Ein Fehlschuss

Recht in der Mitte des großen Staates New York, dort, wo an den Hängen des romantischen Waldgebirges und in den klaren Tiefen der einsamen Seen die zahlreichen Quellenflüsse des mächtigen Susquehanna ihren Ursprung nehmen, liegt der Schauplatz unserer Geschichte. Dieselbe beginnt im Dezember des Jahres 1793, zehn Jahre nach der Beendigung des Krieges, der den Vereinigten Staaten von Nordamerika ihre Unabhängigkeit brachte.

An einem bitterkalten Tage, kurz vor Sonnenuntergang, fuhr ein schwerfälliger Schlitten auf der schneebedeckten Landstraße dahin, die zu der am Gestade des Otsego–Sees liegenden Ansiedlung Templeton führte. Die kräftigen Pferde waren stellenweise mit dichtem Reif bedeckt, der Atem ging ihnen wie Dampf aus den schnaubenden Nüstern und der Schnee pfiff und knirschte unter ihren Huftritten. Außer dem Kutscher, einem jungen Neger, dessen dunkles Gesicht vor Frost ganz fleckig geworden war, befanden sich noch zwei Personen in dem geräumigen, ganz mit Pelzwerk ausgefüllten Schlitten, ein Mann in der Vollkraft der Jahre, dessen ausdrucksvolle blaue Augen und ansprechende Züge Festigkeit und Tatkraft, aber auch eine große Herzensgüte verrieten, und eine eben erst den Mädchenjahren entwachsene junge Dame von angenehmstem Äußern. Beide, Vater und Tochter, saßen tief in die schützenden Pelze gehüllt und spähten in die winterliche Landschaft hinaus, in der sich bald die Rauchsäulen aus den Schornsteinen der Ansiedlung zeigen mußten.


Der Berg, über den die Straße sich hinzog, war mit Fichten bestanden, deren Stämme zweiglos bis zu einer Höhe von siebzig oder achtzig Fuß emporragten. Die Fernblicke, die sich verschiedentlich zwischen den Bäumen öffneten, zeigten die Gipfel des Gebirgszuges, der jenseits des Tales lag, dem der Schlitten zustrebte. Wie dunkle Säulenschäfte erhoben sich die gewaltigen Bäume aus dem weißen Schnee, um in der Höhe die Zweige waagrecht zu verbreiten, deren immergrüne Nadeln durch leises Rauschen das Todesschweigen der Natur leise und eintönig unterbrachen.

Der Blick des jungen Mädchens schweifte nicht ohne eine gewisse Furchtsamkeit in die Tiefen dieser Waldeinsamkeit hinein, während der Schlitten schnell und fast geräuschlos vorwärts eilte, als plötzlich ein lautes, heulendes Hundegebell das Echo im Walde wachrief und zugleich die lebhafte Aufmerksamkeit des pelzumhüllten Mannes erweckte.

„Halt an, Agamemnon!“ rief derselbe dem Neger auf dem Bocke zu. „Halt an, das ist der alte Hector; ich würde seinen Laut unter tausend Hundestimmen erkennen! Lederstrumpf ist trotz der Kälte auf der Jagd und seine Köter haben ein Wild aufgestört – dort, dicht vor uns, geht eine Hirschfährte über den Weg! Wenn du dich vor dem Schießen nicht fürchtest, Elizabeth, dann will ich dir jetzt einen tüchtigen Braten für die Weihnachtstafel liefern!“

Der Schlitten hielt und wenige Augenblicke später hatte Marmaduke Temple – dies war der Name des Mannes – sich des Pelzes und der großen Fausthandschuhe entledigt, eine doppelläufige Vogelflinte zur Hand genommen und war aus dem Fuhrwerk hinausgesprungen. Kaum stand er auf dem harten Schnee, als ein Hirsch aus dem bereiften Dickicht hervorbrach und quer über den Weg setzte. Blitzschnell hob er das Gewehr und feuerte – der Hirsch rannte weiter; er sandte ihm die Ladung des zweiten Laufes nach, allein, wie es schien, mit dem gleichen Mißerfolg. Schon freute das Mädchen sich unwillkürlich darüber, daß das edle Tier entronnen war, da hörte sie vom Walde her einen dritten Schuß und gleich darauf noch einen vierten; der Hirsch sprang hoch empor, überschlug sich und stürzte nieder auf die Schneekruste, wo er unbeweglich liegen blieb. Ein lautes Hallo ertönte, und zugleich erschienen zwei Männer auf dem Schauplatz, die bisher hinter Fichtenstämmen verborgen gestanden hatten.

„Ei, Natty,“ rief Marmaduke Temple, auf das gefallene Wild zuschreitend, „hätte ich gewußt, daß Ihr hier im Hinterhalt wart, dann hätte ich mein Pulver nicht verschwendet, denn getroffen habe ich wahrscheinlich nicht.“

„Nein, Richter,“ erwiderte der Angeredete unhörbar in sich hineinlachend, „Ihr branntet Euer Pulver nur ab, um an diesem kalten Abend Eure Nase daran zu wärmen. Oder meintet Ihr, einen ausgewachsenen Hirsch, hinter dem obendrein Hector und Juno her waren, mit Eurer Knallbüchse erlegen zu können? Für Fasanen und Schneehühner mag das Ding ausreichen, wenn Ihr aber Euren Sinn auf einen Hirschbraten oder einen Bärenschinken gerichtet habt, Richter, dann müßt Ihr zur langen Büchse greifen und eine Kugel mit einem guten Talgpflaster einladen, sonst verpufft Ihr Euer Pulver und der Magen bleibt leer.“

„Meine Flinte tut ihre Schuldigkeit und hat schon manches Stück Wild erlegt, Natty,“ antwortete Temple lächelnd. „Der eine Lauf war mit Schrot, der andere aber mit Rehposten geladen. Der Hirsch hat zwei Schüsse erhalten, wie ich sehe, einen durch den Hals und einen gerade ins Herz. Es ist daher doch wohl möglich, alter Freund, daß ich ihm einen davon gegeben habe.“

„Meinetwegen, mag ihn getroffen haben, wer will,“ versetzte der Jäger jetzt kurz und verdrossen, „ich denke, er wird gegessen werden.“ Damit zog er ein großes Messer aus einer in seinem Gurt steckenden Scheide und schnitt dem Hirsch die Kehle durch. „Der Hirsch hat zwei Kugeln gekriegt, aber wurden nicht auch zwei gezogene Büchsen abgefeuert? Meint Ihr, ein glatter Lauf verursache solch ein zerrissenes Loch, wie das da im Halse des Tieres? Auch werdet Ihr zugeben, daß der Hirsch erst bei dem letzten Schusse fiel, den aber hat eine jüngere und festere Hand abgegeben als die meine und auch die Eure, das laßt Euch gesagt sein, Richter. Ich für meinen Teil brauche das Wildbret nicht, wenn ich auch nur ein armer Mann bin, aber mein Recht laß ich mir nicht verkümmern in diesem freien Lande. Zwar, was das anbelangt, so geht auch hier oft Gewalt vor Recht, wie ich schon mehrmals gewahr geworden bin.“

Diese letzten Worte brummte der Jäger nur noch unverständlich in sich hinein.

„Nicht doch, Natty,“ sagte der andere mit unverminderter Freundlichkeit, „mir ist es ja nur um die Ehre zu tun, um den Hirschschwanz, den ich gern am Hute trüge. Das Wildbret ist mit einigen Dollars bezahlt. Denkt nur, Natty, wie der komische Kauz, der Richard Jones, mich um die Trophäe beneiden würde! Siebenmal hat er in diesem Winter schon vorbeigeschossen und von all seinen Hirschjagden nur eine Wildgans und zwei graue Eichhörnchen heimgebracht.“

„Ja,“ nickte der alte Jäger trübsinnig, „seit Ihr hier den Wald ausroden und das Land urbar machen laßt, wird das Wild selten. Ich erinnere mich der Zeit, wo ich von meiner Hüttentür aus dreizehn Hirsche erlegte, der Schmaltiere gar nicht zu gedenken. Und wenn ich Bären schießen wollte, dann hatte ich nur nachts wach zu bleiben; die Kerle kamen im Mondschein bis an die Hütte heran und ich schoß sie durch die Spalten in den Wänden. Auch brauchte ich nicht zu fürchten, die Zeit zu verschlafen, dafür heulten die Wölfe zu laut. Hier ist der alte Hector,“ – er streichelte liebevoll den Kopf eines großen schwarz und weiß gefleckten Hundes, der sich an ihn herandrängte, – „seht her, so haben die Wölfe ihn zugerichtet in jener Nacht als ich sie aus dem Rauchfang jagte, wo mein Wildbret hing. Der Hund ist treuer und zuverlässiger als mancher Christenmensch; er liebt den, der ihm sein Brot gibt, und wird niemals einen Freund vergessen.“

Das Wesen und die äußere Erscheinung des Jägers hatten in hohem Grade das Interesse des im Schlitten sitzenden jungen Mädchens erregt. Er war von großer Gestalt, sechs Fuß hoch, dabei aber so mager, daß er tatsächlich noch länger erschien. Auf dem mit dünnem, gelbgrauen Haar bedeckten Kopfe trug er eine Mütze aus Fuchspelz, sein Antlitz war hager und runzelig, verriet jedoch eine eiserne Gesundheit. Unter buschigen Brauen schauten ein Paar helle, graue Augen hervor, sein sehniger Hals war unbedeckt und, wie sein Antlitz, vom Wetter rotbraun gefärbt. Eine Art von Rock aus gegerbtem Hirschfell wurde durch einen Gürtel aus grober, farbiger Wolle fest um seinen mageren Körper geschnürt; seine Füße steckten in Mokassins aus Wildleder, auf indianische Art verziert mit den Stacheln des Stachelschweins; Gamaschen aus demselben Stoff umfaßten seine Beine bis über das Knie, und obgleich er zur Winterszeit darunter starke wollene Strümpfe trug, so hatten diese Gamaschen ihm dennoch den Beinamen „Lederstrumpf“ verschafft, unter welcher Bezeichnung er weit und breit unter den Ansiedlern bekannt war. An der linken Seite hing ihm ein großes Ochsenhorn, so dünn geschabt, daß man das Pulver darin wahrnehmen konnte. Vor dem Leibe trug er eine Ledertasche; während er redete, hatte er derselben ein kleines Hohlmaß entnommen, dasselbe sorgfältig mit Pulver aus dem Horn gefüllt und dann die Büchse geladen, die, den Kolben auf dem Schnee, mit dem Ende des Laufes beinahe bis an seine Mütze reichte.

Während Marmaduke Temple noch einmal die Schußwunden des Hirsches genau betrachtete, war der Gefährte des Jägers, ein junger Mann, herzugetreten.

„Was sagt Ihr zu der Sache, mein Freund,“ wendete der von dem alten Jäger mit „Richter“ Angeredete sich an den letzteren.

„Ich sage, daß ich den Hirsch erlegte,“ antwortete der Jüngling stolz, indem er sich auf eine Büchse lehnte, die beinahe ebenso lang war wie die Nattys.

„Da hätten wir also zwei gegen einen,“ lächelte der Richter. „Ich bin überstimmt. Agamemnon kann seine Stimme nicht abgeben, da er ein Sklave ist, meine Tochter Bessy aber ist noch minderjährig; ich muß mich daher fügen. Nun fragt es sich noch, ob ich das Wildbret nicht käuflich erwerben kann.“

„Mir gehört es nicht, daher kann ich es nicht verkaufen,“ sagte Lederstrumpf mürrisch.

„Nun, und Ihr, junger Mann? Wollt Ihr drei Dollars als Preis für den Hirsch nehmen?“

„Zunächst muß festgestellt werden, wem der Hirsch rechtlich zukommt,“ antwortete der Gefragte höflich, aber fest und in einer Ausdrucksweise, die mit seiner ärmlichen äußeren Erscheinung auffällig in Widerspruch stand. „Wieviel Rehposten hattet Ihr in Eure Flinte geladen?“

„Fünf,“ versetzte der Richter, ein wenig betroffen durch das Wesen des jungen Fremdlings. „Ist das nicht genug, um solch einen Hirsch niederzustrecken?“

„Einer wäre hinreichend,“ erwiderte der andere, an den Baum herantretend, hinter dem er hervorgekommen war. „Ihr erinnert Euch wohl, nach dieser Richtung geschossen zu haben,“ fuhr er fort; „hier stecken vier Eurer Rehposten in dem Stamme.“

Der Richter betrachtete die Schußlöcher in der Rinde, dann blickte er den Jüngling an.

„Das wäre nur ein Beweis, der gegen Euch spräche,“ lachte er heiter; „wo ist der fünfte?“

„Hier,“ antwortete der junge Mann, seinen Überrock öffnend und in dem Kleidungsstück darunter ein Loch zeigend, aus welchem dicke Blutstropfen hervorsickerten.

„Guter Gott!“ rief der Richter ganz entsetzt, „da mache ich so viel Aufhebens um ein bißchen Jägerehre, und unterdessen leidet ein Mitmensch durch meine Schuld, ohne zu klagen oder zu murren! Aber nun schnell, junger Freund, schnell hinein in den Schlitten! Bis zur Stadt sind's nur noch zehn Minuten Fahrt, dort soll Euch nicht nur ärztliche Hilfe werden, Ihr sollt auch in meinem Hause wohnen, bis Ihr ganz hergestellt seid – nein, so lange es Euch gefällt, und wär's bis an Euer Lebensende!“

„Für die gute Absicht sage ich Euch Dank,“ entgegnete der Verwundete, „ich muß Euer Anerbieten jedoch ausschlagen, da ein Freund, der mich erwartet, sonst in Unruhe und Sorge geraten würde. Ich glaube, jetzt werdet Ihr mir mein Recht an das Wildbret nicht mehr streitig machen wollen.“

„Nimmermehr!“ versetzte der Richter eifrig und erregt. „Im Gegenteil, von heute an sollt Ihr das Recht haben, in diesen meinen Waldungen alles zu schießen, wonach Euch der Sinn steht. Außer Euch ist Lederstrumpf der einzige, dem ich ein gleiches Recht bewilligte, und die Zeit mag kommen, wo dies Privilegium von hohem Wert sein wird. Euren Hirsch aber kaufe ich – hier, diese Banknote soll sowohl Euren wie auch meinen Schuß bezahlen.“

Inzwischen hatte der alte Jäger sich mehrfach geräuspert und dabei stramm aufgerichtet.

„Es leben noch Leute,“ begann er jetzt, „die da behaupten, Nathaniel Bumppos Recht, in diesen Waldungen zu jagen, sei älter, als Marmaduke Temples Recht, ihm dies zu verbieten. Wenn aber ein Gesetz darüber besteht – haha, wer hat jemals von einem Gesetz gehört, das einen Mann hindern soll, Wild zu schießen, wann und wo er will? – ich sage, wenn ein solches Gesetz besteht, dann sollte es darauf achten, daß keiner mit glattläufigen Büchsen schießt, denn da weiß niemand, wohin das Blei fliegen wird, wenn es aus dem Laufe ist.“

Ohne auf diese Rede Nattys zu achten, lehnte der junge Mann die ihm von dem Richter dargereichte Banknote ab.

„Entschuldigt mich, Herr,“ sagte er kalt. „Ich brauche das Wildbret.“

„Damit könnt Ihr Euch aber noch viel mehr Wildbret kaufen,“ drängte Temple, und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „So nehmt doch, es sind hundert Dollars!“

Einen Augenblick schien der Jüngling zu schwanken, dann aber errötete er über seine Schwäche, und noch einmal wies er mit stolzer Gebärde die Gabe zurück.

Während sich dies zutrug, hatte die junge Dame, der Kälte nicht achtend, die Pelzkapotte zurückgeworfen und sich im Schlitten erhoben.

„Junger Mann –,“ rief sie, dann aber, sich unwillkürlich verbessernd: „Mein Herr – soll mein Vater mit dem Bewußtsein nach Hause fahren, einen Mitmenschen, den seine eigene Hand verwundete, hilflos in dieser Wildnis zurückgelassen zu haben? Ich bitte Euch dringend und inständig, kommt mit uns, damit Euch ärztlicher Beistand zuteil werden kann!“

Der Verwundete schaute dem Mädchen in das schöne Antlitz; sein Entschluß, die Hilfe abzulehnen, wurde wankend, und als jetzt auch der Richter noch einmal seine Beredsamkeit aufwendete und dabei erwähnte, daß Natty jenen ihn erwartenden Freund ja über seinen Verbleib beruhigen könnte, da stieg er zögernd in den Schlitten. Agamemnon, der Neger, warf den erlegten Hirsch quer über das hinten aufgeschnallte Gepäck, während Marmaduke Temple den alten Jäger einlud, gleichfalls im Fuhrwerk Platz zu nehmen.

„Nein, nein,“ versetzte dieser, den Kopf schüttelnd, „ich habe an diesem Weihnachtsabend daheim im Wigwam noch Arbeit zu verrichten.“ Und sich an den jungen Mann wendend, fügte er hinzu: „Wenn du John Mohikan am See treffen solltest, dann nimm ihn mit dir, der versteht sich auf Wunden so gut wie ein Doktor.“

„Soll geschehen,“ antwortete der, „du aber, Natty, sagst daheim nichts von dem Schuß, auch nicht, wohin ich gegangen bin, darum bitte ich dich!“

„Vertraue dem alten Lederstrumpf,“ nickte dieser bedeutsam, „er hat vierzig Jahre in der Wildnis gelebt und von den Indianern gelernt, den Mund zu halten; sei also unbesorgt, mein Junge, und vergiß John Mohikan nicht; seine Kräuter sind besser, als alle die ausländischen Mixturen.“

Damit ging er, gefolgt von den Hunden, langen und eiligen Schrittes davon, ohne sich noch nach dem Richter und dessen Tochter umzusehen. Agamemnon schnalzte den Pferden und der Schlitten glitt von neuem über den Schnee des Fahrweges dahin. Jetzt begann der Richter, seinen neuen Bekannten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Derselbe war hoch und schlank gewachsen und mochte ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt sein. Er trug einen Überrock aus grobem Stoff, der, wie das Fellkleid des alten Jägers, durch einen wollenen Gurt zusammengehalten wurde. Sein Antlitz war auffallend wohlgebildet, gegenwärtig aber lag ein Zug von Groll auf demselben, den der Jüngling augenscheinlich zu verbannen bestrebt war, was ihm jedoch nur zum Teil gelang.

„Es will mich bedünken, mein junger Freund,“ nahm Marmaduke Temple endlich mit gewinnender Freundlichkeit das Wort, „daß mich der Schreck vorhin Euren Namen überhören ließ. Euer Gesicht erscheint mir keineswegs fremd, aber zu nennen wüßte ich Euch nicht und gälte es gleich zwanzig Hirschschwänze als Trophäen für meine Kappe.“

„Ich bin erst seit drei Wochen in dieser Gegend,“ antwortete der Jüngling zurückhaltend, „länger als diese Zeit aber waret Ihr von hier abwesend.“

„Ganz recht, morgen werden's fünf Wochen, seit ich abreiste, um meine Tochter aus der Pension heimzuholen; dennoch habe ich ein Gesicht wie das Eure schon einmal gesehen. Aber mich schaudert's, wenn ich daran denke, daß ich bei einem Haar an Euch zum Totschläger geworden wäre!“

„Wir haben also doppelte Veranlassung, lieber Vater,“ bemerkte Miß Elizabeth, die Tochter, „am Weihnachtsfeste morgen dem guten Gott recht von Herzen Dank zu bringen.“

„Das haben wir, Kind, das haben wir,“ bekräftigte der Richter mit Wärme, und dann versank er in tiefes Nachdenken, aus dem er sich erst wieder emporraffte, als die Pferde, die Nähe des heimatlichen Stalles witternd, schneller ausgriffen.

Die Straße führte jetzt im Bogen von der Höhe ins Tal hinunter.

„Schau, Bessy,“ rief Marmaduke Temple, auf die zerstreut im schneebedeckten Grunde liegenden Häuser und Hütten der Ansiedlung deutend, deren Schloten vielfältige Rauchsäulen entstiegen, „schau, Bessy, dort ist deine Heimat fürs Leben! Und auch die Eure, junger Freund, wenn es Euch gefällt, bei uns zu wohnen.“

Bei diesen Worten des warmherzigen Mannes blickten die jungen Leute einander unwillkürlich an; Bessy errötete; um des Fremdlings Lippen aber zuckte ein bitteres Lächeln.

Von Waldbergen umrahmt breitete sich eine weite Talebene zu den Füßen der Reisenden aus; nur ein geringer Teil derselben nahm die Ansiedlung oder die „Stadt“ Templeton ein, alles übrige war eine weiße, glatte Fläche, die überschneite Eisdecke des Otsego–Sees. Am südlichen Ende desselben, der Landstraße zunächst liegend, war das Wasser noch offen; dunkel und dampfend lag es da, und ein schmaler, schnell strömender Abfluß zog sich von hier aus wie ein schwarzes Band durch die Schneefläche, in einer entfernten Waldschlucht verschwindend.

Die Stadt Templeton bestand aus etwa fünfzig Gebäuden von verschiedenster Größe, zumeist aus Holz aufgeführt, teils weiß, teils braunrot angestrichen und hier und da mit grünen Fensterläden versehen. Man hatte sich augenscheinlich bemüht, einige Straßenrichtungen inne zu halten, dabei aber noch nicht Zeit gefunden, die verkohlten Baumstümpfe, die allenthalben umherstanden, Überbleibsel des ehemals hier befindlichen Waldes, zu beseitigen.

Der Schlitten lenkte jetzt in die Stadt ein und hielt wenige Minuten später vor dem von hölzernen Säulen getragenen Portikus eines stattlichen Gebäudes, der Residenz des Begründers dieser Stadt, des Eigentümers des gesamten Grund und Bodens auf viele, viele Meilen in der Runde, des Richters Marmaduke Temple.

Die große Tür öffnete sich und die Dienerschaft – einige weibliche Personen und ein Mann – trat heraus, den Hausherrn und seine Begleiter zu empfangen. Der Mann war eine in die Augen fallende Persönlichkeit, nicht groß, höchstens fünf Fuß hoch, dafür aber von mächtiger Schulterbreite; sein übermäßig großer Kopf wies vorn ein rotes Gesicht mit Stumpfnase, weitem Munde, weißen Zähnen und graublauen Augen, hinten aber einen kurzen, dicken Zopf. Er trug einen hellen, langschößigen Rock mit talergroßen Knöpfen, auf denen ein Anker sichtbar war; Weste und Kniehose waren von rotem Plüsch, der Rest seines Körpers steckte in blau und weiß gestreiften Strümpfen und Schnallenschuhen.

Der Name dieses Mannes war Benjamin Penguillan; er war früher einmal eine kurze Zeit zur See gefahren, und zwar als Kajütswächter und Koch, und wenn er auch aus den englischen Gewässern dabei nicht herausgekommen war, so bildete er sich doch ein, die ganze Welt mit allen Ozeanen kennengelernt zu haben und wurde nicht müde, die unglaublichsten und haarsträubendsten Seeabenteuer zu erzählen, die er alle selber erlebt haben wollte. Einst hatte er angeblich ganz allein durch tagelanges Pumpen sein Schiff vor dem Untergange bewahrt, und aus diesem Grunde nannten ihn seine Bekannten mit Vorliebe Ben Pump. In späteren Jahren nach Amerika ausgewandert, hatte er das Glück gehabt, in Richter Temples Haus eine Anstellung als Hausmeister und Küchenverwalter zu finden und sich als solcher die Zufriedenheit seines Herrn zu erwerben.

An Benjamins Seite war eine magere, ältliche Frauensperson erschienen, lang, zahnlos, spitznasig und in grellfarbigen Kattun gekleidet. Sie war eine alte Jungfer, bekleidete den Posten einer Haushälterin und nannte sich Remarkable Pettibone. Zugleich mit der Dienerschaft drängte sich eine Anzahl Hunde mit fröhlichem Gebell herzu, gefolgt von einem großen Mastiff, der im Gefühl seiner Würde keinen Laut von sich gab und nur gemessen mit dem Schweife wedelte. Der Richter streichelte liebkosend den Kopf des gewaltigen Tieres, das sich dann freudig an Elizabeth herandrängte, die es schmeichelnd ihren guten, alten Bravo nannte.

Eine wohltuende Wärme strömte den durchfrorenen Reisenden aus dem hell erleuchteten Hausflur entgegen – die Sonne war inzwischen untergegangen – und nachdem der Richter und seine Tochter sich mit Hilfe der Dienerschaft der Pelzhüllen entledigt hatten, betraten sie das große Wohngemach, in welchem einige Freunde des Hauses sich zum Willkomm eingefunden hatten. Da war in einem Rock von Schokoladenfarbe der Großkaufmann der Ansiedlung, ein Franzose mit Namen Le Quoi; ferner der Major Fritz Hartmann, ein deutscher Herr, ein Siebziger, aber noch voll von Kraft und jugendlichem Feuer; er trug einen himmelblauen Rock mit blanken Knöpfen, einen Haarbeutel und hohe Stiefel. Der dritte war Richard Jones, den der Richter dem alten Jäger Natty gegenüber einen komischen Kauz genannt, ein kleines, bewegliches Männchen in grünem Frack, roter Weste und Stiefeln mit gelben Stulpen; er war ein naher Verwandter des Richters und ein Mitbewohner des Hauses. Als Vierter hatte sich der Geistliche des Ortes, Mr. Grant, eingefunden, ein langer Herr in Schwarz, mit mildem, bleichem Antlitz und freundlich blickenden Augen.

Es währte eine geraume Zeit, ehe die Begrüßung mit Fragen und Gegenfragen, Beglückwünschungen, Erzählungen und Berichten vorüber war und einer ruhigen Stimmung Platz gemacht hatte. Währenddessen stand der junge Jäger unbeachtet und wie vergessen abseits in einer Ecke. Von seinem jetzt unbedeckten Haupte wallten ihm krause, dunkle Locken anmutig um das edle Antlitz und ein Hauch von Vornehmheit lag über seiner Gestalt; wohl war er nur ärmlich gekleidet, aber ein genauer Beobachter hätte bald erkannt, daß er den ihn in diesem Raume umgebenden Glanz und Reichtum als etwas altgewohntes betrachtete. Er stand auf seine Büchse gestützt, unweit des Pianos. Seine Blicke schweiften finster über die Gesellschaft, und ab und zu zuckte ein verhaltener Schmerz um seine Lippen.

„Aber Vater,“ rief jetzt Elizabeth, „wir vergessen ganz den fremden Gentleman, den wir doch mitbrachten, um ihm Hilfe zu leisten!“

Aller Augen wendeten sich der Richtung zu, die des Mädchens Blicke angaben.

„Meine Wunde ist nicht der Rede wert,“ versetzte der junge Mann, „auch hat der Richter, wie ich glaube, bereits zum Arzt gesandt.“

„So ist es,“ sagte Temple; „ich habe keineswegs vergessen, was ich Euch schuldig bin.“

„O,“ rief Richard Jones lebhaft, „du schuldest dem jungen Mensch ja wohl den Preis für den Hirsch, den du geschossen hast, nicht wahr, Vetter Marmaduke? Das ist eine merkwürdige Jagdgeschichte, die du uns soeben hier erzähltest! Hier, mein Jungchen, habt Ihr zwei Dollars für das Wildbret, den Doktor bezahlt der Richter noch obendrein. Gräme dich nicht, Marmaduke, wenn du auch den Hirschbock fehltest, so ist dir's doch gelungen, durch einen Fichtenstamm hindurch diesen armen Kerl zu treffen, ein Kunststück, das sogar ich, Dick Jones, noch nicht fertiggebracht habe!“

„Freue dich dessen,“ antwortete der Richter ernst, „denn die Reue und Unruhe, die ich seither empfunden, sind gar bitter.“

Der junge Jäger hatte das ihm von Jones dargereichte Geld verächtlich zurückgewiesen, die unwilligen Worte aber, die ihm dabei über die Lippen wollten, blieben ungesprochen, da in diesem Augenblick der Heilkünstler der Ansiedlung hereintrat. Derselbe, ein großer, hagerer, ungeschickt ausehender Mann, nannte sich Doktor Todd, obgleich er eigentlich nichts anderes war als ein Barbier; da er jedoch das Glück gehabt hatte, einige Ansiedler von Krankheiten zu kurieren, die auch ohne sein Zutun gewichen wären, so genoß er in Templeton eines gewissen Ansehens.

Der Richter ging ihm entgegen. „Wir haben hier einen jungen Mann,“ sagte er, „dem ich vorhin, als ich auf einen Hirsch feuerte, einen Rehposten in die Schulter schoß; dem sollt Ihr beistehen. Remarkable,“ – hier wendete er sich an die Haushälterin – „seid so gut und schafft Verbandzeug herbei.“

Doktor Todd trat an den jungen Jäger heran, der eine Bewegung machte, den Rock abzuziehen; er unterließ dies jedoch, um in der Gegenwart Elizabeth Temples, die ihn aus einiger Entfernung voll Teilname beobachtete, keine Unschicklichkeit zu begehen.

„Es wäre besser,“ sagte er, „wenn wir uns in ein anderes Zimmer begäben, um Miß Temple einen unangenehmen Anblick zu ersparen.“

„Ich schlage vor, hier zu bleiben,“ entgegnete der Doktor, eine große Brille auf die Nase setzend, und zwar so, daß er ungehindert darüber hinwegsehen konnte. „Wir Männer der Wissenschaft und des angestrengten Studiums haben nicht die schärfsten Augen, und da ist mir dieses helle Kerzenlicht sehr willkommen.“

Elizabeth aber hatte des jungen Mannes Worte vernommen und verließ schnellen Schrittes das Gemach.

Jetzt entblößte der Verwundete seine Schulter und der Doktor betrachtete die kleine Schußwunde, während die übrigen Herren neugierig herzutraten. Die Kälte des Abends hatte die Blutung gestillt. Der Heilkünstler schickte sich an, eine Sonde in die Wundöffnung einzuführen, der Jäger aber hinderte ihn daran.

„Das ist unnötig,“ sagte er. „Die Kugel ist von jener Seite zu dieser durchgedrungen und sitzt hier dicht unter der Haut; ein kleiner Einschnitt genügt, sie herauszubringen.“

„So ist's richtig,“ nahm Ben Pump das Wort, der mit den andern dem Vorgang zuschaute. „Der Jäger versteht's. Manche Kugel habe ich in meinem Leben herausschneiden sehen, Vollkugeln und Hohlkugeln, Kettenkugeln und Kartätschen. Einmal war ich dabei, wie man dem Kapitän eines Linienschiffes eine zwölfpfündige Kugel aus dem Schenkel nahm; das war ein Stück Arbeit wie ich sobald keins gesehen.“

„Eine zwölfpfündige Kugel und aus dem Schenkel eines Menschen!“ rief Mr. Grant, der Pastor, in großem Erstaunen. „Ist es die Möglichkeit!“

„Freilich, eine zwölfpfündige Kugel,“ wiederholte Benjamin kaltblütig. „Eine vierundzwanzigpfündige sogar kann einem Menschen aus dem Leibe genommen werden, wenn der Doktor nur weiß, wie er's anzufangen hat. Da steht der Squire Jones, fragt den, der muß es wissen, denn der liest alle Bücher, in denen solche Geschichten geschrieben sind.“

„Ganz gewiß,“ versicherte dieser bereitwilligst. „In der Enzyklopädie stehen noch viel unglaublichere Operationen verzeichnet, wie auch dem Doktor Todd bekannt sein muß.“

„Allerdings,“ bestätigte der Heilkünstler, „man hört von ganz fabelhaften Kurerfolgen; ich persönlich habe jedoch höchstens einmal eine Flintenkugel entfernt.“

Damit machte er den Einschnitt in die Haut und die kleine Kugel fiel heraus.

„Echt schiffsmäßig,“ nickte Benjamin beifällig. „Nun noch ein tüchtiger Pflock in jedes Loch und der junge Mann ist wieder so seetüchtig wie zuvor.“

Der Doktor schickte sich nunmehr an, die Wunden zu verbinden. Der Jäger aber trat einen Schritt zurück.

„Seid bedankt,“ sagte er, „ich will Euch nicht weiter bemühen, denn hier kommt ein Mann, der mich fortan unter seine Obhut nehmen wird.“

Alle wendeten ihre Blicke der Tür zu. Auf der Schwelle stand die hohe Gestalt eines alten Indianers.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lederstrumpf oder Die Ansiedler am Otsego-See