Vorrede

Andreas Musculus war kein Reformator ersten Ranges, überhaupt kein kirchlicher Heros von großer Begabung, hoher Gesinnung, von tiefen Gemüt und freiem Geiste, aber ein Mann von sittlichen: Ernst, von Kraft des Willens und der Rede, von umfassender Gelehrtheit und dabei von brennendem Eifer für lutherische Orthodoxie. Auf die Bildung des religiösen und kirchlichen Lebens in der Mark Brandenburg hat er einen wichtigen Einfluss gehabt. Er war der Günstling der beiden Churfürsten Joachims II. und Johann Georgs, die Theologen zu sein vermeinten. Musculus galt ihnen für eine mächtige Stütze des ächten Luthertums, für einen Verfechter und Vorkämpfer der orthodoxen Kirche und deshalb hatten sie Nachsicht mit seiner Streitsucht und Rechthaberei, mit seinen Gewaltstreichen und Verfolgungssucht, mit seinem zornmütigem, unverträglichem Charakter. Man konnte von ihm sagen, was der Biograph von dem hessischen Theologen Johannes Crocius [1590-1659] sagt: „Er hatte solche heroische Mienen und Gebärden an sich, als wohl immer ein fürnehmer Kriegsgeneral an sich haben muss.“ Aber die ex forti dulcedo fehlte ihm gänzlich.

Musculus lebte in der Zeit des Kampfes, wo im sozialem Leben der Staat über die Kirche, die weltliche Macht über die geistliche, der Patron über den Klerus die Herrschaft zu erlangen suchte. Die Kirche wurde ihrer Güter beraubt und konnte ihre Existenz nur durch die Reinheit der Lehre, durch die Kraft des Glaubens, durch die Einigkeit im Geiste retten. Aber leider hatte in der Kirche der tote Buchstabe über den Geist eine entschiedene Herrschaft gewonnen und das Dogma sich in einer gemütlosen Begriffstheologie versteift. Es war eine Übergangsperiode, und alle Übergänge sind Krisen, die ohne krankhafte Erscheinungen nicht vorübergehen. Die Hauptlehre der evangelischen Kirche, ihr Grund- und Eckstein: „Vergebung der Sünden, Erlösung und Seligkeit allein durch die Gnade Gottes in Christo Jesu“ fing an, der Sittlichkeit Gefahr zu bringen. Das erregte die gewaltigen Kämpfe, die dem sanft- und liebereichen Melanchthon, dem treuen Streiter für evangelisches Licht und Recht, so viel Verdruss und Kummer bereitete. Doch ließ sich durch den Hass und die Wut der Kämpfenden die Seele des deutschen Lebens, des Herren Wort und Gnade, des christlichen Glaubens Macht und Herrlichkeit nicht vertilgen. Wir sehen auch in jenen unerquicklichen Zeiten schöne Blüten und Früchte, wie aus dem Felde des Glaubens und der Liebe, so auf dem Gebiete liturgischer und hymnologischer Andacht reifen.


Die beiden genannten Fürsten wollten eine Staatskirche bilden, in welcher der Glaube des Regenten der gebietende Glaube im Lande, jede Abweichung von den Satzungen der Staatskirche verpönt sein und eine Uniformität in allen kirchlichen Verrichtungen erstrebt werden sollte. Dazu boten Musculus, sein Bruder Paul und Cölestin willig die Hand. Es wurde nicht ein Christentum, sondern ein Luthertum gepredigt und gelehrt, und zwar in der krassesten Weise mit Verdammung und Verketzerung aller Andersdenkenden. Jene Männer beklagen sich oft, dass es ihnen nicht gelingen wolle, alle Geister in diese Form hineinzupressen. Und das wird keiner Zeit und keiner Macht gelingen. Mag auch das Reich Gottes Gewalt leiden, die gewaltigen Geister reißen es doch an sich. Die Vergangenheit ist die Lehrerin der Gegenwart und Zukunft. Die Geschichte spricht ernster und eindringlicher als Mandate und Reskripte; Tatsachen stoßen alle Theoreme und Entwürfe der Politik um; der Geist duldet keinen Absolutismus. Möchte dies jetzt von allen Machthabern in der Kirche bei den gewaltigen Kämpfen im Innern derselben beherzigt werden. Möchte die Freiheit des Geistes nicht in Willkür, und gesetzliche Ordnung nicht in Machtgebote umschlagen. Möchte es unter uns mit den alten und neuen Parteinamen zu Ende gehen und alle Christen sich vereinen in dem seligmachenden Glauben an den Eingebornen voller Gnade und Wahrheit, ohne Dem doch kein Heil zu erlangen ist, so dass es im Reiche Gottes heiße: „Jesus Christus gestern und heut und derselbe auch in Ewigkeit.“

Musculus Schriften sind fast aus allen Bibliotheken verschwunden. Seit länger als dreißig Jahren habe ich sie zum Gegenstand meiner Nachforschungen gemacht und es ist mir gelungen, in den Besitz fast aller derselben zu gelangen. Die mir fehlenden habe ich aus der Königl. Bibliothek zu Berlin, aus der Universitär-Bibliothek zu Breslau und aus der hiesigen Ministerial-Kirchenbibliothek erhalten. Für die Liberalität, mit der mir ihr Gebrauch gestattet worden, sage ich den herzlichsten Dank. Das reichste Material zu dem Werke aber gewährten mir das Königl. Geh. Staats - und Kabinettsarchiv, die hiesige rathäusliche Registratur, das Pfarrarchiv und die handschriftlichen Jahrbücher der Stadt Frankfurt, die der fleißige Heinsius, ein treuer Nachfolger unseres Musculus, hinterlassen hat. In Berlin hatte ich mich besonders der gefälligen Beihilfe des Herrn Geh. Archivrats Dr. Friedländer zu erfreuen, dem ich hiermit öffentlich meinen wärmsten Dank bezeuge.

Wegen des literarischen Ballastes, den ich in den Anmerkungen aufgespeichert habe, bitte ich den geehrten Leser um Entschuldigung. Es ist eine solche Beichaise bei einem neuentstandenem Werke unentbehrlich, um Rechenschaft von den Quellen und Hilfsmitteln und deren Benutzung zu geben. Sodann habe ich in den Anmerkungen manches weiter ausgeführt, was im Texte nur angedeutet werden konnte. Auch wollte ich manche Züge aus der Sittengeschichte jener Zeit und manche interessante historische Dokumente nicht verloren gehen lassen, um so weniger, als ich aus buchhändlerischen Gründen keine Aussicht habe, meine Kirchen- und Reformationsgeschichte der Mark Brandenburg fortsetzen zu können. Das Königl. geheime Staatsarchiv besitzt dazu ein reiches, noch wenig benutztes Material. Wenn ich nun in der Biographie, besonders in dem Streit mit Abdias Prätorius und mit dem Magistrat manche kleinlich scheinende Einzelheiten angeführt habe, so meine ich, dass in der Geschichte nichts zu klein und gering ist, um unbeachtet zu bleiben, denn nur wenn alles Einzelne richtig ist, kann auch das Ganze gut und probehaltig sein. Oft wirft ein einziger Pinselstrich das gehörige Licht in das Gemälde. Musculus Schriften sind Denkmäler seiner Zeit, ihres Geschmacks und ihrer Sitten und charakterisieren auf eine sprechende Weise die kirchlichen und theologischen Bestrebungen jener Zeit. Bezeichnende Auszüge aus denselben durften deshalb nicht fehlen. Des Gelehrten Wert und Eigentümlichkeit bekunden feine Schriften. Wenn ich bei den Auszügen aus denselben nicht nur in den Anmerkungen, sondern auch im Texte, etliche Stellen in der eigentümlichen Schreibart des Verfassers buchstäblich angeführt habe, so geschah es in der Absicht, auch in diesen kleinen Zügen die Originalität des Mannes zu bezeichnen. Auch die Art der Rechtschreibung und die Handschrift sind bezeichnend, weshalb ich dem Buche ein Autographon beigefügt habe. Wenn auch dem Leser nicht zugemutet werden kann, die Mühe der Erforschung mit durchzumachen, so erscheint es doch wünschenswert, ihm die unmittelbare Einsicht in die Akten zu gewähren und das Material an die Hand zu geben, wonach er sein Urteil bilden kann.

Ich habe die Biographie einen Beitrag zur Sittengeschichte der Zeit genannt, in welcher Musculus lebte und wirkte, denn die Geschichte einer Zeit spiegelt sich stets am treuesten ab in den Schilderungen des Einzellebens von Männern, die in denselben eine bedeutende Stellung eingenommen und auf ihre Gestaltung mehr oder weniger Einfluss hatten. Solche Lebensbilder werden für den Historiker immer eine interessante und wichtige Quelle der Geschichte ihrer Zeit sein. Darum können wir solcher Biographien nicht genug haben und auch die nachfolgende wird bei allen ihren Mängeln nicht wertlos sein, wenn sie einiges Licht verbreitet über die Umgestaltung des kirchlichen Lebens in der Mark Brandenburg, über die dogmatischen Kämpfe in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts und über die Übergriffe der weltlichen Macht hinsichtlich der Güter und Diener der Kirche, über den religiösen Charakter und den kirchlichen Sinn der beiden Churfürsten Joachims II. und Johann Georgs und über die wichtigsten Werke, die zur Regelung des christlichen Lebens und der kirchlichen Ordnung von ihnen ausgegangen sind. Wenn dann auch Musculus nur ein untergeordnetes Werkzeug zur Ausbildung der Reformation in der Mark war und weder durch wissenschaftliche Begabung, noch durch geistige Originalität sich auszeichnete, so ist er doch immer eine interessante Erscheinung von bedeutendem Einfluss und verdient in der literarischen Welt bekannter zu werden, als er es bisher war. Was wir bisher von ihm wussten, verdanken wir dem kurzen Lebensabriss in Becmanni Not. lit. Univ. Francof. p. 88—92. Der Pastor Schilling (vita Andr. Musculi Annabergae 1780 17 Seiten 4.) gibt nur wieder, was er bei Becmann gefunden mit eingemischten Lobeserhebungen. Der Biograph ist ein Landsmann von Musculus. In der Seidelschen Bildersammlung findet man nur noch eine vollständigere Angabe der Schriften des Musculus. Sein Bildnis ist aus Becmann genommen, der es nach dem in der Oberkirche aufgestellt gewesenem Bilde hat zeichnen lassen.

Frankfurt a. d. O., im Dezember 1857.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lebensgeschichte des Andreas Musculus (1514-1581)
Musculus, Andreas (1514-1581) evangelischer Theologe und Reformator

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Spieker, Christian Wilhelm (1780-1858) Prof. d. Theologie, Schriftsteller, Oberpfarrer

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Melanchthon, Philipp (1497-1560) Philologe, Philosoph, Humanist, Theologe

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Martin Luther als Mönch. Holzschnitt von Lukas Cranach

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