verschieden war sie ausgeprägt; in ihren Grundzügen war sie dieselbe. In dem weiten Gebiete der römischen Kirche zeigte sie sich in wesentlich einförmiger Gestalt. Man erzählte sie in Spanien ebenso wie in England, auf Sizilien nicht anders als in Schweden; denn was man erzählte, war die legendarische Überlieferung der römischen Kirche. Noch schlimmer herrschte sie bei den Christen des Orients. Wie die heiße Wüstensonne im Hochsommer alles Grünende verzehrt, so erscheint z. B. in der koptischen Kirche alle wirkliche Erinnerung ausgebrannt durch die Glut der Märtyrer- und Heiligen-Legenden.
Lassen Sie mich das mittelalterliche Geschichtsbild in wenigen Strichen zeichnen. Es gehört ja leider zum geringsten Teile der Vergangenheit an: die katholische Kirche hält noch heute das meiste aufrecht. Und viele von den Legenden, die sie erzählt, gleichen nicht einmal der Schlingpflanze, die wenigstens naturwüchsig aufstrebt; sie gleichen vielmehr der weißgrauen Tünche, mit der ein Barbar die herrlichen Freskogemälde in dem Kreuzgang einer Kirche bedeckt. Schon hier begegnet uns ein bedeutungsvoller Unterschied zwischen Legende und Legende, d. h. zwischen der naiven und der tendenziösen Legende.
Wohl wurden die Evangelien und die Apostelgeschichte im Mittelalter fort und fort gelesen; aber viel lebhafter beschäftigten die Phantasie die unzähligen Legenden, die von Jesus Christus, der Jungfrau Maria und den Aposteln erzählt und wie das Evangelium geglaubt wurden. Joachim und Anna die Eltern der Maria, Maria als Nonne im Tempel erzogen, Jesus Christus als Kind die staunenswertesten Wunder verrichtend: man hat umfangreiche Bücher aus ihnen zusammengestellt, dass er als zartes Kind aus Lehm Vogel bildete und sie dann fliegen ließ und vieles ähnliche. Dann Marias Geschichte als Parallele zur Geschichte Christi, durchgeführt bis zur Himmelfahrt. Die Apostel sämtlich nach strenger Mönchsregel lebend, die Wirksamkeit jedes einzelnen eine Kette erstaunlicher Wunder; in Jerusalem halten sie ein Konzil ab und verteilen die Welt unter sich; dann ziehen sie hinaus, ein jeder zu den ihm bestimmten Völkern; schon nach einem Menschenalter ist das Christentum in der ganzen Welt verkündet worden. Nach England geht Joseph von Arimathia als Missionar, nach Frankreich jener Dionysius, den Paulus zu Athen bekehrt hatte. Als Oberbischof waltet über dem ganzen Abendlande der Apostel Petrus. Ihn hat Christus zum Papst eingesetzt; er nahm daher seinen Sitz in Rom und hat dort 25 Jahre als Bischof gewirkt. Von Rom aus hat er Bistümer in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland gegründet, indem er seine Schüler ordinierte und als Bischöfe überall hinsandte, z. B. auch nach Köln, Trier und Mainz. Dann kamen die Verfolgungszeiten. Fast jeder römische Kaiser, von Nero bis Konstantin, wurde als wütender, furchtbarer Christenverfolger dargestellt. Dreihundert Jahre lang sind fort und fort Ströme von Blut geflossen; alle römischen Bischofe z. B. sind Märtyrer geworden. Dann auf einmal, ohne Vorbereitung, der herrlichste Umschwung! Die Sonne strahlt auf über dem Leichenfeld: Gott erweckt Konstantin den Großen. Dieses auserwählte Rüstzeug rottet das Heidentum aus und setzt die Kirche auf den Thron. Schon beim Antritt seiner Herrschaft lässt er sich vom römischen Bischof Sylvester taufen und schenkt diesem dafür Italien und die Inseln d. h. nicht weniger als alle Inseln, die es auf der Erde gibt. Er selbst verlässt Rom und schlagt seinen Herrschersitz in Konstantinopel auf; denn es ziemte ihm nicht, neben dem Statthalter Christi in derselben Stadt zu regieren. Dieser bleibt in Rom und übertragt später die römische Kaiserkrone kraft eigener Machtvollkommenheit auf Karl den Großen. In allen diesen Legenden und hundert ähnlichen, welche die Geschichtsbetrachtung und Politik des Mittelalters bestimmt haben, ist Naives und Tendenziöses wundersam gemischt. Aber immer stärker überwog das tendenziöse Element. Wie vieles, was sich auf den römischen Bischof bezieht, ist Tendenzlegende! Nachdem im 8. Jahrhundert die Geschichte von der Schenkung Konstantins erfunden worden war, folgte im 9. Jahrhundert die verhängnisvollste Legendenbildung, die in der Kirche je vorgekommen ist und welche das Andenken an die wahre Geschichte fast völlig austilgte. In einer gefälschten Briefsammlung wurden jedem der ältesten römischen Bischofe von Petrus bis zum 4. Jahrhundert Briefe beigelegt, und jeder spricht in ihnen wie ein Papst des 9. Jahrhunderts. Da man diese Briefe für echt nahm, so erlosch das Andenken an die wirkliche Geschichte; es ist zu den Zeiten des heiligen Petrus und seiner nächsten Nachfolger in Rom und in der Kirche alles genau so gewesen, wie es heute dort ist. Diese Annahme, die sich wie ein Leichentuch auf die wirkliche Geschichte legte, war die notwendige Folge der Legendenbildung, und sie setzte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit durch. Seitdem sah man die Vergangenheit der Kirche wesentlich nur als den Reflex ihrer Gegenwart.
Die Legende hat hier ihr Werk wirklich vollbracht. Es handelte sich im Mittelalter nicht nur um einzelne unrichtige legendarische Züge an dem Geschichtsbilde der Vergangenheit; nein dieses Bild selbst wurde ganz und gar durch ein anderes ersetzt. Allein nicht nur im Altertum und im Mittelalter ist das geschehen. Wenn wir heute unsere großen Historiker, welche die neueste Geschichte schreiben, befragen, welches der schwierigste Teil ihrer Aufgabe sei, so antworten sie uns einmütig, der Kampf wider die Legende. Sie reden von einer fridericianischen, einer napoleonischen, einer koburgischen Legende, und wiederum von einer Legende des Liberalismus, der Konservativen usw. Eine jede politische und kirchliche Partei hat ihre Legenden, und diese Legenden, sagen sie, lasten mit Zentnerschwere auf der Erkenntnis der Geschichte. Sollen wir diese Legenden, nur weil sie keine Wunder und Zeichen enthalten, von den alten Legenden unterscheiden? Ein durchschlagender Grund lässt sich nicht finden. Kernige Zusammenfassungen zu unwirklichen Anekdoten und wiederum pure tendenziöse Erfindungen schlimmster Art finden sich hier wie dort. Die Unterschiede kommen lediglich durch die Kulissen der Zeit und der allgemeinen Kultur zustande. Aber wo hört die Geschichte auf, und wo fängt die Legende an, wenn wir dem Worte die weiteste Bedeutung geben? Die Frage scheint keine ganz einfache zu sein; denn wir sehen Männer von erprobter Wahrheitsliebe heftig über sie streiten. Der eine schreibt ein Geschichtswerk und meint in allem der Wahrheit die Ehre gegeben zu haben. Aber ein anderer tritt auf und erklärt diese Darstellung für legendarisch. Gegen ein katholisches Geschichtswerk über die Reformation, das vor zwei Jahrzehnten erschienen ist, erhoben sich einhellig die protestantischen Gelehrten und bezeichneten die Darstellung als Tendenzlegende. Das ist sie auch. Dennoch kann man dem Verfasser kaum irgendwo nachweisen, dass er dem gefolgt sei, was man im gemeinen Sinn „Legenden" nennt. Er schrieb seine Geschichte größtenteils aus Quellenstellen zusammen, und doch soll sie Legende sein? Bei dieser paradoxen Behauptung können wir anknüpfen. Wir müssen uns fragen: Was ist denn eigentlich Legende? Über ihren Unwert und ihren Wert vermögen wir nur zu urteilen, wenn wir ihre Natur kennen gelernt haben. Was ist Legende? Nun, dass sie und die ihr verwandte „Sage" etwas anderes ist als ein Mythus oder als ein Märchen, ist uns unmittelbar deutlich, wenn auch nicht wenige Sagen aus Legenden und Mythen gemischt sind. Der Mythus stammt aus der religiösen Naturbetrachtung vergangener Zeiten: der Kampf des Zeus mit den Titanen ist ein Mythus. Das Märchen nimmt seine Stoffe, wo es sie findet und will lediglich unterhalten. Das Reich des Märchens ist die schrankenlose, unermessliche Phantasie. Was aber will die Legende? Unser Sprachgebrauch scheint auf den ersten Blich keine einfache Antwort zuzulassen. Er nennt Wundergeschichten Legenden; er nennt Geschichten , die an sich wahr sein konnten, es aber nicht sind, auch Legenden; er nennt fromme Erzählungen so, und andererseits bezeichnet er umfassende Geschichtsdarstellungen unter Umständen als legendarisch. Wo ist hier ein Gemeinsames? Ein Gemeinsames ist dennoch vorhanden, und man kann es mit einem Worte ausdrücken: die Legende will die Geschichte charakterisieren. Die Legende - im weitesten Sinn des Wortes - ist Beurteilung der Geschichte in der Form der Geschichtserzählung. In den Mitteln für solche Beurteilung ist sie nicht wählerisch. Sie beurteilt die Geschichte erstlich, indem sie in einem ungeheuren wunderbaren Ereignis den ganzen Eindruck derselben zusammenfasst: Konstantin der Große hat am hellichten Tage ein Kreuzeszeichen am Himmel geschaut mit der Aufschrift: ,,In diesem Zeichen wirst du siegen". So vollzog sich in ihm und im Reiche der plötzliche große Umschwung. Die Legende beurteilt die Geschichte zweitens aber, indem sie in einer schlagenden Anekdote, in einem kräftigen Wort den Wert und die ganze Bedeutung einer Person zum Ausdruck zu bringen sucht. Wir erinnern uns an das Galilei in den Mund gelegte Wort: „Und sie bewegt sich doch", und an viele ähnliche. Die Legende beurteilt die Geschichte endlich durch Auswahl und Gruppierung der Tatsachen, die sie erzählt. Sie braucht nichts hinzuzufügen, und sie vermag doch durch das, was sie erzählt und was sie verschweigt, ein solches Bild von der Geschichte zu schaffen, wie sie es wünscht. Überall ist ihr Absehen darauf gerichtet, ein bestimmtes Urteil über die Geschichte geltend zu machen und wirksam einzuprägen. Dieses Urteil, projiziert in die Geschichte, ist die Legende.
In dem Moment, wo wir dies erkannt haben, öffnet sich uns die weiteste Perspektive. Wir alle leben in der Legende, d. h. in Urteilen über die Geschichte. Somit leben wir in einer doppelten Geschichte: in der Geschichte der Tatsachen, die mit elementarer Macht uns bestimmen, und in der Geschichte der Gedanken über die Tatsachen. An jener Geschichte vermögen wir nichts zu andern, wenn sie sich einmal vollzogen hat; an dieser Geschichte arbeiten wir unaufhörlich selbst mit. Wenn eine Hungersnot oder Krankheit oder eine wirtschaftliche Krisis über ein Land kommt, wenn eine Nation eine Niederlage im Krieg erleidet, wenn furchtbare Natur-Ereignisse ganze Städte zerstören, so sind das Tatsachen, deren Folgen kein Beteiligter auszuweichen vermag. Er mag über sie denken und urteilen wie er will: er kann sich der elementaren Gewalt dieser Vorgange zunächst nicht entziehen. Deutschland ist durch den dreißigjährigen Krieg verwüstet, Preußen ist durch die Niederlage bei Jena gebeugt, die Franzosen sind bei Sedan geschlagen worden das sind Ereignisse, deren natürliche Folgen bestehen bleiben, mag man sie nun gelten lassen oder nicht, sie offen bekennen oder vertuschen. Allein nur ihre natürlichen Folgen bleiben bestehen; aber sie haben noch andere Folgen; denn sie treffen, indem sie den Menschen treffen, nicht Holz und Stein, sondern den lebendigen Geist. Aus der Art aber, wie der lebendige Geist sie auffasst, entsteht eine neue, zweite Geschichte. Bleiben wir bei dem Beispiel der Niederlage von Jena. Alles kam darauf an, wie man damals diese Niederlage deutete, als zufälliges Ereignis oder als notwendiges Geschick oder als verdiente Strafe, als den Anfang des Endes oder als die letzte furchtbare Mahnung an das Vaterland, in einmütiger Kraft sich zu erheben. Die Tatsache selbst ist stumm und brutal; aber der Geist deutet die Tatsache, und je nach dem Ausfall dieser Deutung bildet er eine neue Geschichte. So wichtig und entscheidend ist diese Deutung, dass erst dann alles verloren ist, wenn sie falsch ist, während noch alles zurückgewonnen werden kann, wenn sie richtig ist. In der Tat: die Deutung ist oftmals in der Geschichte viel wichtiger geworden als die Sache selbst. Dass der Papst am Weihnachtsfest des Jahres 800 dem König Karl die römische Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt hat, war faktisch bei dem ganzen Vorgang nicht das wichtigste und hatte zunächst auch keine besonderen Wirkungen; aber dass man nachmals diese Krönung als Verleihung der Krone durch den Papst deutete diese Legende hat unermessliche Folgen gehabt. Der Glaube an die Verleihung hat in der Geschichte dieselbe Kraft und Bedeutung gewonnen, als wäre sie wirklich geschehen. Durch die Deutung können die natürlichen Folgen eines Ereignisses geradezu umgebogen und in ihr Gegenteil verwandelt werden. Wer äußeres Leiden, Kummer und Not sich als Mahnungen oder Prüfungen deutet, der vermag Trauben von den Dornen und Feigen von den Disteln zu sammeln. Und was von dem Leben des einzelnen gilt, das gilt auch von dem Leben ganzer Volker. Mit den natürlichen Folgen der Tatsachen müssen wir alle fertig werden; aber der Streit hebt an, wo es sich um die Beurteilung der Tatsachen handelt. Schon ein Weiser des griechischen Altertums hat gesagt: Nicht die Tatsachen erschüttern die Menschen, sondern das, was sie über die Tatsachen denken, das erschüttert sie."
Aber gehen wir nicht zu weit, wenn wir alles das, was man über die Tatsachen denkt und urteilt, also die ganze Geschichtsbetrachtung, in die Legende hineinziehen? Ist es wirklich Legende, wenn ich sage, die Niederlage bei Jena sei ein heilsames Strafgericht über Preußen gewesen? Ist es eine Legende, wenn man Luther den Reformator der Christenheit nennt? Ist jedes Urteil über die Geschichte Legende? Nun an dem Worte liegt es nicht, und wer es vermeiden will, mag es lassen. Der Sprachgebrauch nennt auch nicht alle Urteile über die Geschichte Legenden. Das zutreffende geschichtliche Urteil, wenn es nicht in eine poetische Form gekleidet wird, nennen wir nicht so. Aber im letzten Grunde ist kein Unterschied. Denn auch das zutreffendste Urteil über die Geschichte lässt sich nicht rund und äußerlich beweisen. Niemand bestreitet, dass Luther im Jahre 1517 die Thesen angeschlagen, dass er im Jahre 1521 vor Kaiser und Reich zu Worms gestanden hat; aber dass er der Reformator der Kirche gewesen ist, bestreitet die Mehrzahl der Christen aufs heftigste. Es muss sich also mit diesem Satze ganz anders verhalten als mit jenen, und es verhält sich anders. Jene drücken die einfache Anerkennung einer Tatsache aus; dieser stammt ans dem Eindruck, dem Anteil und der Überzeugung.
In welchem Lichte erscheint uns nun die Legende; sie, die uns im Eingang unserer Betrachtungen als die gefährlichste Feindin der Geschichte entgegengetreten ist? Hier offenbart sie sich vielmehr als eine zweite Geschichte, wichtiger als die erste, und als unsere Geschichte, d. h. als die Geschichte, die der Geist kraft seiner Freiheit hervorruft. Dieselbe Macht scheint hier zugleich zu zerstören und zu bauen. Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Problem eingehen, zuvor die Naturgeschichte der Legende im engeren Sinne des Wortes näher betrachten. Aus ihr wird sich ergeben, dass die wahre Legende die Wahrheit und die falsche Legende die Lüge ist; und dass die wahre Legende der Sonne gleicht, welche mit derselben Kraft das Blatt welken macht und die Frucht reift.
Statt eine trockene Übersicht zu geben, in wie verschiedener und mannigfaltiger Weise die Legende arbeitet, wollen wir uns eine Reihe der bekanntesten Legenden naher ansehen, um aus ihnen zu lernen. Wir fassen zuerst die Gruppe von Legenden ins Auge, die sich auf einzelne hervorragende Personen beziehen. Was die Legende hier bezweckt, ist unmittelbar deutlich. Sie will die seelische Empfindung fixieren, die der Eindruck der Person hervorgerufen hat. Sie will die geistige Bedeutung und den Wert einer großen Persönlichkeit in einem Ausdruck zusammenfassen. Die wirkliche Geschichte ist selten so freundlich, dass sie uns den bedeutenden Mann auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung sozusagen rein darstellt. Luther in Worms das ist ein geschichtliches Bild, welches an und für sich stark genug ist, um jede Legende überflüssig zu machen. Aber wie selten liefert uns die Geschichte solche Bilder! Da hilft dann die Legende nach. Und nun gar, wo es sich um feine seelische Eindrücke handelt! Das Beste am Menschen, sagt Goethe, ist gestaltlos! Wie soll die reine Geschichtserzählung das Gestaltlose wiedergeben? Sie kann es nicht; aber die Legende vermag es. Als Attila vor Rom lag und der Stadt Verderben drohte, da zog der römische Bischof Leo I., umgeben von seinen Priestern, hinaus zum Hunnen-König, um ihn zu beschwören, von der Belagerung abzulassen. Während er zu Attila redete, sah dieser die Apostelfürsten Petrus und Paulus mit gezückten Schwertern neben dem Papste stehen. Im Tiefsten erschreckt gab der Barbar den Befehl zum Rückzug. Das ist gewiss eine Legende; aber wer die wundersam gewaltige Persönlichkeit Leos des Großen kennt, der weiß, dass diese Legende eine wahre Legende ist. Nicht in dem gemeinen niederen Sinne; aber sie bringt in unübertrefflicher Weise zum Ausdruck, dass die ganze Kraft Leos des Großen der Gedanke gewesen ist, den er zeitlebens, wie kein anderer römischer Bischof, geltend gemacht hat: ich bin der Nachfolger des heiligen Petrus. Was er an Majestät und imponierender Würde besaß, das floss ihm aus dieser felsenfesten Überzeugung. Zugleich zeigt die Legende das moralische Übergewicht der römisch-christlichen Kultur über einen Barbarenkönig. Man erzählt, dass der gewaltigste Papst des 16. Jahrhunderts, Sixtus V., an dem Tage, da er zum Papst gewählt wurde, die Krücken, deren er sich bisher bediente, von sich geworfen habe und frei gegangen sei. Das ist eine Legende. Aber sie zeigt, durch welche Eigenschaften damals nach der Volksmeinung die dreifache Krone gewonnen wurde, und sie bringt in vorzüglicher Weise den Kontrast zum Ausdruck zwischen dem Kardinal und dem Papst. Als Kardinal war Sixtus schmiegsam, zurückhaltend, vorsichtig, als Papst selbständig und energisch. Eine sehr alte Überlieferung berichtet, der Apostel Petrus sei in der Nacht vor seiner Hinrichtung im Gefängnis von Furcht und Kleinmut überfallen worden und sei deshalb geflohen. Da sei ihm auf der Flucht plötzlich Christus erschienen und habe auf die erstaunte Frage des Petrus: „Herr, wohin gehst du?" geantwortet „nach Rom, um mich abermals kreuzigen zu lassen"; beschämt sei Petrus in das Gefängnis zurückgekehrt. Gewiss eine Legende; aber sie ist schon im 2. Jahrhundert in Rom erzählt worden, wo man doch sonst den Petrus nur verherrlichte; sie prägt also den Eindruck aus, dass Petrus bis zu seinem Tode den leichtbeweglichen , vordrängenden aber nicht standhaften Charakter bewahrt hat, den wir aus der evangelischen Geschichte kennen. Die Meisten, die von dem großen Kirchenvater Augustin gehört haben, kennen den Wahlspruch, der ihm in den Mund gelegt wird: „In notwendigen Dingen Einheit, in zweifelhaften Freiheit, in allen Dingen Liebe." Wir wissen jetzt, dass dieser Spruch nicht von Augustin herrührt, sondern aus viel späterer Zeit stammt. Allein es ist noch nicht gelungen, kürzer und besser den Menschen und den Theologen Augustin zu charakterisieren als durch diesen legendarischen Satz. Dem heißblütigen afrikanischen Kirchenvater Tertullian wird das Wort in den Mund gelegt: „Credo, quia absurdum" (Ich glaube der christlichen Lehre, weil sie absurd ist). Niemand vermag diese schlimme Paradoxie in den Werken Tertullians nachzuweisen; aber sie charakterisiert den Theo logen, der trotzig der Vernunft der Gebildeten den Fehdehandschuh hinwarf. Kaiser Konstantin der Große soll auf dem Totenbett die Taufe mit den Worten begehrt haben: „Es schwinde nun alle Zweideutigkeit." Es ist ganz unglaublich, dass er das wirklich gesagt hat. Allein diese Legende bringt in unübertrefflicher Weise zum Ausdruck, dass das bisherige Verhalten Konstantins gegenüber dem Christentum und dem Heidentum noch nicht ein völlig entschiedenes gewesen ist. Luther, erzählt die Legende, hat mit dem leibhaftigen Teufel zu kämpfen gehabt. Aber was damit gemeint ist, sagt uns der Dichter unübertrefflich:
,,Er trug den Kampf in breiter Brust verhüllt,
Der jetzt der Erde halben Kreis erfüllt;
Sein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiet:
Mich wundert’s nicht, dass er Dämonen sieht."
Das alles sind Legenden im engsten Sinn des Wortes; aber das eben Ausgeführte gilt auch dort, wo es sich um große geschichtliche Urteile über eine Persönlichkeit handelt, die im niederen Sinn unrichtig, in einem höheren richtig sind. Wir feiern Gustav Adolf als einen deutschen Helden. Nichts ist leichter zu beweisen, als dass er Deutschland soviel rauben wollte, als er bekommen konnte, dass er keine deutsche, sondern schwedische Politik getrieben hat. Mit Hohn weisen daher die Katholiken auf diesen angeblichen deutschen Helden, den wir rühmen. Allein Gustav Adolf rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutschland zerfleischen half. Die Rettung des Protestantismus war aber mittelbar auch die Rettung Deutschlands, ja die einzige Rettung; denn ein spanisch-habsburgisches katholisches Deutschland wäre kein Deutschland mehr gewesen. So mag man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, dass Gustav Adolf ein deutscher Held gewesen ist.
Indem die Legende ihre Helden charakterisiert, verstärkt sie oftmals das in ungeschichtlicher Weise, was ihnen eigentümlich gewesen ist. Die Legende liebt die Übertreibung. Allein das ist doch nicht einfach als Unwahrhaftigkeit zu beurteilen. Sie will durch Wort und Schilderung denselben Eindruck hervorrufen, den einst die Person selbst gemacht hat. Aber welches Wort ist dazu fähig? So bleibt ihr nichts übrig, als die überlieferten Züge zu verstärken. Sie tut das oft in sehr kindlicher Weise, und an der Art der Verstärkung kann man feststellen, aus welchen Kreisen die Legende stammt. Anders erzählen die Germanen ihre Heldengeschichten und anders die Romanen. Anders haben die Morgenländer uns die Heiligen- und Märtyrergeschichten überliefert und anders die Abendländer. Die fränkischen Heiligenlegenden des frühen Mittelalters zeichnen sieh durch gemütvolle Schilderung und individuelle Zeichnung aus; die Märtyrergeschichten der Orientalen sind starr und einförmig. Aber Eines können die Biographen gerade heutzutage von der Legende lernen, dass es nicht Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, das Kleinliche und Erbärmliche, was in jedem Menschenleben vorhanden ist, der Nachwelt zu überliefern. Eine große Persönlichkeit, welche der Geschichte angehört, gehört ihr doch nur in dem an, was sie ihr bedeutet. Das bringt die Legende unübertrefflich zum Ausdruck. Dagegen sind unsere photographischen Biographien ein wahrer Unfug. Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, das Andenken an eine große Persönlichkeit, die in der Geschichte etwas geleistet hat und fortwirkend leistet, rein zu erhalten. Was geht es uns an, was sie sonst noch gewesen ist, wenn sie nur das wirklich gewesen ist, weshalb wir sie feiern. Allerdings soweit wie die Legende geht, kann der Historiker nicht gehen. Die Legende bildet den Helden zum Typus aus, fordert vom Himmel die schönsten Sterne für ihn und lässt ihn häufig nicht einmal sterben. Sie kann sich nicht davon überzeugen, dass auch gewaltige Geister dem allgemeinen Menschenlose unterliegen. Daher lebt Kaiser Karl im Untersberg, Kaiser Friedrich im Kyffhäuser, und der Grabhügel des Evangelisten Johannes in Ephesus hebt und senkt sich mit den Atemzügen des Schlummernden. Aber sie gönnt auch den vollkommenen Bösewichtern die Ruhe des Todes nicht. Daher ist Nero nicht gestorben, sondern aufbehalten zum Gericht. In dieser Art der Betrachtung zeigt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung in der Legendenbildung aller Zeiten und Volker. Indem die Legende, wie der Prophet, die Personen deutet und wagt, wird sie zum Weltgericht und teilt Belohnungen und Strafen aus. Was ist Dantes göttliche Komödie anderes als das Gericht eines Propheten über die Weltgeschichte in der Form der Legende? Hierbei zeigt es sich, dass die Phantasie nicht unerschöpflich ist. Es gibt im großen wie im kleinen flatternde Legenden, die entweder von mehreren Personen gleichförmig erzählt werden oder so lange unruhig umherschweifen, bis sie den richtigen Platz gefunden haben. Sie alle kennen hundert Beispiele für jene wandernden Anekdoten, die lange Zeit umgehen, bald dieses, bald jenes Hauptkronen und den Erzähler oft in Verlegenheit bringen, wenn er sie z. B. vom alten Blücher berichtet und ihm dann entgegengehalten wird: ganz richtig; aber es war der alte Wrangel. Was hier im kleinen tagtäglich begegnet, wiederholt sich. auch im großen, und man kann daraus nur den Schluss ziehen, dass jede Anekdote, jede Legende von Rechts wegen dem gehört, auf den sie am besten passt. Aber wir machen auch die Beobachtung, dass manche Legenden sich gänzlich ablösen von ihrem ursprünglichen Inhaber, dieser in volle Vergessenheit gerat, die Legende aber, an sich vielleicht dürftig und nüchtern, von einem Poeten aufgegriffen und mit bedeutendem Inhalt erfüllt wird. Hier erhalt die Legende ein eigentümliches rein poetisches Leben. So sind die Legenden von den großen Magiern, vom Faust, vom ewigen Juden u. a. allmählich entstanden. Aus harten Kieseln hat der Stahl des Dichters Funken geschlagen und die Legende zum allgemein Menschlichen ausgestaltet. Diese Gedichte sind der höchste Triumph der Legende, das Siegel der Wahrheit auf den Spruch: ,,Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie"; aber andererseits hat in dieser Form die Legende jeden Zusammenhang mit der Geschichte aufgegeben und sich zu einer neuen Sphäre emporgeschwungen.
Wir haben bisher nur von Legenden gehandelt, die sich auf Personen beziehen. Das ist auch das eigentliche Reich der Legende. Allein es gibt solche, welche den Gang der geschichtlichen Entwicklung zu ihrem Inhalte haben, ich mochte sie kulturgeschichtliche Legenden nennen. Auch sie sind keineswegs zu verachten. Die Legende schlägt Brüchen über Abgründe, über geschichtliche Partien, die dem Historiker noch dunkel sind. Sie verbindet Zeitalter und getrennte Entwicklungen und weist einen einheitlichen Gang der Geschichte nach, wo der Geschichtsschreiber es nicht vermag. Aber wie viel wertvolle Fingerzeige gibt sie ihm doch! Wie oft hat sie wirklich geschichtliche Erinnerungen aufbewahrt! Sie alle kennen jene Sagen von Kadmus und anderen, die aus Phönizien und dem Orient nach Griechenland gekommen sind und dort die Kultur begründet haben! Von Jugend auf haben wir gehört, dass der fromme Aeneas aus Troja flüchtend über Karthago nach Italien gekommen ist; wir kennen die Geschichten von Alba Longa, Romulus und Remus und von der Gründung Roms. Welche Mühe hat man sich im Mittelalter gegeben, die Franken mit den Trojanern in Verbindung zu bringen oder deutsche Fürstenfamilien auf die Heroen der römischen Geschichte zurückzuführen. Diese Legenden waren auch dann schon wertvoll, wenn sie nichts anderes waren als der lebhafte Ausdruck für die Einsicht, dass alle Kultur Überlieferung ist, dass hier nichts wild wächst, sondern dass sich Glied an Glied reiht. Allein sehr viele dieser Legenden enthalten weit mehr. Sie geben wirklich bestimmte Fingerzeige, wie Eines aus dem Anderen geworden ist. Vor allem ist es die religiöse Überlieferung der Nationen, welche diese Art von Geschichtsbetrachtung nicht entbehren kann. Das zeigt sich sogar bei den polytheistischen Völkern, aber in ungleich kräftigerer Weise bei den monotheistischen. Die Überzeugung, dass ein Gott sei und dass dieser Gott die Geschichte leitet, fordert eine einheitliche Betrachtung der Weltgeschichte; ja man kann geradezu sagen, dass wir an eine Weltgeschichte glauben und eine einheitliche Weltgeschichte zu schreiben versuchen, ist eine Folge des Monotheismus. Zu den ältesten Weltgeschichtsschreibern gehören die alttestamentlichen Propheten. Aber während ihr Auge gen Himmel schaute, schrieb ihre Feder kindliche Züge. In all den großen geschichtlichen Konzeptionen religiöser Art von den Geschichtsbildern der ältesten jüdischen Propheten ab bis zu jenem ,,teste David cum Sibylla" stecht mehr Vernunft, als die Schulweisheit sich träumen lässt. Sie sind als geschichtliche Berichte kindlich und unwahr, aber gewaltig und wahrhaftig als Ausdruck des Urteils über den Gang der Geschichte und als Anweisung, wie man sich zu ihr zu stellen hat. Hier offenbart sich die Legende in ihrer ganzen Macht; denn indem sie die Geschichte deutet und durch erschütternde Propheten diese Deutung den Zeitgenossen einprägt, wird sie selbst ein wirksames Element in der Geschichte, wirft sie sich dem Strom des gemeinen Geschehens entgegen, sucht ihn aufzuhalten oder in neue Bahnen zu leiten. Der Prophet, der die Niederlage Israels als Züchtigung deutet, der sich Assur oder Babel entgegenstemmt, weil er an ihren definitiven Sieg trotz des Augenscheins nicht glaubt, ermutigt und rettet durch seine paradoxe Geschichtsdeutung sein Volk. Er bricht die Gewalt der Geschichte durch die Macht der Legende. Man sagt wohl, solche Geschichtsdeutung sei subjektiv. Als ob es überhaupt eine lehrreiche Geschichtsschreibung geben könnte, die nicht subjektiv wäre! Nur dem sehenden Auge und dem urteilenden Geiste erschließt sich die Geschichte. Nur darum kann es sich handeln, dass der Geist das Wahrhaftige und die Kraft erkennt, und dass er die Tatsachen nicht meistert. Neuere deutsche Geschichte vom preußischen Standpunkt zu schreiben, das ist die wahre Geschichte Deutschlands; Kirchengeschichte vom Standpunkt der Reformation zu schreiben, das ist die wahre Kirchengeschichte. Hier wie dort ist man subjektiv und hat den Vorwurf zu gewärtigen, dass man Legenden bilde. Allein man schreibt die wahre Legende, wenn man die richtig erkannten Tatsachen nach Maßgabe ihrer Kräfte gruppiert.
Aber nun die Kehrseite zu dem Bilde! Die Legende tritt auch in den Dienst der Unwahrheit und Schwache statt in den Dienst der Wahrheit und Kraft. Die ungeheure Macht, welche der Mensch besitzt, aus dem natürlichen Geschehen, indem er es deutet, eine zweite Geschichte zu machen diese Macht wird ihm auch zum Unheil. Das ist der Jammer der Legende, von dem wir im Eingang gesprochen haben, die Geschichtslüge, welche den Tatsachen ihr Maß nimmt, sie ersticht oder fälscht. Den Tatsachen ihr Maß nimmt nun an dieser Art Legendenbildung sind wir alle jeden Augenblick beteiligt. Je nach der Stimmung, in der uns eine Tatsache trifft, heute so und morgen so, beurteilen wir sie anders. Wir tauschen mit unsern Freunden dieses Urteil aus oder schreiben es nieder, und die Legende ist fertig. Heute schreiben wir, dass die Welt immer schlechter wird, und vielleicht schreiben wir morgen, dass sie besser wird. Heute tadeln wir die Politik, und morgen vielleicht loben wir sie. Überall trifft die Tatsache, indem sie auf Menschen trifft, auf Stimmungen. Stimmungen aber sind ein unreiner Spiegel. Sie werfen das Bild verzerrt zurück. So wird den Tatsachen das Maß genommen, und es entstehen Legenden. Das ist die häufigste, tausendfach sich täglich wiederholende Form der Legendenbildung. Sie ist darum die lästigste, aber nicht die schlimmste.
Ersticken und Fälschen, das sind die beiden Arten, in denen die wahrhaft unheilvolle Legende ihr Werk treibt, durch welche sie den Ernst und die Größe der Geschichte auszutilgen versucht. Sie ersticht die Personen und die Tatsachen. Braucht es Beweise dafür? Sind wir nicht auch von dieser Legendenbildung immerfort umgeben? Nichts liegt uns allen näher, als das naive Vorurteil, es mache sich alles von selbst, oder die Lösung lautet: ,,so ist es immer gewesen", und jede Partei, jede Denkweise sucht sich in der Vergangenheit wiederzufinden. Weil man fühlt, welch eine Macht die Geschichte ist, und weil es unbequem ist, eine Neuerung verteidigen zu müssen, so sucht jeder sich selbst mit der Vergangenheit zu decken. Das groteskeste Beispiel liefert freilich auch hier die römische Kirche. Sie behauptet es als ein Glaubenssatz, so wie sie heute sei, sei sie schon vor 1800 Jahren gewesen; in ihrer Lehre, ihrer Verfassung, ihren Ordnungen habe sich wesentlich nichts verändert. Wir Protestanten weisen diese Tendenzlegende, welche alle Tatsachen der Kirchengeschichte ersticht, weit von uns; aber machen wir es in Kirche und Staat denn wesentlich anders? Am Ende sind wir nur Dilettanten und sie sind Virtuosen in ein und derselben bösen Sache. Man werfe einen Blich auf unsere öffentlichen Blätter, auf die Geschichtsschreibung unserer Zeitungen! Die Parteilegende regiert jene Legende, kraft welcher jede Partei, wie sie heute ist, sich mit ihrer klassischen Zeit einfach identifiziert, die Geschichte für sich in Anspruch nimmt und die Tatsachen ersticht! Und wie behandelt die gemeine Legende den wahrhaft großen Mann, den Genius? So lange er lebt, wirkt und daher unbequem ist, ist sie unablässig bemüht, ihn auf das gemeine Niveau herabzuziehen, hundert Geschichten über ihn zu erfinden, damit sie dem großen Haufen das befriedigende Bewusstsein verschaffe: er ist doch ganz so wie wir. Weil die Menge das ewig Gestrige liebt, sucht sie jedes gewaltige Heute zu ersticken. Und doch ist auch das noch nicht die schlimmste Form der Legendenbildung. Wo es sich um das Ersticken handelt, da wirkt noch unbewusster Trieb mit. Aber es gibt eine bewusste Legendenbildung der Lüge, die wissend und schauend die Geschichte fälscht und die Tatsachen in ihr Gegenteil zu verwandeln sucht Auf allen Blättern der Geschichte sind solche bewusste Lügenlegenden zu finden, und sie haben unsägliches Unheil angerichtet. Ich erinnere mich einmal das Wort gelesen zu haben: „man muss den Tatsachen die Zähne ausbrechen", und ein anderes: ,,man muss die Geschichte durch das Dogma überwinden". Hier haben Sie die Arznei und das furchtbare Gift der Legende in Eins, je nach der Deutung dieser Worte. Die Arznei - denn gewiss, es gibt nichts Größeres und Segensreicheres als die Überwindung des gemeinen Geschehens durch die wahrhaftige Deutung desselben, durch die Freiheit des Geistes, durch die Kraft des Gottvertrauens. Das Gift; denn wenn jenes Wort besagen soll, man müsse die Geschichte ersticken und fälschen durch raffinierte Tendenzdichtungen, dann wird die Legende zur Mutter der Lüge. In diesem Sinn gilt das Urteil: die wahre Legende ist in der Geschichte die Wahrheit und die falsche Legende ist die Lüge.
Darf ich nun zusammenfassen, was wir aus dieser Übersicht über die Naturgeschichte der Legende lernen können? Die Frage, die wir stellen müssen, lautet: Sind Legenden Geschichtsquellen? Wir antworten: Nein: sie sind es zunächst in keinem Sinn; denn da sie sämtlich, die wahren und die falschen, aus dem Eindruck und dem Urteil geflossen sind, so bieten sie keine Gewähr dafür, dass die Tatsachen richtig wiedergegeben sind. Mit der Feststellung der Tatsachen hat es aber der Historiker vor allem zu tun. Die Wahrheit der Tatsachen zu ermitteln, ist seine heiligste Pflicht. Wehe dem Geschichtsschreiber, der diese Aufgabe gering achtet oder fälscht! Es gibt hier keine Entschuldigung: er ist ein Verräter seines heiligen Berufs. Wer die Tatsachen ermitteln will, muss bei den Institutionen einsetzen; sie sind das Rückgrat der Geschichte. Hier sind Täuschungen am wenigsten zu erwarten. Erst wenn aus dem tatsächlichen Material die Kette der Erscheinungen hergestellt ist, darf sich der Historiker nach den Stimmungsberichten und Legenden umsehen. Selbst die Stimmungsberichte von Augenzeugen sind schlechte Quellen; denn die Legenden bilden sich oft im Augenblick. Dass es nicht schwer ist, z. B. aus Stimmungsberichten der Reformatoren ein verächtliches Urteil über die Reformation abzuleiten, ist uns jüngst gezeigt worden. Und wie haben die Romantiker die Geschichte übermalt, weil sie mit Vorliebe Legen den ihrer Darstellung zu Grunde legten! So sind die einst vielbewunderten kirchenhistorischen Darstellungen des großen Romantikers Chateaubriand nichts anderes als Legenden aus Legenden. Aber wenn die Kette der Erscheinungen sicher hergestellt ist, dann hat der Geschichtsschreiber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die Legenden kritisch zu benutzen; denn wenn er das persönliche Element in der Geschichte schätzen und zur Darstellung bringen will, so muss er nach ihnen greifen. Die gewaltige Persönlichkeit spiegelt sich niemals vollkommen in den Tatsachen; sie spiegelt sich nur in den Köpfen und Herzen derer, die sie entzündet und entflammt hat. Darf ich gleich das Höchste zum Beweise anfuhren? Wie unvollkommen wäre unsere Kenntnis von Jesus Christus, wenn wir nur seine Worte hatten und nur seine äußere Geschichte kennten! Erst dadurch, dass wir die Legende von ihm besitzen das Wort hier im weitesten Sinn d. h. den Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht, leuchtet uns das ganze Bild seiner Herrlichkeit auf. Ich rechne hierzu auch alles das, was schon in ältester Zeit von eigentlichen Legenden über ihn erzählt worden ist. Wir mühen uns ab, festzustellen, was hier tatsachlich ist und was nicht, und müssen uns abmühen, sonst waren wir Mietlinge. Aber hoch über jeder Frage und aller Kritik steht die Tatsache, die sich fast in jeder Legende über ihn spiegelt, dass er die höchste Gewalt besessen hat, die überhaupt besessen werden kann, die Gewalt über sich selber, und dass er durch Demut und Liebe die Herzen bezwungen hat. Was hier im Großen gilt, das gilt auch im Kleineren. Die Tatsachen allein bringen uns nie einer entschwundenen Person näher. Aus dem Eindruck, den sie auf die Gemüter hinterlassen, wird sie selbst erkannt und geliebt: so entzündet sich eine Fackel an der anderen. Nicht nur für die Zeit, aus welcher sie stammen, sondern auch für die Person und das Ereignis, von welchen sie Zeugnis ablegen, können die Legenden somit vom höchsten Werte werden. Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts ist darum so dürftig und ungenügend gewesen, weil sie die Bedeutung der Legende verkannt hat. Die Kritik allein vermag so wenig Geschichte zu schreiben wie die Romantik.
Aber, was wir heute fordern müssen, ist, dass überall wo die Legende sich als tatsächliche Geschichte gibt, dieser Schein zerstört wird. Wir leben in einem Zeitalter, das den lichten Nebel nicht mehr verträgt, in welchem Geschichte und Legende das Wort im engeren Sinn genommen vermischt werden. Es ist freilich leichter, oder es scheint doch so, an Zweck und Ziel, Kraft und Herrlichkeit der Geschichte zu glauben, wenn schöne Legenden sie durchziehen. Es ist leichter auf die göttliche Leitung der Geschichte zu vertrauen, wenn man den Finger Gottes sichtbar schaut. Und gewiss soll man schonend verfahren, wo eine Legende den Halt bildet für eine sittliche Erkenntnis, eingedenk des tiefen Spruches: „Kräfte und Krücken kommen aus einer Hand." Aber immer geht die Wahrheit über alles, und schließlich ist in der wirklichen Geschichte Erhebung und Kraft genug zu finden, während man nicht ungestraft unter den Palmen der erfundenen Legenden wandelt.
Hier liegt eine Aufgabe, welche den heutigen und den zukünftigen Historikern gestellt ist. Aber wenn es wirklich eine doppelte Geschichte gibt, eine Geschichte der Tatsachen und eine Geschichte der Gedanken über die Tatsachen, so ist es offenbar, dass wir alle an dieser zweiten Geschichte mitarbeiten. Wie groß ist die Verantwortung, die wir damit tragen! Wie wir urteilen und was wir sprechen, das schlägt sich nieder. Ein Sandkorn kommt zum anderen, und so bilden sich Überlieferungen, öffentliche Meinungen, die selbst wieder zu Elementen der Geschichte werden. Deshalb müssen wir Rechenschaft geben über jedes unnütze Wort, weil auch die unnützen Worte nicht unwirksam sind. Es gilt, die Zunge im Zaum zu halten, der falschen Legende kräftig entgegenzutreten und mitzuarbeiten an der Überlieferung der Wahrheit und der Kraft, an der Überlieferung der wahren Legende!
RA 022 Luther Martin
Luther, Anschlag der 95 Thesen
Luther, der Reichstag zu Worms
Luther, die Bibel
Luther, Lutherzimmer auf der Wartburg
009 Karl der Große
008 Der zwanzigjährige Kronprinz Karl
015 Ritter in voller Rüstung
013 Kolonen des 12. Jahrhunderts bei der Mahd
Minnesinger 001 Kaiser Heinrich VI. von Hohenstaufen (1165-1197)
Minnesinger 002 König Konrad der Junge (Konradin) (1252-1268)
Minnesinger 003 Der von Kürenberg
Minnesinger 004 Meister Sperbogel
Minnesinger 005 Herr Dietmar von Eilt
016 Otto von Wittelsbach (1117-1183) Herzog von Bayern, Ferdinand von Miller
017 Religion, Heilige Familie, Michael Rieser
024 Religion, St. Georg, Th. Gämmerler
Heinrich der Löwe - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (1) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (2) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (3) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (4) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (6) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (7) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
Heinrich der Löwe (5) - aus Simrock: "Die deutschen Volksbücher" 1845
095. Die Prunkrüstung Kaiser Karls V. Von einem Mailänder Waffenschmied des 16. Jahrhunderts. Florenz, Nationalmuseum.
130. Kaiserkrönung Karls V. Ausschnitt aus einem Fresko von Giorgio Vasari. Florenz, Palazzo Vecchio.
131. Kaiser Karl V. Gemälde von Tizian, 1548. München, Ältere Pinakothek.
132. Karl VIII. von Frankreich. Miniature. Paris, Nationalbibliothek.
133. König Ludwig XII. von Frankreich. Farbige Zeichnung. Paris, Nationalbibliothek.
134. König Franz I. von Frankreich. Von Jean Clouet. Paris, Louvre.
135. König Heinrich II. von Frankreich. Von Jean Clouet. Florenz, Uffizien.
136. König Heinrich VIII. von England. Von Hans Holbein d. J. Windsor Castle.
137. Einzug Karls VIII. von Frankreich in Florenz. Von Francesco Granacci. Florenz, Uffizien.
138. Einzug König Franz I., Kaiser Karls V. und des Kardinals Alessandro Farnese, des späteren Papstes Paul III., in Paris
139. Gran Cavalcata. Der Einzug Kaiser Karls V. und des Papstes Clemens VII. in Bologna. Wandgemälde von Brusasorci. Verona, Palazzo Ridolfi.
141. Die Engelsburg. Rom. (Im Hintergrund die Peterskirche.)
148. Vor der Peterskirche. Rom. (Fontana della Piazza di San Pietro.)
154. Papst Julius II. Ausschnitt aus einem Gemälde von Raffael. Florenz, Palazzo Pitti.
152. Papst Sixtus IV. Detail von seinem ehernen Grabdenkmal. Von Antonio Pollajuolo. Rom, Peterskirche.
153. Papst Julius II. als Kardinal (Giulio della Rovere). Ausschnitt aus einem Fresko von Botticelli. Rom, Sixtina-Kapelle.
150. Papst Alexander VI. Ausschnitt aus einem Fresko von Pinturicchio. Rom, Vatikan
155. Papst Leo X. mit den Kardinälen Giulio de Medici, dem späteren Papst Clemens VII., und Lodovico de Rossi. Von Raffael. Florenz, Palazzo Pitti.
156. Papst Leo X. Weiß gehöhte Kreidezeichnung von Sebastiane del Piombo. Chatsworth, Sammlung des Herzogs von Devonshire.
157. Papst Clemens VII. in jungen Jahren. Von Sebastiano del Piombo. Neapel, Nationalmuseum.
158. Papst Paul III. mit seinen Enkeln, den Kardinälen Alessandro und Ottavio Farnese. Von Tizian. Neapel, Nationalmuseum.
159. Die Schweizergarde des Papstes. Ausschnitt aus einem Fresko von Raffael. Rom, Vatikan.
160. Franciscus von Assisi. Ausschnitt aus einem Fresko von Cimabue in der Unterkirche S. Francesco zu Assisi.
262. Kaiser Caracalla. Antike Büste, Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Berlin, Altes Museum.
263. Brutus. Von Michelangelo, um 1540. Florenz, Nationalmuseum.
401. Die Weberinnen. (Die drei Parzen.) Aus den Fresken Francesco Cossas im Palazzo Schifanoja zu Ferrara.
402. Webstuhl. (Odysseus und Penelope.) Gemälde von Pinturicchio. London, Nalionalgalerie.
403. Wollweberei. Von Mirabelle Cavalori.
404. Kanonengießerei. Von Francesco Poppi.
405. Goldschmiedewerkstatt. Von Alessandro Fei.
406. Glaswarenfabrik. Von Giovanni Maria Butteri. Fresken im Palazzo Vecchio zu Florenz.
169. Der Dom von Florenz.
170. Der Dom von Ferrara.
189. Christoph Columbus. Gemälde von Sebastiano del Piombo. New York, Metropolitan-Museum.
188. Amerigo Vespucci. Von einem unbekannten Meister des 16. Jahrhunderts. Florenz, Uffizien.