Lebende Fragezeichen – Rätselhafte Menschen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Karl H. Greggersen, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Rätselhafte Menschen, Kaspar Hauser, Alexander I. von Russland, Feodor Kusmitsch,
Rätselhafte Menschen, die zuweilen aus dem Dunkel auftauchen, haben durch die Art ihrer Erscheinung nicht selten die Welt in Unruhe versetzt. Wie etwa jener Kaspar Hauser, der bekanntlich am 26. Mai 1828 auf dem Markt in Nürnberg erschien. Die Möglichkeit, dass Hauser ein Betrüger war, ist nicht von der Hand zu weisen. Seit dem Tode des letzten Großherzogs von Baden mehren sich jedoch gewisse Anzeichen, dass es sich bei Hauser um den im Jahre 1812 geborenen Sohn des Großherzogs Karl Friedrich von Baden und seiner Gemahlin Stephanie Beauharnais handeln könne. In Baden ist diese Überzeugung ein Jahrhundert lang lebendig geblieben. Die Bevölkerung glaubt, dass der Erbprinz auf Befehl der Gräfin Hochberg ausgesetzt und später von dem Adjutanten des Großherzogs Leopold ermordet worden ist.

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Während das Schicksal Hausers im Laufe der Zeit eine geradezu unübersehbare Flut von Veröffentlichungen hervorgerufen hat, ist eine nicht weniger rätselhafte Persönlichkeit, die bereits vor Hauser die Gemüter lebhaft beschäftigt hatte, längst in Vergessenheit geraten. Es handelt sich dabei um den sogenannten Baron Frank, der im Jahre 1788 unter aufsehenerregenden Umständen seinen Einzug in die damals geruhige Stadt Offenbach am Main hielt. Es war nämlich an einem freundlichen Tage im März des genannten Jahres, als eine von vier herrlichen Isabellen gezogene Karosse, von einem kostbar gekleideten Kutscher gelenkt, über das holprige Pflaster von Offenbach rasselte. Eine reichuniformierte Leibgarde begleitete das Gefährt. Grüne Vorhänge verhinderten jeden Blick ins Innere. Jedoch betraf die Karosse auf dem Wege nach dem Palais des Fürsten von Isenburg-Birstein ein Unfall. Eine Scheibe zerbrach, der Vorhang wurde zurückgeschoben, und die neugierige Menge, die den Wagen alsbald umringte, gewahrte einen hochgewachsenen Greis mit einem fahlen Antlitz, das Ehrfurcht einflößte. Er trug einen mit Pelz verbrämten Rock aus roter Seide und nach russischer Art eine runde Mütze von gleicher Farbe. Sogleich schloss sich der Verhäng wieder, die Leibgarde drängte das Volk zurück, und weiter ging die Fahrt durch die Allee nach dem Palais. Der Baron hatte vorher in Wien gewohnt und zuletzt in Brünn; von dorther kam er. Der Ruf eines Wohltäters der Armen war ihm bereits vorausgegangen, und kaum hatte er im Palais des Fürsten von Isenburg-Birstein Wohnung genommen, da begann für die Bedrängten der Stadt Offenbach eine goldene Zeit. An drei Tagen in der Woche fanden die Armen sich in Scharen vor dem Palais ein, um zu einer bestimmten Stunde Einlass zu finden. Dann öffneten die Wachen das Portal, und in einer großen Halle verteilte der Sekretär des Barons reiche Gaben und linderte dadurch manche Not. Regelmäßig trafen für Frank aus allen Teilen Europas, insbesondere aber aus Polen und den Ländern des Balkans, ganze Fässer mit Gold in Offenbach ein. Seltsame Legenden rankten sich alsbald um den Spender sowie um die unerschöpfliche Quelle seines Reichtums.

Sehr zum Leidwesen der Bevölkerung währte die Herrlichkeit jedoch nicht lange. Im Jahre 1791 erlag der rätselhafte Fremde, den die Menge für unsterblich gehalten hatte, einem Schlaganfall. Mit großem Pomp wurde er zu Grabe getragen, betrauert von seinem Gefolge und von den vielen, denen er Gutes getan. Wider Erwarten befand sich in den Gemächern, die er bewohnt hatte, nichts von Wert, und auch sonst wurden nirgends Schätze gefunden. Die geheimnisvollen Goldsendungen blieben mit einem Schlage aus. Die Frage, wer jener Frank eigentlich war, harrt bis auf den heutigen Tag der Erklärung. Wahrscheinlich war er ein religiöser Schwärmer, dem es gelungen war, irgendwo in Podolien eine Sekte zu begründen und als ihr Führer auf Kosten der leichtgläubigen Menge ein glänzendes Leben zu führen. Gewisse, aber durchaus nicht sichere Spuren deuten darauf hin, dass sein richtiger Name Dobrusky war und dass er in seiner Jugend eine Branntweinbrennerei betrieben hatte, wenn die Quellen nicht lügen, irgendwo in Russland.

Im Jahre 1836 tauchte in Sibirien ein Mönch auf, der vorgab, Feodor Kusmitsch zu heißen, seinen wahren Namen und seine wirkliche Herkunft aber verschwieg. Das Volk hielt ihn für den Zaren Alexander I. von Russland. Grund zu Gerüchten dieser Art gab die Tatsache, dass Kusmitsch eine geradezu überraschende Ähnlichkeit mit dem angeblich am 19. November 1825 in Taganorg plötzlich gestorbenen Zaren Alexander I. hatte. Zu damaliger Zeit schenkte man dem Gerücht, Kusmitsch sei der Zar, nicht nur im Volke, sondern auch in der Gesellschaft Glauben.

Der Tod Alexanders I. war unter Umständen erfolgt, die solchen Gerüchten reichliche Nahrung gaben. Alexander I. hatte nämlich in den letzten Jahren seiner Regierung wiederholt mündlich und schriftlich geäußert, dass er keinen sehnlicheren Wunsch habe, als die Regierung niederzulegen und sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Ohne vorangegangene Krankheit war er völlig unerwartet in dem weltabgelegenen Taganrog gestorben. In einem Protokoll über seinen Tod heißt es, sein Aussehen sei eigenartig verändert und sein Rücken, wie von Schlägen, blaurot unterlaufen gewesen, ein Befund, der mit der sorgsamen Pflege, die der Körper des Zaren genoss, nicht gut in Einklang zu bringen ist. So konnte das Gerücht entstehen, dass die Leiche nicht die des Zaren gewesen sei. Hören wir dazu folgenden Bericht.

Zu derselben Zeit, da Alexander I. sich in Taganrog aufhielt, befand sich in der dortigen Garnison ein Unteroffizier namens Strumenskij, der wegen seiner großen Ähnlichkeit mit dem Zaren im Scherz Alexander II. genannt wurde. Dieser Strumenskij, der sich ein Vergehen gegen die Disziplin zuschulden kommen ließ, hatte einen Fluchtversuch unternommen, war aber seinen Verfolgern wieder in die Hände gefallen, zu Spießrutenlaufen verurteilt und dabei zu Tode gepeitscht worden. Die Möglichkeit, dass mit Hilfe bezahlter Ärzte die Leiche des Strumenskij für die des Zaren ausgegeben wurde, ist nach Lage der Dinge nicht von der Hand zu weisen.

Der Mönch Feodor Kusmitsch, der am 20. Januar 1864 auf einem Gute bei Tomsk starb, hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Dieser Mönch, der angab, von geringer Herkunft zu sein, zeichnete sich durch gründliche Kenntnis fremder Sprachen aus. Leute, die dem Zaren Alexander I. nahegestanden hatten, erkannten ihn mit Sicherheit in Kusmitsch wieder. Obwohl Kusmitsch ein frommer Mensch war, weigerte er sich doch, die Beichte abzulegen. Einmal ermahnt, diese Pflicht nicht zu versäumen, erwiderte er: „Wenn ich in der Beichte nicht die Wahrheit über mich sage, so wird sich der Himmel wundern. Sage ich aber, wer ich bin, so wird sich die Welt wundern.“ Ein seltsames Wort.

Der Mönch. Nach einer künstlerischen Aufnahme von Franz Fiedler.

Der Mönch

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