Erstes Kapitel

Wer die Revolution nicht will, der fördere die Reformation mit aller Kraft des Geistes und aller Wärme des Herzens. Die Reformation wirkt nicht verneinend und vernichtend, sondern begründend und belebend, verjüngend und erhebend; denn sie ist nicht Sache individueller Ansichten und individuellen Strebens, sondern ein Produkt des allgemeinen Glaubens und der Allmacht einer tiefinnersten Überzeugung.
          Freiherr Conrad v. Biedenfeld.

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Andreas Musculus ist im Jahre 1514 zu Schneeberg in Sachsen geboren. Sein Vater, Johannes Meusel, ein angesehener, ehrenwerter Bürger, wird im Jahre 1526 unter dem Namen Hanß Meußel als Gerichts- und Ratsherr aufgeführt. 1) Er scheint zu den Männern gehört zu haben, die sich vor der Reformation nach einem besseren Zustande in der Kirche sehnten und, unzufrieden mit den heillosen Missbräuchen in derselben, mit den unaufhörlichen Gelderpressungen des höheren Klerus und mit dem sittenlosen Leben der Geistlichen, das Heil ihrer Seele anderswo suchten als in einer tobten Werkheiligkeit und in den unheiligen Satzungen der entarteten Kirche. Was Mykonius von seinem Vater rühmt 2) das erzählt Musculus auch von dem seinigen, nämlich, dass er von ihm auf das Blut Christi, als das Lösegeld für die Sünden der Welt, hingewiesen und angehalten sei, das Vaterunser, die zehn Gebote und das apostolische Glaubensbekenntnis; auswendig zu lernen. Der Vater war ein harter und strenger Mann 4) und hielt seine Kinder in guter Zucht. Das mag auf den Charakter des Andreas, bei dessen Geburt überdem die Grazien ausgeblieben waren, nachteilig eingewirkt haben, denn auch er ward ein störriger, rauer Mann. Von seiner Mutter wissen wir nichts; er erwähnt ihrer in keinem seiner Schriften und Briefe.

Da der Vater, bei seinem Andreas sehr gute Anlagen und große Lernbegierde entdeckte, so brachte er ihn in seinem vierzehnten Jahre auf die höhere Lehranstalt seiner Vaterstadt. Nach der berühmten Teilung des sächsischen Hauses 1485 in die ernestinische und albertinische Linie, blieb Mehreres gemeinschaftlich, um die Idee der brüderlichen Eintracht und der Zusammengehörigkeit der schönen Länder festzuhalten. So blieb auch die Stadt Schneeberg, ihres unschätzbaren Bergwerks halber, in gemeiner Regierung und der Fürsten Nachkommen in der ernestinisch und albertinischen Linie zu gleichem Anteil und Nutzen 4). Die Stadt erhielt besondere Rechte und Freiheiten und damit ein gutes Einkommen. Dies wandte sie verständigerweise auf die Verbesserung des Schulwesens, besonders der lateinischen Schule. Sie berief den berühmten Gelehrten Hieronymus Weller, der zwei Jahre lang in Zwickau der griechischen Schule vorgestanden und in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert war, zum Rektor des Gymnasiums 5). Dieser fand an dem jungen Meusel wegen seines regen Fleißes und wegen seines Eifers für die alten Sprachen ein großes Wohlgefallen und leitete seine Studien mit einer besonderen Sorgfalt. Der begabte Jüngling machte so rasche Fortschritte in den Sprachen und Wissenschaften, dass er bereits 1532 die Universität Leipzig beziehen konnte.

Hieronimus Weller gehörte unstreitig zu den gelehrtesten Männern seiner Zeit, war aber ein großer Hypochonder und glaubte sich fortwährend vom Teufel geplagt und angefochten. Die Versessenen sind oft auch die Besessenen, und da Weller mit dem Teufel nicht so herz- und scherzhaft umzugehen wusste als Luther, so mochte er dem verzagten Mann oft hart genug zusetzen. Auf seiner Grabschrift wird auch gesagt: Wellerus Satanae saepius astu. Musculus, der seinen gelehrten Rektor hoch verehrte, ist gewiss auch von ihm in die diabolische Welt, von der er in seinen Predigten und Schriften so viel zu erzählen weiß, eingeführt worden.

Leipzig stand damals hinsichts der Gelehrtheit in schlechtem Ruf. Das alte scholastische Wesen, das düstre Mönchtum und des Herzogs Georg bittrer Hass gegen die Reformation hatten das geistige frische Leben, das überall in Deutschland sich regte, besonders in den sächsischen Landen, zurückgedrängt. In den Briefen der Dunkelmänner spielt Leipzig eine Hauptrolle. Das wüste Leben der Mönche, der Konkubinat der Geistlichen, die wilden Schmausereien und Trinkgelage der Studenten werden mit ergötzlicher Ironie gegeißelt. Es fehlte der Universität an berühmten Namen und ihre Frequenz nahm mit jedem Jahre ab. Leipzig hatte früher über zweitausend Studenten, jetzt kaum dreihundert. Das träge und welke Alter wollte das jugendlich frische Leben, das den neuen Tag verkündete, zurücktreiben in die alte Finsternis: aber die helle lichte Sonne wandelt doch ihre ewige Bahn, wenn man auch die Augen gegen den Glanz ihrer Herrlichkeit verschließt. Der Geist lässt sich durch Grenzsperren und Schlagbäume nicht zurückweisen. So hatte denn auch in Leipzig, das jetzt der Stapelort der Gelehrsamkeit ist und damals als ein barbarisches Stück Land verschrieen wurde (Lips barbara tellus), die Sonne, die über Deutschland aufgegangen war, ihre erleuchtende Strahlen geworfen. Luthers berühmte Leipziger Disputation, die der guten Sache einen so glänzenden Sieg verschaffte, hatte Viele zum Nachdenken gebracht und zwei Männer von großem Rufe, Richard Crocus und Mosellanus, die eine Zeit lang hier gelebt und gewirkt, hatten manches Samenkorn für künftige Ernten ausgestreut. Sie mussten freilich den Finsterlingen bald den Platz räumen. Crocus suchte für seine Wirksamkeit einen steteren Spielraum beim König Heinrich VIII. von England und Mosellanus — stieg am 17. Februar 1524, erst 31 Jahre alt, in die dunkle Gruft des Todes. Aber er lebte in seinen Schülern fort, zu welchem Johann Cellarius, Johann Apellus, Peler Suavenius, Christoph v. Carlowitz, Johann Forster, Georg Römer, Johann Musler, Erasmus Stella, Otto v. Pack, Johann Spiegel, Julius v. Pflug gehörten.

Als Andreas Musculus die Universität Leipzig bezog, waren dort die Zerwürfnisse zwischen den katholisch und evangelisch Gesinnten immer größer und bedenklicher geworden. Das Lesen lutherischer Schriften, das Auswandern zu evangelischen Gemeinden und Predigten, der Genuss des heiligen Abendmahls in beider Gestalt, heimliche Andachtsübungen und Besprechungen waren nicht zu verhindern. Wie der erbitterte Herzog Georg auch wütete, einkerkerte, Güter konfiszierte, Landes verwies und mit dem Leben strafte: die evangelische Lehre breitete sich unter Studenten und Bürgern immer weiter aus. Musculus war Zeuge, wie bei dem Begräbnis des Dr. Augustin Specht im März 1533, der sich beharrlich geweigert hatte, die letzte Ölung zu nehmen, die halbe Stadt ihn zu Grabe geleitete, und wie darauf von dem Rate inquiriert und eine große Zahl von Männern und Frauen aus der lieben Heimat vertrieben wurde. 7) Musculus blieb anfangs fest bei der alten Kirche und glaubte, den Vertriebenen geschehe wegen ihrer Auflehnung gegen die Satzungen und Lehren der Kirche ganz recht. Als er jedoch Luthers Trostbrief gelesen, gute Freunde ihm auch andere Schriften der Reformatoren zusteckten, ward er nachdenkend und fein strenger sittlicher Ernst nahm Anstoß an dem ärgerlichen Leben der Geistlichen. Indes studierte er mit rastlosem Fleiße scholastische Philosophie und neben den alten Sprachen das Hebräische.

Als Musculus nach einem dreijährigen Aufenthalt in Leipzig nach Schneeberg zurückkehrte, fand er hier alles in kirchlicher Hinsicht umgewandelt. Wie überall in Sachsen, hatte sich das Bedürfnis des Glaubens auch unter den Einwohnern Schneebergs geregt und Viele hatten sich dem Lichte des Evangeliums zugewendet. Der Rat der Stadt hielt aber, so viel er vermochte, das öffentliche Bekenntnis des evangelischen Glaubens zurück, um nicht den Zorn des Herzogs Georg zu reizen. Dieser der römischen Kirche eifrig ergebene Fürst hatte als Mitregent der Stadt sich allezeit gnädig erwiesen, ihr viele Privilegien erteilt und bei aller Gelegenheit ermahnet, der Lehre und dem Gottesdienste der römischen Kirche treu zu bleiben. Als aber in dem Grimmaischen Vertrag der sächsischen Fürsten vom 18. November 1533 der Herzog Georg seinen Anteil „an dem Schneeberg“ mit allen Gerechtigkeiten an den Churfürst Johann Friedrich abgetreten hatte, wurde die Reformation der Kirche in der schönen Bergstadt zur allgemeinen Freude eingeführt. Eine Churfürstliche Kommission, in welcher sich auch Spalatin, Erasmus Spiegel und Johann Reimann, Pfarrer zu Weida, befanden, ordnete unter dem Vorsitz des Hauptmanns Christoph v. Planitz den evangelischen Gottesdienst, enturlaubte den alten päpstlichen Pfarrer Wolfgang Krauß mit einer Pension von zwanzig Gulden und setzte den Pfarrer Wolfgang Zeuner aus Zwickau als evangelischen Geistlichen feierlich ein 8).

Musculus kam nach seiner Vaterstadt mit ganz anderen Gedanken und Religionsbegriffen zurück als er sie verlassen hatte, und da er das neuerwachte kirchliche Leben in seiner frischen Blüte sah und in fortgesetzten Unterredungen mit M. Zeuner den rechten Grund des evangelischen Glaubens kennen lernte, bekannte er sich zu demselben mit ganzem Herzen. Sein Vater starb in diesem Glauben mit voller Zuversicht seiner künftigen Seligkeit und ermunterte den Sohn, seine Zuflucht in aller Trübsal allein zu Christus zu nehmen. Der im Glauben immer mehr befestigte junge Theologe nahm, da ihm der Vater kein Vermögen hinterlassen hatte, einen ihm gewordenen Antrag an, eine Anzahl junger Leute adligen Standes zu Amberg in der lateinischen Sprache und in den Wissenschaften zu unterrichten. Das tat er auch mit gesegnetem Erfolg; aber sein Herz und seine Begierde nach dem lauteren göttlichen Worte der Wahrheit zog ihn nach der Lutherstadt, um das evangelische Licht und Recht aus der Quelle zu schöpfen. Diese alte Glaubensstadt glich zur Zeit der Reformation einem Walde hochstämmiger Eichen und Buchen. Saft und Kraft strömte in alle Zweige und förderte ein gesundes, regsames Leben. Alles, was sich sehnte nach der Wiedergeburt im Geiste, eilte nach der Pflanzstätte der evangelischen Wahrheit und alle Zeugen dieser Wahrheit sammelten sich um den Mann der Kraft und des Glaubens, der mitten im heißesten Kampfe frei und stark dastand und schöpferisch wirkte für eine bessere Zukunft. Ihm zur Seite der sanftmütige, gelehrte und liebenswürdige, wahrhaft fromme Melanchthon, ein mächtiges Rüstzeug für evangelische Wahrheit und Tugend. „Hatte Luther praktische, so hatte Melanchthon wissenschaftliche Entschlossenheit“ 9). Und wie viele treue, fleißige und rüstige Gehilfen waren mit ihnen zum Bau des Reiches Gottes in ein Bündnis getreten!

In der Pfarrkirche zu Wittenberg befindet sich ein Gemälde von dem jüngeren Lucas Kranach, den Weinberg des Herrn darstellend. Der Weinberg ist durch einen festen Zaun abgeschlossen. An der Pforte desselben steht Christus mit Paulus und Johannes und lohnt den Papst, als einen ungetreuen Gärtner, mit feinem stattlichen Gefolge von Bischöfen, Prälaten, Äbten, Mönchen und Nonnen ab, um den Weinberg andern Weingärtnern auszutun, die ihm die Früchte zur rechten Zeit geben 10). Weiter hinauf in dem Berge selbst sehen wir auf der einen Seite den Unfug der so eben abgesetzten Arbeiter, auf der andern den Fleiß der neuen Gehilfen. Was nur Wüstliches und Verderbliches in einem Garten angerichtet werden kann, wird von dem Papst und seinem Klerus verübt. Der Brunnen, der ein unerschöpflicher Lebensquell für die Pflanzung war, wird mutwillig und absichtlich mit Steinen verschüttet, die Weinstöcke werden ausgerodet, das Gärtnergerät verbrannt. Mönche und Nonnen treiben gleichen Unfug, raufen und prügeln sich, trinken lustig aus vollen Bechern oder liegen im tiefen Schlaf. Der Papst selbst schlägt mit seinem Hirtenstabe die Trauben und jungen Triebe von den Weinstöcken ab, so dass der Garten zur völligen Wüste wird. — Dagegen gewährt die andere Hälfte des Weinbergs einen sehr erfreulichen Anblick. Alles grünet, blühet und trägt herrliche Früchte unter der Arbeit und Pflege treuer Knechte. Voran steht Luther, den Rechen in der Hand, um den Boden zu ebnen und zuzurichten, damit die Andern darauf pflanzen und alles wohl bestellen können Sagt er doch selbst: „ich muss die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss.“ Um ihn her sehen wir die wohlbekannten Gehilfen in geschäftiger Tätigkeit. Melanchthon hat mit unermüdlicher Anstrengung aus dem tiefen Schacht des Brunnens den gefüllten Eimer zu Tage gefördert, und Johann Förster, der tätige Mitarbeiter an der Bibelübersetzung, gießt den erquickenden Wasserschwall über das durstende Land. Paul Eber ist zunächst bei Luther beschäftigt, wilde Zweige an einem Weinstock zu beschneiden. Justus Jonas führt mit fester Hand die Harke, um das Erdreich aufzulockern. Major bindet die Reben an, Crell trägt eine Bütte mit Trauben zur Kelter. Bugenhagen und Cruciger befestigen die schwankenden Reben an starke Pfähle, und eine Menge tätiger Arbeiter sind mit Auflesen der Steine, Auflockern des Erdbodens, mit Binden und Verschneiden der Reben beschäftigt. Vielleicht hat der Maler dabei noch an Erasmus, Sebastian Fröschel, Johann Arpinus und Andere gedacht 11).

Es war im Frühjahr 1538 als Musculus in den lebensvollen Kreis dieser rüstigen Kämpfer für das Kleinod des evangelischen Glaubens eintrat 12). Seine Hauptlehrer waren natürlich Luther und Melanchthon, doch zog ihn die mächtige Natur des ehernen Glaubenshelden gewaltiger an, als der friedliebende Sinn des sanftmütigen aber reich ausgestatteten Philippus. Das Derbe und Rücksichtslose in der Polemik Luthers entsprach ganz der rauen Gemütsart des jungen Gelehrten, der die neue Doktrin mit aller Heftigkeit des aufgeregten Geistes ergriff. Seine Begeisterung für Luther steigerte sich bald bis zum Fanatismus und bis zu seinem Tode blieb der große Reformator der Gegenstand seiner feurigsten Verehrung. Das war für ihn ein Evangelium. Er setzte den Mann Gottes den Propheten und Aposteln gleich und schwur auf seine Worte, als auf Gottes Wort.

Von den vielen Stellen in Musculus Schriften über die unbegrenzte Verehrung des großen Reformators stehe hier nur folgende aus dem später anzuführenden Büchlein „von des Teufels Tyrannei“: „Ich sage es für meine Person ohne Scheu, dass von der Apostel Zeit her kein größerer Mann gelebt oder auf Erden gekommen sei, der mit so viel großen und unübertrefflichen geistlichen Gaben von Gott begnadigt, als eben Lutherus, und Wohl zu sagen, dass Gott alle seine Gaben in diesem einigen Menschen ausgegossen habe. Wer da will, der halte der alten Lehrer und des Luthers Gaben, Licht, Verstand und Erkenntnis; in geistlichen Sachen gegen einander, so wird er augenscheinlich befinden, dass so großer Unterschied sei zwischen den lieben alten Lehrern und Luthers, als zwischen der Sonne und des Mondes Schein, dass auch ohne allen Zweifel die alten Väter, auch die besten und vornehmsten unter ihnen, als Hilarius und Augustinus, Wenn sie zugleich mit Luther gelebt und gelehrt hatten, sich nicht geschämt haben würden, ihm die Laterne vorzutragen, wie man zu sagen pflegt.“

Da nun aber dem ehrerbietigen Schüler der große Geist und der gediegene Charakter des Meisters fehlte, so wurde seine überspannte Verehrung und die Nachahmung der Eigentümlichkeiten seines Lehrers oft gesuchte und affektierte Manier und verleitete zur Ungerechtigkeit, Einseitigkeit und Rechthaberei. Daher seine fortwährende Streitigkeiten, seine fanatische Intoleranz und seine gediegene Grobheit. Die Zeit, in welcher Musculus zu Wittenberg verweilte, war die Zeit der Konvente, Synoden, Religionsgespräche, Reichstage und Unionsversuche, bei denen gewaltig viel gestritten, disputiert und verketzert wurde. Die Gemüter waren leidenschaftlich aufgeregt und überall hörte man den Grundsatz: „wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“. Das gab dem Charakter unsers Musculus für sein ganzes Leben eine entschieden polemische Richtung. Dabei aber studierte er mit unermüdlichem Fleiße und lebte ausschließend für seinen künftigen Beruf als Theologe und als Diener am göttlichen Wort. Er nahm an allen Disputationen tätigen Anteil, predigte oft und mit Beifall, erwarb sich die Würde eines Magisters der freien Künste und erhielt das Recht philosophische und theologische Vorlesungen zu halten. Er zeichnete sich durch Fertigkeit im Lateinsprechen, durch Kenntnis der hebräischen und griechischen Sprache und in der Disputierkunst durch Gewandtheit und Gegenwart des Geistes aus 13).

Aus mehren Äußerungen in Schriften und Briefen des Musculus geht hervor, dass er eines näheren Umgangs mit Luther gewürdigt worden und in der ersten Zeit seines Aufenthalts zu Wittenberg auch wohl zu seinem Mittagstisch gezogen worden ist 14). Späterhin muss er durch seine Vorlesungen und literarischen Arbeiten seinen Unterhalt gesichert gesehen haben, denn er verheiratete sich schon dort und brachte seinen ältesten Sohn mit nach Frankfurt.

Musculus kam zu Wittenberg in freundschaftlichen Verkehr mit Johann Agricola, den Planck mit Recht „den stößigsten Polemiker seiner Zeit“ nannte 15). Dieser eitle und ehrgeizige Mann hatte zu Wittenberg studiert und war dort mit Luther und Melanchthon in freundschaftliche Verbindung gekommen, weil er sich durch Kenntnisse und Talente auszeichnete. In der lutherischen Kirche war allgemein angenommen, dass das alte Testament dem neuen gleichgestellt werden müsse, jedoch mit der Bestimmung, dass der bürgerliche und rituelle Inhalt des mosaischen Gesetzes im Evangelium aufgehoben sei. Luther ging aber in feiner Erklärung des Briefes an die Galater noch weiter und behauptete, dass auch das mosaische Sittengesetz und dessen Inbegriff, der Dekalog, für den gläubigen Christen insofern aufgehoben sei, als derselbe von den Schrecken des Gesetzes befreit und durch die Gnade regiert werde. Nun aber hatte es Melanchthon zu dieser Zeit (1527) in seiner „Instruktion der Visitatoren“ den Pfarrern der Chursächsischen Kirchen zur Pflicht gemacht, im Unterricht des Volks einen verständigen Gebrauch von dem Gesetz zu machen, weil es die wirksamste Predigt der Buße werden und die Empfindungen der Furcht vor Gott und seiner Gerechtigkeit, sowie ein heilsames Schrecken vor den Folgen der Sünde erwecken könne. Von dieser Schrift nahm Agricola „die wahrscheinlich schon lange gewünschte Gelegenheit her, seine kleine Person in der theologischen Welt auch zu produzieren, oder sich vor dieser als den Mann zu legitimieren, der in ihren Angelegenheiten auch ein Wort mitsprechen dürfte und könnte“ 16). Er erklärte, dass das Gesetz und seine Erfüllung ganz wertlos für die Seligkeit des Gläubigen sei und dass Melanchthon mit seiner Behauptung von der Lehre des evangelischen Glaubens ganz abweiche, weil die Rechtfertigung allein durch den Glauben die wahre Buße bewirke und nicht die Furcht vor dem Gesetze. Diese Schrift machte in und außerhalb Sachsen einen so ungünstigen Eindruck, dass sich Melanchthon dadurch aufs empfindlichste gekränkt und der Churfürst sich gedrungen fühlte, eine Konferenz zu Torgau (im Dezember 1527) zwischen Agricola und Melanchthon anzusetzen, bei welcher Luther den Mittler oder Schiedsrichter machen sollte. Durch das Gewicht seines Ansehens gelang es auch demselben, den Agricola zu beschwichtigen und die Sache beizulegen 17). Er erklärte sich damit einverstanden, dass das Gesetz zur Offenbarung der Sünde bestimmt sei und der Predigt des Evangeliums vorangehen müsse.

Nun aber war Agricola, nachdem er seine Pfarrstelle zu Eisleben niedergelegt hatte, im Jahre 1537 wieder nach Wittenberg gekommen und fand bei Luther eine gute Aufnahme. Ein Zeitgenosse, der alte Ratzenberger, erzählt: „Um dieselbe Zeit kam M. Joh. Agricola von Eisleben gen Wittenberg mit Weib und Kind, suchte Freundschaft bei der Universität und bei Dr. Luthern als seinem Landsmann, welcher ihn auch mit seinem Weibe und Kindern in seiner Behausung freundlich aufnahm und unterhielt mit Kost und Nahrung eine gute Zeit, bis er nach seiner Gelegenheit eine gute geraume Behausung für sich und seine Familie in aedibus socrus Philippi 18) bekam gegen der Pfarrkirchen über“. Luther verschaffte ihm auch vom Churfürsten ein Jahrgehalt und bei der Universität eine theologische Lektion. Doch konnte der ehrgeizige Mann dem Kitzel nach Zelebrität nicht widerstehen. Er legte von neuem gegen die beiden Heerführer der Reformation die Lanze ein. Wiederum trat er mit seiner Antinomie hervor, anfangs zwar anonym, aber doch unverhohlen und sehr herausfordernd und verletzend. „Das Gesetz, sagt er, gehört aufs Rathaus und nicht in die Kirche.“ Agricolas Anhänger und Nachbeter, deren sich viele in Eisleben fanden, gingen noch weiter und trieben mit großer Leidenschaftlichkeit die Sache ins Äußerste. „An den Galgen mit Moses!“ schrieen sie. Ja, sie beschuldigten den Apostel Petrus eines großen Irrtums, wenn er die Christen ermahnt: „sie sollten ihren Beruf und Erwählung durch gute Werke fest machen.“ Luther hielt in Wittenberg zu wiederholten Malen sechs Disputationen wider die Antinomer und musste all sein Ansehen geltend machen, um den Kampf (einen der ersten und ärgerlichsten unter den durch Lehre und Freundschaft verbundenen Theologen der jungen Kirche) zu schlichten und die Gemüter zu beruhigen. So viel von dem mit leidenschaftlicher Heftigkeit, ja mit Erbitterung geführten antinomistischen Streit, der hier nur beiläufig erwähnt werden konnte, den Seckendorf, Walch, Planck, Schröckh und Kordes weitläufig beschrieben haben und der dem armen vielgeplagten Luther ein so tiefes Herzeleid gemacht hat 19).

Ich musste dieses Haders gedenken wegen des lebhaften Anteils, den Musculus an diesen gelehrten Streitigkeiten nahm. Seine Verehrung gegen Luther missbilligte zwar die Art und Weise, in der Agricola gegen den großen Reformator auftrat, auf der anderen Seite aber schien ihm doch eine Wahrheit in den Behauptungen des kampflustigen Antinomisten zu liegen. Die Keckheit, Disputierlust und Rücksichtslosigkeit des kollernden Streithahns gefiel ihm, weil er in sich selbst gleiche Anlagen und Gemütsstimmungen fühlte. Er schloss sich deshalb an Agricola an und stand oft auf seiner Seite. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Mittlerweile hatte sich Agricola heimlich von Wittenberg entfernt und war nach Berlin gegangen, obgleich er dem Churfürsten Johann Friedrich sein Wort gegeben, Wittenberg vor Beendigung seines Prozesses nicht zu verlassen. Man glaubte anfangs, er sei als Professor der Theologie nach Frankfurt an der Oder berufen, von wo er, als aus einer sicheren Burg den Kampf mit Luther fortsetzen werde 20). Es war im Juli 1540, wo Agricola in Berlin ankam und sich bald das Vertrauen des Churfürsten Joachim II. zu verschaffen wusste, der ihn zu seinem Hofprediger ernannte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lebensgeschichte des Andreas Musculus (1514-1581)