Eroberung von Wiburg

Die Pest hatte ihm in Polen gedienet, ohne seinem Heere zu schaden. Sie wütete, wiewohl weniger schonend für die Russen, auch in Lieftand vor ihm her.

Indes Scheremetew die langwierige Belagerung von Riga fortsetzte, wurde nun auch beschlossen, den einst verfehlten Angriff auf Wiburg, die Hauptstadt in Karelien, zu erneuern. Der Großadmiral Apraxün erhielt (im März) den Auftrag, diesen wichtigen Seehafen am Finnischen Meerbusen zu belagern, und Menschikow wurde befehliget, unverzüglich Getreide für die Flotte zusammen zu bringen. Menschikow legte des Monarchen Befehl dem Senate vor, und es war nur Eine Stimme, dass den Landleuten des nahen Nowghorodischen Gouvernements die Herbeischaffung des Getreides aufgelegt werden müsse. Dieser Beschluss ward Petern, als er in den Senat eintrat, vorgelegt. Der Zar vermisste gleich die Unterschrift des braven Iwan Michailowitsch Golowin, welcher bei der Beratschlagung abwesen gewesen war. Er ward gerufen, und Peter leg, ihm den Senat Beschluss vor. Golowin las da Papier, schüttelte den Kopf, und zerriss es. Indes alle Senatoren in Schrecken gerieten, und auch Peter kaum seinen Zorn unterdrückte, schrieb Golowin die wenigen Zeilen: „Dem belasteten Volk, noch mehr aufzubürden, ist unverantwortlich. Die Senatoren, welche ganze Dörfer in der Nähe von Petersburg besitzen, sie können leicht aus ihren Vorratskammern das verlangte Getreide herbei schaffen. Ich unterzeichne zehntausend Tschetwert[*] Roggen.“ Er gab die Schrift dem nächsten Senator, und keiner unterzeichnete weniger, als Golowin; Menschikow das dreifache. Der entrüstete Monarch war versöhnt, und die Flotte versorgt. *)


Als Kontreadmiral (Schoutbynacht) befand sich Peter selbst auf der Flotte, die unter dem Vizeadmiral Bruys dem Belagerungskorps Lebensmittel, Kriegsgerät und Geschütz zuführte. Nicht ohne Gefahr und Verzug kam die Flotte durch das Eis. Die Belagerer hatten nur noch für drei Tage zu leben. Man war im Begriff, Pferdefleisch zu essen, und die Belagerung aufzuheben. Desto willkommener war Peter, als er, mit den Galeeren voran eilend, Lebensmittel brachte **).

[*]Der Tschetwert war ein russisches Volumen- und Getreidemaß. Das Maß hatte regionale Unterschiede. Allgemein 1 Tschetwert = 10.088 Pariser Kubikzoll = 200 Liter
*) Goliksw S. 180.
**) Tagebuch I. S. 302.


Der Zar führte die Proviantflotte nach Petersburg zurück, reiste aber dann unverzüglich zu Lande wieder zur Armee nach Wiburg. Er kam dort, in dem Augenblicke an, da die Stadt sich ergab. (Jun. 14. A. St.) Der Schwedischen Besatzung war nach dem Vereine freier Abzug versprochen; aber man hielt sich von Russischer Seite berechtiget, das Versprechen unerfüllt zu lassen, und zur Rechtfertigung dieses Verfahrens wurden mehrere Beschwerden aufgestellt, wonach die Schweden sich der Verletzung des Völkerrechtes schuldig gemacht hätten. Nicht nur dieserwegen verlangte man Genugtuung, sondern man forderte auch die Rückkehr aller in Schweden befindlichen Wiburgischen Bürger, Weiber und Kinder mit ihrem Vermögen. Der Wunsch, Petersburg schnell zu bevölkern, verleitete zum Teil wohl den Zaren zum Bruch der Kapitulation; denn nicht nur die Schwedischen Besatzungstruppen, die Kranken und Verwundeten ausgenommen, sondern auch fast alle Einwohner von Wiburg wurden nach Petersburg geführt**).

*) Tagebuch I. S. 307.
**) Gordon II. S. 22. Nordberg II. S. 246.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben Peters des Großen. Bd 2