Der Kampf gegen die Sturmfluten

Seit mehr denn einem Jahrtausend herrscht ein erbitterter Kampf zwischen den gierigen Meeresfluten und dem Menschen. Seit zwei Jahrhunderten ist letzterer, trotz mancher Niederlagen, Sieger geblieben, denn mögen die Inseln und Halligen seitdem auch immer mehr zusammengeschrumpft sein, am Festlande ist dafür umso mehr Land wiedergewonnen worden. — Unsere Verteidigungsmittel sind die Erdwälle, die Deiche, unsere Angriffswaffe die Buhnen und Dämme, die der Strömung die Wege weisen und das Wasser zwingen, seine festen Bestandteile auf den Grund sinken zu lassen. Dem ewig wachsamen Feind gegenüber heißt es aber ebenfalls auf der Hut sein und die Waffen scharf und widerstandsfähig zu erhalten. Ein Nachlassen hierin hieße das Leben von vielen Tausenden von Menschen gefährden und unendliches Elend heraufbeschwören und deshalb ist es kein Wunder, dass seit uralten Zeiten auf Instandhaltung der Deiche mit drakonischer Strenge gehalten wird. Wer seine Pflichten hierin vernachlässigte, verlor sein Land nach dem kurzen Rechtsgrundsatz:
„De nich will diken, mot wiken“.

Wer den Deich beschädigte, dem wurde nach dem Stedinger Deichrecht von 1424 die Hand abgehauen. Wer ihn vernachlässigte, sodass dadurch ein Deichbruch verursacht worden war, wurde lebendig zusammen mit Steinen und Balken seines Hauses in der Deichlücke begraben, um gewissermaßen im Tode seine Pflicht nachzuholen. — Fluchen und Schimpfen in der Nähe des Deiches wurden hart bestraft; der Deich galt überhaupt in gewisser Beziehung als geheiligt und gewährte eine Art Asylrecht.


Einige Überreste des alten Deichrechts haben sich noch bis auf den heutigen Tag erhalten, so die Verpflichtung der Bewohner zu Deicharbeiten, ferner die sogenannte Deichschau durch Beamte und Deichgeschworne im Herbst und Frühjahr jeden Jahres mit daran sich anschließenden Festessen.

Wie sich der Kampf zwischen Sturmfluten und Deich in Wirklichkeit abspielt und hierbei der Deich schließlich unterliegen kann, zeigt uns folgende Stelle eines offiziellen Berichts über die Beschädigungen der Sturmflut 1872. Es heißt dort von dem Deich der Insel Zingst: „Solange die Flut die Deichkrone nicht überschritt, haben die Deiche trotz ihrer leichten Konstruktion bei 1,25 m Kronenbreite sich wehrfähig behauptet. Mit der Überflutung dagegen wurde die Krone und die Binnenböschung zerstört und hiermit der Fall des Deiches eingeleitet. Der Deich hatte vorher für die Passanten einen bequemen Fußweg auf seiner Krone geboten, sodass die Grasnarbe auf derselben vielfach abgestorben war und gerade diese Punkte waren es, bei denen die Überflutung die ersten Zerstörungen anrichtete, während anderwärts ganze Deichstrecken wohlerhalten geblieben sind.“

Ähnlich wie die kleinen Deiche am zahmen Ostseestrand von dem Andrang der Wogen besiegt werden können, ist dies auch mit den Deichriesen an der Nordsee gegen allerdings viel schlimmere Gewalten der Fall. Auch hier kommt es darauf an, ob, wenn das Wasser die Deichkrone erreicht hat, die obere Fläche haltbar ist oder aufweicht. An der geringsten Lockerheit des Erdbodens, an einem Mauseloch oder einem Maulwurfsgang kann dann das Leben Tausender hängen. Schon mehrfach soll in solchen furchtbaren Augenblicken das Hinwerfen einiger Steine oder Sandsäcke, ja in Ermangelung derselben sogar das Sichhinwerfen und Decken mit dem eigenen Leibe den Deich vor dem Bruch und das Land vor einer Katastrophe bewahrt haben. — Derartiges klingt fast wie ein Märchen, wenn man die Dimensionen der Deiche an der Nordsee sieht, die je nach ihrer Lage eine Höhe von 15—30 Fuß erreichen und an ihrem unteren Teil mindestens doppelt so stark sind.

Und doch ist es nicht allein die Krone, wo der Deich verwundbar ist, sondern er ist es auch trotz seiner enormen Dicke an den Seiten. Fehlt an der Graspanzerung ein Stück Rasen oder ist er durch Maulwurfshaufen gelockert, so reißen die Wellen sofort aus dieser Stelle die Erde heraus und es entstehen Löcher, die sich rapide vergrößern. Diesen Vorgang hat Verfasser bei der Sturmflut am 5. und 6. Dezember 1895 in Cuxhaven selbst zu beobachten Gelegenheit gehabt.

Diese Sturmflut, die Folge eines Minimums der gefährlichen Zugstraße von den Shetlandinseln nach Südosten, zeichnete sich durch ihre außerordentliche Dauer aus; sie erstreckte sich über drei Hochwasser, sodass jede neue Flut die vorher entstandenen Löcher weiter vergrößerte, trotzdem sie in der Ebbzeit mit Hunderten von Sandsäcken ausgefüllt worden waren. Erst als die Flut vorüber war, konnte zu gründlicher Ausbesserung der schadhaften Stellen geschritten werden. — Solche Deich-Reparaturen geschehen nach uralt hergebrachter Weise und sind so einfach wie möglich. Die Löcher werden mit Erde ausgefüllt und festgestampft und dann benäht oder bestickt, wie die technischen Ausdrücke hierfür lauten. Zu diesem Zweck wird Stroh oder Schilf in schmalen Bündeln neben und über einander gelegt und mit einer Art Klammer, den sogenannten Deichnadeln, am Boden befestigt. An der glatten Fläche gleiten dann die Wellenkämme entlang ohne das Erdreich herausreißen zu können. Wer im Winter die Deiche sieht, kann an ihrer Außenseite häufig derartige Stellen, die sich genauso wie drauf gesetzte Flicken ausnehmen, bemerken; sie werden bei Eintreten besserer Jahreszeit durch eine Grasnarbe ersetzt.

Wie lange die Nordseeküste durch die Deiche, den goldenen Reif, wie sie der hohen Kasten wegen auch genannt werden, bereits gegen die See verteidigt wird, weiß man nicht, die Ansichten gehen hierüber weit auseinander. Die einen nehmen an, dass schon zur Römerzeit hier und dort Deiche aufgeführt worden sind und beziehen sich auf die Berichte von Tacitus, wonach Drusus bereits 9 Jahre vor unserer Zeitrechnung am Rhein Dämme gebaut hat. Andere behaupten nach alten Überlieferungen, dass ein König Adgil die Friesen im siebenten Jahrhundert den Deichbau gelehrt habe; wieder andere, dass erst im 10. Jahrhundert oder noch später mit dem Deichschutz begonnen wurde. Aus dem dreizehnten Jahrhundert berichtet uns eine Chronik, dass die Deiche noch so niedrig gewesen seien, dass man habe darüber hinwegsehen können, sie dürften also etwa von der Größe unserer jetzigen Sommerdeiche gewesen sein.

Jedes Jahrhundert hat die Deiche mächtiger gemacht bis schließlich die heutigen Deichriesen entstanden sind, ein Menschenwerk, gegen das die Pyramiden, die chinesische Mauer, der Suez-Kanal, die Nildämme und der Mont-Cenis-Tunnel weit zurückstehen. Eine absolute Sicherheit bieten sie aber trotz alledem nicht, das hat uns nur zu sehr die Sturmflut im vorigen Jahre gelehrt. Sie würden dem Anprall der Wogen auch längst unterlegen sein, wenn sie nicht an den vorliegenden Inseln und Watten einen vorzüglichen Schutz hätten, die die Gewalt der anstürmenden Wellen brechen und für die Küste ungefähr dasselbe bedeuten, was die Außenforts für eine Festung sind. Aus diesem Grunde, also nicht nur der Inseln selbst wegen, wird auch alles darangesetzt, die Inseln zu erhalten; ferner wird vor den Deichen durch Buhnen und Dämme weiteres Vorland zu schaffen gesucht, das später, sobald es sich mit einer Grasnarbe bezogen hat, zunächst durch kleinere Deiche, Sommerdeiche, eingepoldert wird. Neuerdings werden auch verschiedene Halligen unter einander sowie mit dem Festlande verbunden, ein Werk, dass Hunderttausende kostet, sich aber durch die stärkere Anschlickung und den vermehrten Deichschutz durchaus lohnt.

All diese Arbeiten sind seit Entstehung des deutschen Reiches mit großartiger Energie in Angriff genommen worden und mit Faust kann der deutsche Michel stolz sagen:

„Eröffn‘ ich Räume vielen Millionen
Nicht sicher zwar, doch tätig frei zu wohnen;
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-ems'ge Völkerschaft,
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.“ —

Oder sollte all die Arbeit doch schließlich vergeblich sein, die Küste noch weiter versinken und Mephisto mit den Worten Recht behalten? —

„Du bist doch nur für uns bemüht
Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen;
Denn du bereitest schon Neptunen,
Dem Wasserteufel, großen Schmaus.
In jeder Art seid Ihr verloren;
Die Elemente sind mit uns verschworen,
Und auf Vernichtung läuft's hinaus.“

Für die nächsten Jahrhunderte tut es das jedenfalls nicht und die Köpfe für unsere Nachkommen im 50. Glied und darüber brauchen wir uns nicht zu zerbrechen, zumal bis dahin andere geologische Verhältnisse eingetreten sein können. Vielleicht sinkt dann die skandinavische Küste wieder zurück in das Meer, die sich jetzt noch hebt, und die Nordseeküste steigt wiederum empor, Kulturstätten wieder, an das Tageslicht bringend, die Jahrtausende hindurch von den Fluten begraben waren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und See. Unser Klima und Wetter