9. Volkskommissar (1919)

Eines Morgens lag auf meinem Kaffeeersatztisch eine unfrankierte Postkarte folgenden Inhalts:

Genosse!


Wie wir hören, sind Sie kürzlich umgezogen. Wären Sie bereit, Ihre Fachkenntnisse in den Dienst der guten, der besten Sache zu stellen und das Volkskommissariat für Transportkrisen zu übernehmen?

Mit internationalem Handschlag

Blaukraut

Vorsitzender

im Rat der Volkskommissäre.

Aha! dachte ich. Da haben wir nun also die Revolution. Sie, die langersehnte, ist plötzlich über Nacht, unverhofft wie eine Eierkiste aus Holland, eingetroffen. Und ich, gestern Abend noch kaisertreu bis in die Knochen, die andere Leute für mich zu Markte trugen, war heute zu einem der führenden neuen Männer auserkoren.

Ich schrie: Emmchen! (Womit ich nicht meine Hunderttausend, sondern die Eine, Einzige, meine Haushälterin Emmi meinte) und befahl ihr, aus dem roten Rande meines Kriegervereinstaschentuches, auf dem die Schlacht bei Sedan abgebildet ist, eine rote Revolutionsrosette unverzüglich zu verfertigen. Mit dieser geschmückt, eine alte Radfahrpelerine, die ich vom Boden holte, lässig umgeschlungen, begab ich mich, also proletarisiert, in das Staatsgebäude. Blaukraut, ein früherer Hausbursche von mir, empfing mich jovial. Er schlug mir auf die Schulter und schrie: „Na, was sagen Sie dazu? Wie haben wir das Ding gedreht ? Der Unmut, der Mehr-als-Mut, der Über-mut des Volkes hat die Tore der Freiheit gesprengt. Freiheit, die ich meine! Freiheit, die ich meine! Gesinnung, das ist jetzt die Hauptsache. Wer die nicht hat, wird um die erste Silbe kürzer gemacht. Ein soziales Gewissen! Na, das haben Sie ja an mir bewiesen! Menschlichkeit! Es gilt die Sozialisierung der Seelen.“

Mir wurde das Hotel Monopol als Bureaugebäude zugewiesen. 120 Zimmer standen mir zur Verfügung.

Ich saß in einem tiefen Klubsessel des Zimmers Nr. 1 und drückte auf einen Knopf. Mein Obersekretär erschien, ein ehemaliger Seiltänzer.

Ich befahl ihm, sofort sämtliche Züge im gesamten Deutschen Reich anhalten und stille stehn zu lassen. Die armen Lokomotivführer sollen auch einmal ihre Ruhe haben. Seit meiner Kindheit gehörte nebst den Ammen meine größte Sympathie den Lokomotivführern.

Ich musste mit meinem sozialen Gewissen doch Ehre einlegen — dauernd, wie Kalkeier.

Ich drückte wieder auf den Knopf. Es erschien mein zweiter Sekretär, ein ehemaliger Bräukellner.

Ich befahl ihm, den Lebensmittelzug D 777 I, A, f. aus Ostpreußen vom Bahnhof Friedrichstraße nach dem Anhalter Bahnhof, in die Nähe meiner Wohnung, überführen zu lassen.

Leider muss ich feststellen, stieß ich mit meinen Maßnahmen nicht überall auf das erhoffte Verständnis. Die Beschwerdebesuche häuften sich. Man machte mich ganz nervös. Ich ernannte einen taubstummen Vetter von mir zum Beschwerdekommissar zwecks Entgegennahme von Beschwerden. Nach und nach bringe ich so alles in den rechten Schwung.

Was der Krieg nicht ruiniert hat, das werde ich ruinieren.

Todsicher.

Da können Sie sich auf mich verlassen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kunterbuntergang des Abendlandes