Karl XII. erscheint in Stralsund

Denn auch am politischen Himmel drohte eine neue Begebenheit die Verrückung aller bisherigen Pläne.

Wir müssen, um uns auf den Standpunkt zu versetzen, von dem dies Phänomen in seiner wahren Gestalt erscheint, zurück gehen an dem Faden der Nordischen Intrige, welchen Görz in seiner Hand hielt.


Durch das Neutralisations-System die Schwedisch-Deutschen Provinzen für Schweden, und die Holstein- Gottorpischen Lande für den jungen Herzog zu erhalten, das war das Ziel, wohin er strebte. Er hatte Menschikow dafür zu gewinnen gewusst, aber nicht den Zaren. Um auch diesen für dies System geneigter zu machen, waren der Preuße Schlippenbach und der Holsteiner Bassewitz *) nach Petersburg gesandt. Die Preußischen Vorstellungen wegen Pommern fanden Eingang, und Peter beruhigte sich endlich bei dem Vereine, welchen Menschikow geschlossen hatte. Dass aber der Holstein-Gottorpische Hof sich in die Streitigkeiten der großen Potentaten mischen wollte, schien ihm sonderbar.

„Ihr Hof,“ sagte er zu Bassewitz, „Ihr Hof, durch Görzens weitaussehende Ratschläge geleitet, scheint mir einem Nachen zu gleichen, der den Mast eines Linienschiffes trägt. Der geringste Wind, welcher den Kahn in die Seite fasst, muss ihn versenken“ **). Umsonst suchte Bassewitz ihm den Dänischen Hof als treulos zu schildern. Peter beharrte dabei, der Herzog - Administrator habe durch Steinbocks Aufnahme in Tönningen die Neutralität gebrochen, und so trage er auch mit Recht die Folgen dieses Bruches. Bassewitz wollte es nach Görzens Auftrag geltend machen, dass der Gottorpische Hof den Grafen Steenbock nicht nur mittelbar durch Zulassung desselben in Tönningen, sondern auch, als Steenbock sich nachher der Übergabe an die Alliierten geweigert, unmittelbar durch Görzens Überredung
den den verbundenen Mächten in die Hände geliefert habe. „Desto schlimmer!“ versetzte Peter. „War es Unrecht, die Schweden aufzunehmen, so war es doppelt Unrecht, die Aufgenommenen zu verraten“ ***). Peters Unwille stieg, als der Dänische Hof ihm bald darauf die, in dem eroberten Tönningen gefundenen, Aktenstücke mitteilte, welche das zweideutige Verfahren des Gottorpischen Hofes bewährten. Bassewitz lief Gefahr, nach Sibirien geschickt zu werden. Ihn rettete Menschikows Freundschaft, die am Trinktisch in Deutschland geschlossen und an der Neva genährt war. Von ihm unterstützt, wusste er es dahin zu bringen, dass die Unterhandlungen dennoch nicht abgebrochen wurden. Ja, er wagte es jetzt, den Wunsch einer künftigen Verbindung des jungen Herzogs von Holstein mit des Zaren kaum siebenjährigen Tochter, der Prinzessin Anna, zu äußern. Dem Zaren war diese Verbindung nicht missfällig, und in einem günstigeren Lichte erschien nun auch ein zweiter Wunsch, den Bassewitz äußerte. Es war der, dass dem Herzoge das eroberte Großfürstentum Finnland und Schleswig und Holstein mit dem Rechte, solches künftig mit der Krone Schweden zu vereinen, abgetreten werde, Bremen und Verden aber an den Herzog - Administrator fallen solle.

*) S. Anmerkung 48.
**) Bassewitz I. c. p. 300. Anmerkung 49.
***) S. Anmerkung 50.


Der Krieg gegen Schweden ward indes mit wenig Nachdruck geführt. Ja, die Schwedische Regierung schien ohne Zutun ihres Königs, von dem sie sich verlassen zu sein glaubte, Friedensverhandlungen beginnen zu wollen *), als plötzlich die Nachricht erscholl: Karl ist in Stralsund erschienen!

*) Tagebuch I. S. 488.

An dem Beistande der Türken endlich verzweifelnd, war er, nach fünfjähriger Abwesenheit, von wenigen Dienern begleitet, unerkannt mit Adlerschnelle durch Siebenbürgen und Ungarn, über Wien, Nürnberg, Kassel, nach Pommern geeilt. Mit ungebeugtem Mute stand er jetzt auf dem Fleck, am Baltischen Meere, der noch sein war, und prüfte seine Kräfte, ob er dem wandelbaren Glück aufs neue zu gebieten vermöge.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben Peters des Großen. Bd 2