Die Lebensfrage überhaupt

1. Leben und Sterben sind so alltägliche, allbekannte Dinge, dass man in der Praxis mit ihnen völlig im Reinen zu sein meint, wo Niemand daran zweifelt, dass Tod und Leben grundverschiedene Dinge sind, und nicht im entferntesten ahnt, welche Unruhe und welche Widersprüche in der Wissenschaft über die Begriffe von Leben und Tod herrschen. Vom Standpunkt des gemeinen Lebens aus könnte man es für eine müßige und nutzlose Arbeit halten, erst zu untersuchen, ob Leben und Tod wirklich grundverschiedene Dinge sind oder nicht, da der Unterschied einer Leiche und eines lebenden Menschen uns sinnlich so deutlich vor Augen liegt, dass es nichts gewisseres geben kann, als die Tatsache des Lebens und Sterbens. Wir sprechen von Sterblichkeit, von Todesursachen, als ausgemachten Dingen; wir betrauern den geliebten Verstorbenen, wir sind des Todes sicher, wo wir alle Lebenstätigkeiten aufhören sehn; wir finden das Tote dem Leben überall feindlich gegenüberstehen, und betrachten Leben und Sterben als ausschließliche Gegensätze. Aber diese Sicherheit und Gewissheit der Ansichten über Leben und Tod wird durch die neuere Wissenschaft wankend gemacht, indem sie auf eine Untersuchung des inneren Wesens von Leben und Tod eingeht, und dabei entweder zu dem negativen Resultat gelangt, dass die Wissenschaft einen wesentlich durchgreifenden Unterschied zwischen Leben und Tod nicht zu finden oder zu erkennen vermöge; oder die positive Behauptung aufstellt, dass Leben und Tod wesentlich identische Dinge, ihr Unterschied nur scheinbar sei. Dadurch wird dem Tode, wie dem Leben, jede wesentliche Bedeutung, dem Leben sein Werth genommen; und beiden jeder tiefere Einfluss auf die Weltstellung des Menschen abgesprochen.

Es gab freilich auch eine noch nicht lange vergangene Zeit, wo man auch in der Wissenschaft die Ansicht des praktischen Lebens festhielt; Leben und Tod als unzweifelhaft daseiende Gegensätze voraussetzte, und gar nicht daran dachte, dass der ausschließliche Unterschied von Leben und Tod erst bewiesen zu werden brauchte. Von diesen Ansichten getragen schrieb Bichat sein berühmtes Werk über Leben und Tod, welches von den verschiedenen Todesarten der Tiere und Menschen handelt, ohne im Geringsten die Vorfrage zu untersuchen, ob es ein vom Tode verschiedenes Leben gäbe. Heut zu Tage wäre es in der Naturwissenschaft gewagt, über die verschiedenen Todesarten in Bichats Sinne zu handeln, indem man von der Grundansicht ausgeht, dass zwischen Leben und Tod überhaupt ein prinzipieller Unterschied nicht bestehe, und es eine solche Verschiedenheit des Sterbens und solche Todesarten, wie Bichat voraussetzte, nicht geben könne; da Leben und Sterben nichts als einfache Modifikationen des einen chemischen Stoffwechsels, der Inanition durch die Stoffstatik sein sollen; wonach es nur eine einzige Todesart geben könnte.


So haben wir heut bei den Untersuchungen über Leben und Tod erst die Existenzfrage des Lebens zu betrachten. Eine unbestrittene Berechtigung des Lebens, dem Tode gegenüber, besteht in der heutigen Physiologie nicht; der Physiologie als Lebenslehre wird jetzt von der Physik, der Lehre von den toten Naturkräften, das Dasein streitig gemacht; soweit, dass sogar diejenigen für unwissenschaftlich erachtet werden, welche vom Leben und Lebenskraft als einer selbstständigen Tätigkeit sprechen.

Die jetzigen Hand- und Lehrbücher der Physiologie, wie die meisten physiologischen Untersuchungen, bewegen sich auf dem Gebiete der Physik und Chemie; sie fangen mit der Voraussetzung an, dass ein prinzipieller Unterschied von Leben und Tod nicht bestehe; dass beide von demselben physikalischen und chemischen, also anorganischen Naturgesetzen regiert, dass das Leben auf letztere zurückgeführt oder aus ihnen erklärt werden müsste; dass Leben und Sterben nur Metamorphosen einer und derselben chemischen Materie, bloß scheinbar von einander verschieden; das menschliche, wie alles, Leben daher als etwas Eigenmächtiges und Selbstständiges für den wissenschaftlichen Arzt und Naturforscher nicht vorhanden; Leben und Sterben daher im Wesentlichen identische, physikalische und chemische Prozesse seien. Die naheliegende Frage, warum man unter solchen Umständen noch besondere Werke über Physiologie schreibt, da sie nur Wiederholungen aus der Physik und Chemie enthalten, bleibt dabei unbeantwortet, und wird vielmehr nicht aufgeworfen.

Auf der andern Seite bleibt nun aber Leben und Sterben eine wichtige Existenzfrage für den Menschen überhaupt und für die Heilkunst im besonderen. Denn wenn es kein eigenmächtiges und selbstkräftiges Leben gibt, so ist das Sterben unmöglich, die Bemühung, einen leidenden Menschen durch ärztliche Hülfe vom Tode retten zu wollen, ist dann eitel und vergeblich; der ganze Zweck der Medizin ist in Frage gestellt. Aber nicht bloß die Medizin, sondern alle menschliche Kunst und Wissenschaft; die Moral, das Recht, die Staatskunst, die Erziehungskunst ist in Frage gestellt; weil die spezifische Natur des Lebens die Triebkraft der menschlichen Gesundheit des Geistes wie des Körpers und aller menschlichen Tätigkeiten bildet; die Triebfeder der Gefühle und Leidenschaften, des Menschenrechts und Glücks; denn alle diese Dinge wären ohne das Leben, welches sich den Tod abwehrt, nicht vorhanden. Das Leben ist aber nicht bloß die Triebkraft, sondern auch das Ziel aller menschlichen Tätigkeiten, denn alle Menschentätigkeit zielt auf Erhaltung und Veredlung des Lebens, wie auf Abwendung und Vernichtung des Toten ab. Alle Agitationen und Revolutionen geschehen des Lebens und nicht des Sterbens wegen. Die Größe, die Höhe des menschlichen Daseins ist allein durch das Leben erzeugt; dadurch allein hat der Mensch seine Vollendung, seine Erhabenheit oder die äußere Natur. Das Leben ist der Mittelpunkt und Träger der Kultur und Zivilisation, der Humanität; und ohne das dem Tode widerstehende Leben würde Wissenschaft und Kunst, Humanität und Zivilisation, die sich in den Gräbern nicht finden, nicht da sein.

Die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Tod ist also die wahre Lebensfrage des Menschengeschlechts, die wir in den höchsten menschlichen Angelegenheiten suchen; die Lebensfrage, welche allein Gesundheit und Kraft in allen menschlichen Dingen gibt; denn ohne Leben ist keine Gesundheit, keine Freiheit des Geistes und des Körpers. Und wenn man das körperliche Leben auf tote Naturgesetze zurückführt, indem man es physikalisch und chemisch erklärt; so ist man gezwungen auch das Geistesleben, eben weil es Leben ist; man ist gezwungen die Gefühle und Leidenschaften, Liebe und Freundschaft, Verstand und Vernunft, Wahrheit und Freiheit, Kunst und Wissenschaft, die Heilideen der Medizin, die Moral und Politik, die Kultur und Zivilisation auf tote, mechanische und chemische Naturgesetze zurückzuführen und das Leben in allen diesen Dingen zu töten, wie es von sonst achtbaren deutschen Naturforschern, nach dem Vorgange von Quetelet, wirklich geschehen ist.

Es ist also nicht bloß die Lebensfrage der Medizin, sondern die Lebensfrage aller menschlichen Wissenschaft und Kunst, welche uns hier vorliegt; denn wir suchen Leben und Gesundheit nicht bloß in der Medizin, sondern wollen auch eine gesunde Politik, Erziehung, Moral, wir wollen überall das Abgestorbene, das Tote, weil und obgleich es naturgesetzlich ist, uns vom Leibe schaffen. Diese Lebensfrage ist zugleich eine patriotische Frage, eine Frage ächt deutscher Wissenschaft, die sich zu Paracelsus, des philosphus teutonicus Zeiten als medizinischer Germanismus gegen den galenischen Romanismus in der Medizin auflehnte. Es kann zwar nicht hier unsere Absicht sein in der Wissenschaft Politik zu treiben, und die Wissenschaft für politische Zwecke dienstbar zu machen; aber wir können auch ohne Rücksicht auf Politik den deutschen vaterländischen Charakter der Wissenschaft in Betracht ziehen, und untersuchen, worin dieser Charakter liegt, und uns zum Bewusstsein bringen, dass der wahre Charakter der deutschen Physiologie und Medizin die Lebenskraft ist, und wie sich dadurch die deutschen von den Ansichten der romanischen Völker unterscheidet.

2. Diese, das Verhältnis von Leben und Tod betreffende Lebensfrage kann nur von der Naturwissenschaft gelöst werden; weil es eine ursprünglich rein naturwissenschaftliche Sache ist; die pädagogischen, praktischen, moralischen Wissenschaften müssen sie völlig gelöst vorfinden, und können das von der Naturwissenschaft hingestellte Resultat nur aufnehmen und darauf weiter bauen.

Insoweit sich die philosophischen und humanistischen Wissenschaften auf die Natur stützen, müssen sie auf die Naturwissenschaften zurückgehen; denen man daher von der andern Seite das größte Vertrauen schenkt, indem man die Lebensfragen hier auf die rechte Art gelöst zu finden hofft. Das ist der Grund, warum die Naturwissenschaften in einem so hohen Ansehen stehen, dass jetzt der ganze Zeitgeist, nicht bloß die Medizin, sondern noch mehr die Politik, die Moral, die Pädagogik, die Religion selbst, von den Naturwissenschaften, oder vielmehr von dem jetzigen Geist und den herrschenden Ansichten in der Naturwissenschaft geleitet und getragen wird. Die philosophischen und humanistischen Wissenschaften sind die Wahrheit der in den Naturwissenschaften sich vorfindenden Ansichten nicht zu prüfen und zu beurteilen im Stande; und weil diese eines unmittelbaren Vertrauens genießen, so sind darum die Naturwissenschaften in der neuesten Zeit zur herrschenden Wissenschaft überhaupt geworden, zum Träger der Aufklärung und Intelligenz. Überall geht man hier auf die Natur und die Naturwissenschaften zurück; weil man in dem, was man Naturreligion, Naturrecht, Naturmoral, wie Naturmedizin nennt, die allgemeine Wahrheit zu finden hofft.

Auf diese Weise geschieht es, dass sich in der Moral, in der Politik, in der Religion selbst, die in den Naturwissenschaften herrschenden Ansichten abspiegeln, dass wir die Wirkungen z. B. der materialistischen Theorien der physikalischen und mechanischen Physiologie in den politischen und sozialen Theorien fühlen müssen.

Es ist nun aber leicht ersichtlich, dass wenn diese Fragen von dem herrschenden System der Naturwissenschaften auf irrige Weise gelöst und dargestellt sind, die darauf bauenden philosophischen und humanistischen Wissenschaften getäuscht werden, indem die Irrtümer der Naturwissenschaften sich auf sie übertragen, welche nur sichere, ausgemachte Wahrheiten der Natur zu finden hofften. So können die Naturwissenschaften, wie segenbringend, auch verderblich auf die menschliche Bildung wirken. Die schädlichen Wirkungen irriger naturwissenschaftlicher Ansichten werden sich indessen in der Medizin weniger, viel mehr aber in den philosophischen und humanistischen Wissenschaften geltend machen; weil die Ärzte durch ihre Sachkenntnis dagegen mehr geschützt sind, und durch den darauf sich stützenden praktischen Takt gewarnt, in den irrigen Konsequenzen selten zu weit gehen; während die philosophischen und humanistischen Wissenschaften, welche die Irrtümer der Naturwissenschaften weniger zu entdecken geeignet sind, auf dem von naturwissenschaftlichen Irrtümern betretenen Wege, weil sie ihn ungeprüft für sicher halten, viel leichter ins Verderben geraten, wie wir es in der Moral und Politik hinreichend zu sehen Gelegenheit haben. Doch ist die Medizin von den Wirkungen irriger naturwissenschaftlicher Ansichten nicht ausgeschlossen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung