Das Kosten und Schätzen der Weine

In neuester Zeit ist ein französisches Werk von Dr. J. Guyot über die Kultur des Weinstockes und Behandlung des Weines erschiene. Da der Verfasser als ein wissenschaftlich gebildeter und erfahrener Praktiker, bekannt ist, entnehmen wir dem Werke Folgendes über Kosten und Schätzen der Weine:

Der Wein ist bei seiner Schätzung von zweifachem Standpunkte aus zu beurteilen, vom rein sinnlichen und vom rein physiologischen. Die sensuelle Schätzung des Weine? bezieht sich auf drei unserer Sinneswerkzeuge: das Auge, die Nase und den Mund.


Der Wein beurteilt nach dem Aussehen. Der Wein erscheint dem Auge gefällig durch seine Klarheit und durch seine Farbe, sei er rot, gelb oder weiß, immer soll er vollkommen klar und von freier Farbe sein; kein Ton von gutem Weine ist falsch, selbst in einem sehr hohen Alter. — Kann man auch nicht entschieden aussprechen, daß ein Wein gut ist. wenn sein Aussehen verführerisch, so kann man immerhin sagen, daß er nicht gut ist oder wenigstens nicht im besten Zustande sich befindet, wenn seine Durchsichtigkeit und seine Nüancirung zweifelhaft ist. Entschiedene Farbe und Klarheit sind günstige Zeichen, aber keine Bürgschaften; die entgegengesetzten Eigenschaften jedoch deuten auf wesentliche Gebrechen im Weine.

Der Wein beurteilt nach dem Geruche. Die zwei Bouquets des Weines. — Der Wein offenbart sich durch zweierlei Arten von Geruch oder Bouquet dem äußerlichen Geruchssinne. Die erste ist der allgemeine und allen Weinen zukommende, wenn gleich spezielle, eigentümliche Geruch; er ist um so stärker, je jünger der Wein, immer aber ist er unzertrennlich, mit gutem Weine verbunden und charakterisiert ihn, so alt er auch sein mag. Dieses erste Weinbouquet scheint in dem ausströmenden Geiste seinen Sitz zu haben, welcher ein aufgelöstes, mehr oder weniger starkes, mehr oder weniger charakteristisches Pflanzenöl in sich birgt; dieses Bouquet ist ein Zeichen reeller Qualität des Weines; es ist im Allgemeinen während der ersten Jahre sehr stark und strömt leicht aus; verfeinert, tritt aber langsamer aus, je nachdem der Wein älter wird. Die zweite Gattung von Aroma entwickelt sich im Gegenteil erst mit dem Alter und dürfte der Reaktion der Weinsäuren auf den Geist zuzuschreiben sein, einer Reaktion, welche gewisse ätherische Verbindungen festsetzt; dieses Bouquet, mag es mehrerer minder angenehm sein, zeigt nichtsdestoweniger eine der Zuträglichkeit und Haltbarkeit des Weines wenig günstige Zersetzung an. (?) Kein Wein verdankt seinen guten Ruf dieser zweiten Art von Bouquet, und das so bekannte und mit Recht so geschätzte Bouquet der feinen Bordeauxweine gehört gänzlich der ersten Gattung an, der einzigen, die man im Allgemeinen in Betracht ziehen soll.

Die Weine haben nicht hauptsächlich dem Auge und dem Geruchssinne gefällig zu sein. Das Aroma ist wie die Farbe ein günstiges oder ungünstiges, angenehmes oder unangenehmes Zeichen, aber der Wein ist vor Allem ein nährendes Getränk; es ist wohl sehr gut und günstig. wenn Auge und Geruch nebenbei geschmeichelt werden, aber kindisch, ja lächerlich wäre es, sich einzig und allein mit dem schönen Aussehen und dem angenehmen Bouquet zufrieden stellen und behaupten zu wollen, die Vorzüglichkeit eines Weines gründe sich fast ausschließlich auf die Befriedigung dieser zwei Sinneswerkzeuge und manchmal bloß eines derselben. Ich mache absichtlich diese Bemerkung; ich habe viele Leute gesehen, welche bis ins Lästigste in ihre Gäste drangen, sie mögen die Weine betrachten, bewundern und insbesondere beriechen, und nicht nur die Weine, sondern auch die leeren Gläser. Farbe und Geruch sind indessen nur zwei Introductions-Noten eines gastronomischen Themas; stehen sie allein, so haben sie keinen relativen Wert mehr.

Der Wein beurteilt nach dem Geschmacke. — Bevor ich über den Eindruck des Weines auf den Geschmacksinn spreche, muss ich voranschicken, daß dieser der einzige Sinn in dem animalischen Organismus ist, welcher einen doppelten Wahrnehmungsapparat hat, den einen an der Spitze und an den Rändern der Zunge, den andern an der Basis dieses Organs und an dem Hinteren Teil des Gaumens. Der erste empfindet den Säure- oder elektro-positiven Geschmack durch die zwei Zungennerven und der andere den alkalischen oder elektro-negativen vermittelst der zwei Nerven am Schlunde. Der Geschmack, welchen sowohl bei Getränken, als auch bei Speisen der vordere Teil des Mundes empfindet, ist nicht derselbe, welchen der Hintere Teil des Mundes wahrnimmt; ein alkalisches Salz, zum Beispiel, erzeugt im Vordermunde einen sauren, zusammenziehenden, salzigen oder zuckerartigen, im Hinteren Teile des Mundes aber einen basischen, bitteren, seifigen Geschmack.

Kosten im eigentlichen Sinne. — Wird der Wein in den Vordermund geführt, Kopf und Gesicht gegen den Boden geneigt, so lässt er den Rändern und der Spitze der Zunge seinen saueren süßen und zusammenziehenden Geschmack sogleich spüren. Alle diese in ein Ganzes vereinigten Nüancen sollen dem Organe gefällig sein und weder die Säure, noch den Zucker, noch das Adstringirende vorherrschen lassen. Wird der Kopf wieder erhoben und nach rückwärts geführt, so gelangt nun der Wein in den hinteren Teil des Mundes, wo man ihn dann durch ein leichtes Gurgeln zurückhält; dort ist es, wo die alkoholische Stärke oder Schwäche, der Erdgeschmack, das zuwidere Salzige, Bittere und der Fassgeschmack sich verspüren lassen. Gefällt das Ensemble der Geschmackswirkungen bei Abwesenheit jedweden unangenehmen Eindruckes, so muss man, um das Auskosten des Weines vollkommen zu Ende zu bringen, den Wein nicht ausspucken, sondern ihn verschlucken, denn sobald als der Wein die Basis der Zunge, dem hinteren Teil des Gaumens passiert hat, steigt ein hervorstechender, deutlich ausgeprägter Geruch aus dem Schlunde in den Nasenhöhlen auf, welcher neue und mächtigere Entdeckungen als das äußere Duften bezüglich der Qualität oder der Gebrechen des Weinbouquets herbeigeführt; ja die letzte Berührung des Weines mit den Schleimhäuten des Schlundes und der Zunge lässt einen langen Eindruck des Geschmackes zurück, dessen angenehme oder unangenehme Empfindung mit dem Ausdruck „Nachgeschmack“ bezeichnet wird.

Der gute und schlechte Wein durch die Sinne beurteilt. — Ist ein Wein vollkommen klar und von freier Farbe, ist sein Geruch lieblich, das Ensemble von Säure, Süßigkeit und Adstriction dem Vordermunde gefällig, und zwar in Form einer Verschmelzung, welche einen einzigen Geschmack zu bilden scheint, gleichsam wie mehrere Noten einen vollkommnen Akkord geben; fügt diesem ersten harmonischen Eindrucke der hintere Teil des Mundes die Empfindung des Feuers und der Reichhaltigkeit des Weines hinzu, ohne daß der Alkohol sich dabei charakterisiert; setzt endlich das Verschlucken durch ein natürliches Bouquet, ohne irgend welchen widrigen Nachgeschmack dem Ganzen die Krone auf, so ist der Wein, vom sinnlichen Standpunkte beurteilt, gut. Er ist mangelhaft, wenn er gegen einen einzigen Punkt verstößt, und ist um so weniger gut, je mehr sich seine Säure, sein Zucker und seine Salze isolieren und an der Spitze der Zunge unterscheiden, je mehr seine Kälte und seine Geschmacklosigkeit, seine öligen Bestandteile, sein Erd- und Fassgeschmack und insbesondere das isolierte Vorstechen des Alkohols sich an der Basis kundgeben, je weniger lieblich und anhaltender sein Nachgeschmack ist.

Schwierigkeit, sich über den Geschmack zu verständigen. — Unmöglich dürfte es sein, sich über die verschiedenen Geschmackswirkungen der Weine zu verständigen, so lange die Wissenschaft nicht Bezeichnungen oder Repräsentativ-Wörter in Bezug auf Kraft, Ton und harmonischen Zusammenhang begründet haben wird, und es wäre daher eine Sammlung aller Ausdrucksweisen, deren sich Weinkoster, Weinhändler, Weinreisende, Liebhaber und Andere bedienen, nicht ohne Nutzen. Ei gibt Leute, die meinen, guter Wein müsste einen Pfauenschweif im Munde machen und andere sagen, es schlüpfe ein Stück Samt durch die Kehle.

Physiologische Wirkungen der Weine.— Die physiologischen Wirkungen des Weines bieten weniger Unsicherheit in Bezug auf seine Schätzung. Magen, Muskeln, Herz und Kopf sitzen da zu Gericht. Mag ein Wein dem Auge, der Nase, dem Munde geschmeichelt haben, einen Pfauenschweif machen, mag er durch inneren Geruch ergötzen und im Schlunde wie eine Elle Samt hinabgleiten, — bezahlt man diese flüchtigen Genüsse mit Verdauungsbeschwerden, mit Unterleibsschmerzen, mit einer Abspannung in den Muskeln, mit einer Schwere im Kopfe und einem mehrstündigen Übelbefinden, fürwahr, dann hat man das zwar teuer erkaufte, aber desto besser begründete Recht, zu erklären, daß der Wein nicht gut ist! Ein bloßer Zuschauer bei einem Madle kann die getrunkenen Weine noch während der Tafel aus der Beobachtung der Gäste beurteilen. Wenn der Amphitryon*) zahlreicher Gäste derben Streit sich entspinnen sieht, der am Ende noch ausartet, wenn anstatt einer lebhaften und ungezwungenen Fröhlichkeit, anstatt geistreicher Witze und allgemeiner Zutraulichkeit, welche gute Weine veranlassen, ein düsteres Schweigen, plumpe und rohe Scherze die einzigen Kundgebungen seiner Gäste sind, dann kann dieser Amphitryon sich schmeicheln, daß seine Weine nichts taugen, und er mag sich beeilen, bessere zu suchen, wenn ihm daran liegt, an seiner Tafel Witz, Herzlichkeit und Fröhlichkeit glänzen zu lassen.

Der Wein ist relativ und nicht absolut gut. Man muss vor Allem gute gewöhnliche Weine schaffen. In sinnlicher, insbesondere physiologischer Beziehung ist der Wein nicht absolut gut; ein guter Wein ist gut, je nach dem Gebrauche, den man von ihm machen kann und will. Ein ausgezeichneter Ausstich- oder Dessertwein wird abscheulich als gewöhnliches Getränk. Nicht ohne Grund unterscheidet man dabei die Weine in gewöhnliche Tisch-, Entremets- und Dessertweine, die man auch als Weine für kleine, mittlere und große Gläser unterscheiden könnte. Ein gutes Omelette ist gut, wenn man wenig und selten davon isst; aber als gewöhnliches Essen und in größerer Menge ist das Brod ungemein besser und wird auch von Jedermann vorgezogen. Es erscheint also rätlich, mehr ordinäre gute Weine als Ausbrüche zu schaffen. Der ordinäre gute Wein, der Nährwein — denn der Wein ist ein wirkliches und ausgezeichnetes Nährungsmittel — ist durchaus nicht ein geiststarker, auch kein Wein von hohem Alter: er ist ein Wein von vorzüglichen Reben, der nicht 10 Prozent „Geist“ übersteigt und nicht unter sechs enthalten darf. Unter zwanzig Produktionsjahren können mindestens fünfzehn — gute ordinäre Weine produzieren; diese Weine sind schon vom zweiten Jahre an ein vollkommen gesundes Getränk und können vier bis fünf Jahre aushalten; sie werden aber schlecht und für den großen Verbrauch nicht beliebt, wenn man sie künstlicher Weise auf die Stärke der Entremetsweine, nämlich von 10 Prozent auf 14 Prozent Alkohol bringen will. Der Wein, welcher über seine Kräfte Alkohol enthält, assimiliert sich nicht im Körper; er berauscht nur auf lästige Weise, ohne zur Verdauung beizutragen. Mögen daher Produzenten und Händler von dem Vorurteile ablassen, die Qualität des Weins beruhe nur in seinem Gehalte an Alkohol.

*) Amphitryon ist eine Tragikomödie in drei Akten von Heinrich von Kleist, die im Sommer 1803 in Dresden entstand.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Landwirtschaftliche Miscellen aus dem Jahr 1862