Peter am Dniester. Kriegsrat

Mit solchen Aussichten nahte sich Peter dem Dniester. Der Feldmarschall Scheremetew war schon im Mai mit einem Heerhaufen von etwa 10.000 Mann bei Raschkow voraus über den Fluss gegangen, um sich, in Verbindung mit den Moldauern, wo möglich der Brücke zu bemächtigen, welche die Türken über die Donau zu schlagen beschäftigt waren. Auch hatte der General Mark schon das feste Schloss Soroka an des Dniesters jenseitigem Ufer erobert, und die Brücke über den Fluss für die Hauptarmes vollendet.

Ehe der Zar das Heer über den Strom führte, berief er die vornehmsten Generale zu einem Kriegsrat zusammen. Bei den vorigen Feldzügen gegen die Türken und Tataren hatten die Russen, da sie in den Wüsten keine Lebensmittel erwarten durften, immer auf vielen tausend Wagen den ganzen Vorrat mit sich geführt. Jetzt, da man in die Länder bundesverwandten Fürsten zog, die Proviant zu liefern versprochei hatten, jetzt war diese Fürsorge unterblieben. Die Armee hatte nicht auf acht Tage zu leben. Dieser Mangel war allen Generalen bekannt; bekannt war aus Scheremetews jetzt eingelaufenem Schreiben, dass vierzigtausend Türken, denen er bei der Donau zuvor zu kommen gehofft hatte, schon bei Saczia über den Strom gegangen seien, dass er, zu schwach, sie zu bekämpfen, am Prut weile, dass es schon seinem Korps an Brot fehle, und dass es schwer falle, das Vieh, wovon allein es leben müsse, zusammen zu treiben *). Peter berief in dieser wichtigen Krise die Generale zum Ratschlage.


*) S. Scheremetews Schreiben an den Zaren vom 8. Jun. 1711 aus Zugora am Prut, das am 11. Juni anlangte, im Petersb. Journ. VIII. S. 263. Der Brief mit Peters Antwort vom 12. Juni (Petersb. Journ. IV. S. 134.) Scheremetews Schreiben vom 16. Juni (Petersb. Journ. VIII. S. 265.) Peters weitere Schreiben vom 16. und 21. Juni (Petersb. Journ. IV. 136 f.) und Scheremetews Schreiben vom 1. Juli (Petersb. Journ. VIII. S. 268.) stehen, da die Korrespondenz in aller Hinsicht merkwürdig ist, in der angegebenen Ordnung unter der Anmerkung S. abgedruckt. S. auch Scheremetews Leben S. 92 f.

Die Deutschen, Allart, Ensberg, Osten und, Bergholz, die zuerst um ihre Meinung gefragt wurden, stellten die Notwendigkeit vor, die beiden Ufer des Dniesters, in deren Besitz man sich befinde, nicht zu verlasen. Hier könne man die Absichten der Türken beobachten, das Heer von der Ermüdung des langen Marsches ausruhen lassen, die Lebensmittel, die das Band des Heeres knüpften, leicht und ohne große Kosten herbei schaffen, könne selbst Magazine in Polen errichten, um die Bedürfnisse ohne Beschwerde der Armee dahin zuführen, wo sie sich befände. Untätig müsse man darum nicht bleiben. Der Besitz von Mohilow und Soroka gewähre zwar schon der Russischen Armee zwei wichtige Waffenplätze am Dniester, die ihr den Eingang in die Moldau eröffneten. Aber um den Strom zu beherrschen, müsse man vor allen Dingen sich auch des dritten Einganges zu bemächtigen suchen. Bender müsse erobert werden, Bender, das schon durch den Aufenthalt des Königs Karl wichtig sei, Bender, das zum schönsten Waffenplatz und zum Hauptmagazin für die Armee dienen könne. Wagten sich die Türken hervor, dann würden sie, ehe sie die Russen erreichten, beim Zuge durch die Wüsten die Blüte ihrer Reiterei aufgeopfert haben, und nicht im Stande fein, den Russen ihre Waffenplätze, die eine treffliche und zahlreiche Armee verteidige, zu entreißen. Sicher würden sie, aus Besorgnis, alles zu verlieren, nicht einmal eine Belagerung unternehmen, viel weniger es wagen, den Übergang über den Dniesier zu erzwingen, und im Angesichte der Russischen Armee Brücken über den Fluss zu schlagen. Unternähme es dagegen der Zar, die Armee unter den Umständen, worin sie sich befände, weiter in die Moldau führen, dann setze er sichtbar das treffliche Heer und seinen Ruhm aufs Spiel. Nach den Versicherungen der Bewohner von Soroka brauche man wenigstens fünf Tage zum Durchzug durch die Wüste, die nicht Kraut noch Wasser biete. Auch jenseits der Wüste finde man ein wenig bevölkertes Land, dessen Kornbau selbst für die kleine Zahl der Bewohner nicht hinreiche, und den etwanigen Vorrat in der Hauptstadt Jassy würde die Russische Reiterei unter Scheremetew schon verzehrt haben. Das noch so neue Beispiel des Königs von Schweden müsse kräftig von einem ähnlichen Fehler abschrecken; und noch größer würde hier der Fehler fein, da die Moldau, in die man sich versenken wolle, ein viel unbekannteres und unfruchtbareres Land, als die Ukraine, sei, und kein Löwenhaupt mit einer Zufuhr von mehreren hundert Wagen sich nahe. „Am Dniester,“ so schlossen sie ihren Vortrag, „am Dniester müssen wir den Feind erwarten. Hier, wo wir, an den Strom gelehnt, ohne Hindernis unsere Magazine häufen können, hier wird unser Heer anwachsen, indes die feindlichen Horden in den Wüsten schmelzen. Stark, wie wir sind, verfolgen wir dann bei ihrem Rückzuge die Geschwächten, verfolgen sie bis ins Herz ihres Reiches. Nichts kann unsern Zug aufhalten; alles ist den Siegern zu Gebote, und bevor noch die Türken aus ihren Winterquartieren hervor gehen, haben wir Eroberungen gemacht, die uns keiner entreißen wird.“

Jetzt erhob sich der Kurländer General Rönne, ein Mann von erprobtem Mute, der längst Peters volles Vertrauen gewonnen hatte. „Wäre es nicht Schande,“ sprach er, „wenn ein treffliches Heer, wie das unsre, sich fesseln ließe an das Ufer dieses Stroms? Was sorgen wir für Lebensmittel, da uns befreundete Provinzen aufnehmen, und die Griechischen Christen nur unsrer Ankunft harren, um sich für uns zu erklären? Was wollen wir Geld verschwenden, um Magazine zu haufen, da wir auf Kosten des Feindes unsern Unterhalt finden können? Wissen wir nicht durch Scheremetew, dass es jenseits der Wüste bis zur Donau an Lebensmitteln zur Notdurft nicht fehlen werde? Zur Donau müssen wir eilen, und dem Feinde unter die Augen rücken. Schon beim Anblick unserer Bataillone, die ihm in seinem eigenen Lande Gesetze zu geben drohen, wird er sich für halb geschlagen halten. Mit dem Beispiel Karls schrecke man kein Heer, das Karl überwand, und die Türken. Ein mutiger Fortschritt, das ist die zweckmäßigste, die glorreichste Maßregel, die einzige, die des großen Fürsten, der uns führt, würdig ist!“ Die Russischen Generale und die Minister stimmten Rönnen bei, und Peter, durch des mutvollen Kriegers Vortrag hingerissen, und durch die Größe des Unternehmens geschmeichelt, folgte der Mehrheit.*)

*) Memoires politiques (par J. Moreau de Brassey Comte de Lion) Tom. I. Veritop. 1716. p. 22. suiv. Er, Oberster des Regiments Kasansky und Brigadier in der Armee, machte den Zug mit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben Peters des Großen. Bd 2