Zustand des Russischen Landvolks. Peter steuert den Bedrückungen

Das Geräusch der Waffen hatte lange die Stimme der Klage eines gedrückten Volkes übertönt. Sie drang jetzt zu dem Ohre des Monarchen. Bei der Ruhe, die er nach dem Tweremünder Siege in Petersburg genoss, vernahm er diese Stimme, und fühlte tiefer, denn je, wie sehr ihm Männer fehlten, die mit redlichem Sinn in seine Pläne einzutreten und des Staates Wohl ernstlich mit ihm zu fördern geneigt waren. Schon seit mehreren Jahren war die Armee unrichtig bezahlt worden, die ausländischen Offiziere hatten den Russischen Dienst verlassen; viel tausend Arbeiter, aus den fernsten Enden des Reiches zusammen getrieben, waren in Elend umgekommen; überhand nehmende Teuerung drückte das Land; die einheimische Handlung stockte, und die Finanzen gerieten in Verfall. Eine Hauptquelle dieser Übel war freilich der langwierige, menschenraubende Krieg; aber lastender noch für die Untertanen waren die Erpressungen der Großen, unter welchen das Volk seufzte. In dem Maße, wie der Zar den Übermut der Knäsen und Bojaren beugte, verfuhren diese in der zwiefachen Eigenschaft, als Gutsherrn und Staatsbeamte, mit verdoppelter Härte gegen die Bauern.

In vielen Europäischen Reichen lebte der Bauer in Knechtschaft, als er in Russland frei, und nicht, wie jetzt, an die Scholle gebunden war. So war es noch, als Zar Iwan Wassiljewitsch regierte. Man kannte keinen Unterschied unter Kron- und Adels - Bauern; oder vielmehr, man kannte keine Adels-Bauern in der Bedeutung, die jetzt mit dem Worte verbunden wird. Eigenes Land hatte der Bauer nie. Bloß der Adel, oder derjenige, dem der Zar Grundgüter schenkte, war zum Landbesitz berechtigt. Von diesen Eigentümern erhielt der Bauer die Äcker auf bestimmte Jahre und auf gewisse Bedingungen in Pacht. Der Bauer nahm die fünfte, oder zehnte Garbe für seine Arbeit; die übrige Ernte gehörte dem Eigentümer des Landes. Nach Ablauf der Zeit des Vereins hatte jeder Teil gleiches Recht zur Aufkündigung. Der Herr entließ den Bauer, der etwa den Landbau versäumt hatte; der Bauer suchte, sobald sein Herr befriedigt war, mit einem anderen einig zu werden *).


*) S. Anmerkung 37.

Eine natürliche Folge dieser Veränderlichkeit des Aufenthalts und der öftern Verhaufung der Bauern war, dass die Hebung der Abgaben für die Staatsbeamte schwieriger wurden. Auch den Edelleuten war der stete Wechsel der Zeitpacht nicht genehm, und oft entstanden Klagen der Eigentümer, dass ihre Bauern, mit denen sie zufrieden gewesen, durch größere Versprechungen gelockt, zu anderen übergegangen wären. Bequemer freilich für die Kronbeamten und die Edelleute war es, wenn der Bauer auf der Stelle blieb, wo er sich befand; dies wussten jene bei der Regierung geltend zu machen, und so verordnete zuerst im Jahre 1595 der Zar Feodor Iwanowitsch, dass hinführo kein Bauer das Land, wo er ansässig sei, wieder verlassen solle. Diese Verfügung, die nach Feodors Tode die Zaren Boris Godunow und Wassilj Iwanowitsch Schuiskoi verschiedentlich zu mildern suchten, ward im Jahr 1626 unter dem Zaren Michael Feodorowitsch völlig bestätigt, und dadurch der Grund zu der Leibeigenschaft gelegt, die noch jetzt auf Russland lastet, den schnellen Anbau des Bodens, sonach die Bevölkerung hindert, und die Menschheit herabwürdigt.

Die Edelleute, des unveränderlichen Besitzes ihrer Bauern sicher, vergaßen bald die Schonung, mit der sie bis dahin die Freien hatten behandeln müssen. Die Bauern mussten sich's gefallen lassen, dass ihre Abgaben an den Gutsherrn willkürlich erhöht wurden; denn sie durften nicht von der Stelle. Allmählich glaubten die Gutsherrn sich berechtigt, die Bauern wider ihren Willen von dem Lande, wo sie geboren waren, von der Flur, deren Anbau sie gefördert und wo sie die Früchte ihres Fleißes genossen hatten, von der Heimat, von Verwandten und Freunden, in ein fremdes, vielleicht weniger gesundes, wüstes Land zu versetzen, um es durch sie urbar machen zu lassen; ja, sie glaubten das Recht zu haben, die Bauern, selbst ohne das Land, an welches das Gesetz sie gefesselt hatte, als Eigentum verkaufen zu dürfen *).

So bildete sich, ohne die Absicht der Regierung **), ein System der Herabwürdigung und Bedrückung der überwiegenden Klasse der Nation, von deren Fleiß der Bau des Landes, und so das Wohl des Staates abhängt. Es entstand Leibeigenschaft, ein Zustand, der den Leibeigenen entmenschte, der den Leibherrn zu Bedrückungen verführte, die ihm selbst wesentlich schadeten, und der, nur für die Bequemlichkeit der Beamten berechnet, selbst für den Augenblick die Staatseinnahme nicht erhöhte.

*) S. Anmerkung 38.
**) S. Anmerkung 39.


Die Steuern, welche der Staat von jeglichem Bauerhof zu erheben hatte, waren so mäßig *) dass deren Aufbringung den Einhaber derselben nicht beschwert haben würde, wenn er, vor den Erpressungen des Adels und der Beamten gesichert, sein Feld mit Mut hätte bauen können. Aber der von Beamten und Adel ausgesogene Bauer brachte mit Mühe auch die wenigen baren Kopeken auf, die er dem Staate für einen Schutz bezahlte, dessen er sich selten gegen seine Bedrücker zu erfreuen hatte.

*) S. Anmerkung 40.

Was dem Bauer am lästigsten wurde, war die Natural-Lieferung des Proviants für die Heere und die Besatzungen. Da diese Lieferung bei der größern Ausbreitung der Reichsgrenze fast unerträglich geworden war, so hatte man den Klagen durch die Maßregel abzuhelfen gesucht, dass man die Natural-Lieferung gewissen Unternehmern überlassen und anstatt des Korns den Geld-Wert desselben von der pflichtigen Landschaft beigetrieben hatte. Diese, die Erleichterung des Bauern bezweckende, Einrichtung hatte aber nur die Folge, dass dem Betruge, und so der Bedrückung der Pflichtigen eine neue Bahn geöffnet wurde. Denn die Großen, welche die geringsten Preise hatten bedingen sollen, wurden unter fremden Namen selbst die Unternehmer, gewannen bei den übermäßigen Preisen, die ihre Habsucht setzte, und von den Pflichtigen erpresste, unendliche Summen, welche die Einfältigeren in Kasten verwahrten, die Klügeren in fremde Banken für sich in Sicherheit zu bringen wussten. Das Geld kam aus dem Umlauf und der Staat darbte.

Die Sorgen des Krieges hatten Peter bisher gehindert, seine Aufmerksamkeit auf diesen wichtigen Gegenstand zu lenken. Auch waren der Bedrückten bestimmte Klagen noch nicht zu ihm gedrungen. Jetzt, da der Krieg geendigt zu sein schien, und der Zar an der Neva ruhte, jetzt hatte es ein Kundiger gewagt, diese Beschwerden schriftlich zu verfassen, und mehrere Abschriften auf des Zaren Weg zu streuen. Peter fand, was er finden sollte, und las es in der Einsamkeit. Keiner erklärte sich, woher die Schwermut rühre, die man mehrere Wochen an dem Monarchen bemerkte. Aber zum Schrecken der Großen ward es bald kund, was ihn gekümmert habe. Peter forderte den ungenannten Verfasser der Schrift öffentlich auf, sich zu nennen. Ihm ward Sicherheit und Belohnung versprochen, wenn er in Person hervorgehen und Beweise seines Vorbringens an Hand geben würde.

Der Aufruf gab dem Schriftsteller Mut, sich darzustellen. Er weihte Peter in die Geheimnisse der Ungerechtigkeit ein, und der erschütterte Zar fasste den ernsten Entschluss, den inneren Angelegenheiten größere Aufmerksamkeit zu widmen, dem Drucke der Großen zu wehren, den Lauf der Gerechtigkeit, so wie die Hebung der Einkünfte besser zu ordnen, und so die Lasten des Volkes möglichst zu erleichtern.

Man gab ihm den Rat, die Sklaverei der Bauern ganz aufzuheben, durch Herstellung einer gemäßigten Freiheit dem Ackerbau und der Volksbetriebsamkeit einen entscheidenden Schwung zu geben, und seinem Verdienst um Russland die Krone aufzusetzen. Die Anwendung dieses Mittels, wodurch dem Übel an die Wurzel gegriffen sein würde *), schien Petern noch zur Zeit bedenklich zu sein. Aber er setzte ohne Verzug eine Kommission nieder, die unter dem Vorsitz des Generals Wassilj Dolghorukoi alle Bedrückungen, deren sich Hohe und niedre Staatsbeamte schuldig gemacht hatten, untersuchen und die Beschuldigten richten musste. Außer einer unglaublichen Menge Zarischer Bedienten vom zweiten und dritten Range, wurden die vornehmsten Staatsbeamten in diese Untersuchung verwickelt. Der General- Admiral Apraxin, Fürst Menschikow, der Petersburgische Vize-Gouverneur Korsakow, der Ober- Admiralitätsherr Kikin, der erste Kommissar der Admiralität Sinarin, der General Feldzeugmeister Brüce, und zwei Mitglieder des Senats, Fürst Wolkonsky und Apuchtin, mussten sich stellen und wegen der Veruntreunngen in ihren Departements Rechenschaft geben. Menschikow durfte sich auf die Gnade des Zaren verlassen, der wegen seiner andern Verdienste um Peter Nachsicht, vielleicht zu große Nachsicht für ihn hatte. Auch konnte er sich, so wie Apraxin und Brüce mit seinen ausländischen Feldzügen entschuldigen: Nicht so Korsakow, Apuchtin und Wolkonsky. Sie erlitten, den Geringeren gleich, entehrende Strafen, und Sibirien ward mit einer Menge von Volksbetrügern bevölkert. Die Kommission beschloss ihr Walten mit einer Verordnung, welche künftigen Bedrückungen zu wehren, die Gelegenheiten den Unterschleif abzuschneiden, und so die Belästigten zu erleichtern, die ernste Absicht hatte **).

*) Anmerkung 41.
**) Weber I. S. 32-57. Müller in Büschings Magazin XVIII. S. 76 f.


Der Provinz Ingermannland, die durch den Druck der Großen, durch den Bau von Petersburg, durch Krieg und Pest zur Einöde geworden war, half er nach Alt-Zarischer Sitte durch ein heroisches Mittel. Aus dem Innern Russlands ließ er eine Menge bemittelter Bauern mit Weib und Kindern wegnehmen und ihnen in Ingermannland Ländereien anweisen, wohingegen andre Ärmere wieder in die Stelle der Weggeführten traten *).

*) Weber I. 31.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben Peters des Großen. Bd 2