5. Im neunten Monat (1915)

Acht Monate hatte ich den Krieg getragen. Wie eine Mutter verweint und scheu ein Kind unterm Herzen trägt, das ihr ein blauhaariger Vagabund in verwünschter Notzucht aufgedrungen. Im neunten Monat hielt ich es nicht mehr aus.

Ich stieß den Krieg von mir.


Ich abortierte.

Es wurde eine Missgeburt. Ein riesenhafter wachsweicher Kopf. Eine hölzerne Brust. Und keine Beine. Nur Eisenstümpfe. Ich stopfte ihm Gräser ins Maul. Moos wuchs aus seiner Nase. Die Augen fielen wie goldene Kiesel aus ihren Höhlen. Er erstickte.

Ich wurde verrückt.

Ich ging zu einem Spezialisten für nervöse Überreizung.

Er tanzte wie eine braune Medizinflasche vor mir und ließ immerzu knallend seinen Korken springen: „Sehen Sie weiße Mäuse? Sind Sie Alkoholiker? Klettern Sie im Traum permanent an Telegraphenstangen empor? Blasen Sie das Waldhorn?“

Ich schlug dem Arzt die Hirnschale ein und floh entsetzt als ich — zu spät — bemerkte, dass er die Uniform eines Reservestabsarztes und die gelben Äskulapstäbe auf den Achselklappen trug.

Dies brachte mich auf den Gedanken, mir statt eines Spazierstockes, den ich auf meinen nächtlichen Wanderungen im Wolkengebirge und auf der von Sternen ganz verschütteten Milchstraße dringend benötigte, einen Äskulapstab zu kaufen. Übrigens: der liebe Gott sollte auf dem Himmel endlich einmal eine Chaussee bauen lassen, dass man ihn ohne Gefahr eines Genickbruches passieren kann. Wozu hat er denn seine Fremdenlegion, in der ja doch nur Teufel dienen. Höchstens, hier und da, ein Engel als Korporal. Um einen Äskulapstab zu bekommen, frug ich in 111 Geschäften nach. Niemand hatte einen Äskulapstab vorrätig, auch Tietz nicht. Und ob ich vielleicht einen dieser modernen Stöcke ohne Griff meine?

Ich war sehr erstaunt, dass es Stöcke ohne Griff gibt.

Da muss es doch auch Menschen ohne Köpfe gehen.

Ich kaufte mir Bleisoldaten, und zwar nur Kavallerie, damit ich Reiten lerne, und spielte damit.

Abends ging ich auf den Feldern vor dem Schwabinger Krankenhaus spazieren. Wenn ich eine Blume pflückte, rann rotes Blut aus ihrem Stiel. Jagte ich einem Schmetterling nach, so war es ein Totenkopffalter. Wollte ich in eine Trambahn stürzen, so erwies sie sich als Leichenwagen.

Ich malte mir ein rotes Kreuz auf die Stirn, schrie : „Christus“, und meldete mich zur freiwilligen Kranken- und Verwundetenpflege.

Ich hätte gern noch einmal ein Mädchen geliebt. Aber die Mädchen, die ich traf, hatten allesamt Glasaugen, falsche Haare aus Seetang und künstliche Gliedmaßen.

Die allerschönsten wurden in Rollstühlen gefahren und hatten keinen Unterleib. Fahr wohl, du schöne Welt, sagte ich mir und ließ mich von einer Konservenfabrik zu Büchsenfleisch verarbeiten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kunterbuntergang des Abendlandes