Die Sturmfluten der Ostsee.

Vor der ewig drohenden Gefahr hereinbrechender Sturmfluten ist der größte Teil der Ostseeküste sicher, nur der westliche Teil der Küste von Swinemünde bis Schleswig kann von Sturmfluten wirklich schwer heimgesucht werden; aber es fehlt, hier deren Bundesgenosse, die Ebbe und Flut, und es müssen schon selten vorkommende, meteorologische Verhältnisse eintreten, die es vermögen, solche furchtbaren Sturmfluten zu erzeugen wie sie die Nordsee nur zu häufig aufzuweisen hat.

Die gefährlichen Stürme für die Ostseeküste sind die Nord- oststürme, also solche, die von Minima herrühren, welche sich südlich von der Küste befinden. Derartige Minima ziehen, wie unter Abschnitt „Stürme“ näher ausgeführt worden ist, entweder mit östlichem Kurs, vom Kanal quer durch Deutschland oder mit nördlichem Kurs vom Adriatischen Meer nach dem Finnischen Meerbusen ihre Bahn. Der Nordoststurm treibt dabei das Wasser in die flachen und engen Gewässer der westlichen Ostsee gegen die pommersche, mecklenburgische und schleswig-holsteinische Küste und in ganz extremen Fällen staut er es an den Küsten so hoch auf, dass es denselben verderblich werden kann; aber dank ihrer günstigeren Formation, der hohen Ufer oder, wo diese fehlen, der Dünenbildungen, haben die Ostsee-Sturmfluten den Ufern auch noch nicht den 20. Teil an Land zu entreißen vermocht als es die Nordsee-Sturmfluten getan haben, Tod und Elend haben sie aber doch in Überfülle mit sich geführt.


Seit geschichtlicher Zeit sind es hauptsächlich vier große Fluten, die über die große Anzahl kleinerer hervorragen. Die erste von ihnen fand am 1. November 1304 statt; von ihr berichtet die Stralsunder Chronik:
„Im J. 1304 umma alles Godes hilligen weyede so ein groth stormwind, nicht gehört bi minschen thiden, Böme uth de erden, Dörpe, möhlen umme un mackede so groth water umme dit land, datt dat nye Deep uthbrack; und tho gande von einem lande up dat andere, dat was water“ (oder: „Im Jahre 1304 um alles Gottes Heiligen wehte ein so großer Sturmwind, nicht gehört bei Menschen Zeiten, Bäume aus der Erde, Dörfer, Mühlen um und machte so großes Wasser um das Land, dass das Neue Tief (Landtief südlich von Mönchgut) ausbrach; und das Ganze von einem Land (Mönchgut) auf das andere (Rüden) das war Wasser.“) — Die Karte zeigt uns heute einen Zwischenraum zwischen beiden von etwa einer deutschen Meile.

Die zweite große Flut hat 1625 stattgefunden. Von ihr berichtet ein Augenzeuge, Johannes Stein, Prediger zu Rostock „dass am 10. Februarii,, auf den Nachmittag um 12 Uhren das Wasser nicht allein ganz plötzlich und unvermutet sehr hoch gewachsen, sondern auch, dass bald darauf sich ein erschröckliches und unerhörtes Ungestüm durch einen gewaltigen und starken Nordosten-Sturmwind erhoben und dermaßen mit unaufhörlichem Sausen und Brausen, so mit scharfen Schnee und Schlossenregen vermischt gewesen, angehalten und herein geschlagen, dass dadurch nicht allein an der See und zu Warnemünde, sondern auch allhie zu Rostock trefflicher großer Schaden geschehen,“ usw.

Dass dieser Schaden die ganze westliche Ostseeküste betroffen, zeigen viele Überlieferungen. — In Pommern sah sich die hohe Obrigkeit, und das will für die damalige Zeit viel sagen, im folgenden Jahre sogar gemüßigt „etlichen Commissariis die Besichtigung der Örter anzubefehlen, da zu unterschiedenen Mahlen die Wasserfluten merklichen Schaden getan, die da sollten alles in Augenschein nehmen und ferner an die Hand geben, wie dem ferner großen Unheil kann vorgebauet werden.“ — Geschehen ist aber anscheinend nichts, das musste erst Preußens starker Wille und starker Arm, mit dem vorigen Jahrhundert beginnend, besorgen.

In das 17. Jahrhundert, auf den 10. und 11. Januar, fällt noch eine zweite große Flut, die ihre Vorgängerin an Höhe noch um ein Geringes übertroffen hat. — Am blauen Turm zu Lübeck sowie am Amtshause zu Travemünde sind alle Wasserstandsmarken der großen Sturmfluten gewissenhaft verzeichnet worden. Danach war die Flut von 1625 — 2,804 m über dem mittleren Meeresspiegel, die von 1694 aber noch um 2 cm höher.

Beide werden aber noch weit übertroffen von der größten und furchtbarsten Sturmflut, die die Ostseeküste in geschichtlicher Zeit überhaupt betroffen hat, nämlich der Flut vom 12. und 13. November 1872, die eine Höhe von 3,38 m, also noch 56 cm mehr als 1694, erreichte. Übrigens ist diese größte aller Ostseefluten noch um 2 m niedriger gewesen als die vom 12. und 13. März 1906 in der Nordsee. Die meteorologischen Vorgänge während derselben sind so eigenartige, dass eine kurze Beschreibung von Interesse sein dürfte.

Der verhängnisvolle Nordostwind setzte bereits am 10. November in dem mittleren Teil der Ostsee, anfänglich in geringer Stärke ein, dehnte sich am nächsten Tage nach beiden Seiten über die ganze Küste aus, an Heftigkeit mehr und mehr zunehmend. Am 12. herrscht überall Sturm. Das westliche Ostseebecken beginnt sich zu füllen, das Wasser steigt langsam bis 1 m über mittleren Wasserstand.

Um Mitternacht den 12. weht auf dem Gebiet von Colberg bis zur holsteinischen Küste ein furchtbarer Orkan, der seine größte Stärke bei Rügen um 8 Uhr morgens den 13. erreicht. Zur selben Zeit liegt das Minimum über Sachsen mit einer Tiefe von 745 mm, während ein selten hohes Maximum von 785 mm über dem nördlichen Schweden sich erstreckt. Der große Unterschied der Barometerstände von 40 mm sowie die geringe Entfernung zwischen Maximum und Minimum machen die Heftigkeit des Sturmes nur zu erklärlich. — Die Wetterlage um diese Zeit ist aus der Wetterkarte 7 im Anhang ersichtlich und bedarf keiner Erklärung.

Im weiteren Verlauf, und dies dürfte das seltsamste an dem ganzen Naturereignis sein, schlug das Minimum die ungewöhnliche Bahn von Osten nach Westen ein, um im Biskaischen Meerbusen zu verschwinden. In welcher Weise die Wassermassen durch den Sturm aus dem östlichen Teil der Ostsee in den westlichen getrieben worden sind, zeigen folgende Angaben.

Bei Windau in Kurland sank das Wasser durch den Sturm um 0,81 m, bei Memel um 0,42 m unter Mittelhöhe.

Die Grenze zwischen Steigen und Fallen lag etwa bei Pillau, wo der Wasserstand sich nicht änderte. Von da ab nach Westen zu beginnt das Wasser mehr und mehr zu steigen und zwar

bei Stolpmünde um 0,55 m über Mittel
bei Swinemünde um 1,40 m über Mittel
bei Thiessow um 2,20 m über Mittel
bei Wismar um 2,98 m über Mittel
bei Travemünde um 3,32 m über Mittel
bei Kiel um 3,17 m über Mittel
bei Flensburg um 3,31 m über Mittel
bei Schleimünde um 3,20 m über Mittel
bei Alvösund um 3,50 m über Mittel

Eine Beschreibung des menschlichen Elends, das die Flut an unseren Küsten verursacht hat, mag unterbleiben. Die Berichte lesen sich genau wie die von den Sturmfluten an der Nordseeküste. Die direkten Beschädigungen der Ufer erstreckten sich auf Wegspülen der Vordünen und teilweisen Abbruch der größeren Dünen, Abbruch der hohen Ufer, besonders der Tonufer bei Groß-Horst in Pommern sowie in Schleswig-Holstein, schließlich auf Wegreißen der niedrigen Deiche und Dämme, wo solche vorhanden.

Seitdem sind große Sturmfluten in der Ostsee nicht mehr vorgekommen, kleinere eine ganze Anzahl. So wurde im März vorigen Jahres, 10 Tage nachdem die Nordsee auf ihrem Gebiet auf ihre Weise Deichschau gehalten, auch den Bewohnern der westlichen Ostseeküste eine leise Warnung zuteil.

Am 23. März nämlich zog, ähnlich wie am 12: Nov. 1872, ein Minimum seine seltene Bahn von Italien nach Norden bis zur Ostsee in der Nähe von Swinemünde, um dann nach Osten abzubiegen. Während dessen lag nördlich von Schottland ein Maximum von 770 mm; dasselbe schritt aber nicht weiter nach Osten, sondern verflachte sich, und diesem Umstand ist es vielleicht zu verdanken, dass aus starkem eisigen Nordostwind nebst Hochwasser nicht ein gefährlicher Sturm mit Sturmflut geworden ist. Am 23. betrug der Unterschied zwischen Maximum und Minimum 35 mm, also nur 5 mm weniger als 1872 bei ungefähr gleicher Entfernung von dem Maximum.

Über die Wirkung, die das Minimum auf das Meeresniveau ausgeübt, geben folgende beiden Telegramme Aufschluss: Kiel, den 24. März: „Infolge des Oststurmes ist Hochwasser eingetreten, das auf 1 m über dem Normalstand angewachsen ist. Die Landungsbrücken sind überschwemmt. Die Kriegsschiffe haben die Übungsfahrten eingestellt“. Ferner aus Lübeck vom selben Tage: „Seit letzter Nacht wütet hier ein heftiger Schneesturm, Kanonenschüsse kündigten heute eine Sturmflut an und forderten die Bewohner der niedrig gelegenen Stadtteile auf, ihre Wohnungen zu räumen. Die Trave ist stellenweise über ihre Ufer getreten.“ — Im östlichen Deutschland hat dies Minimum, ebenso wie die meisten anderen, die eine ähnliche Zugstraße ziehen, Schneestürme und schwere Verkehrsstörungen hervorgerufen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und See. Unser Klima und Wetter