3. Gestellung (1915)

Obgleich ich schon längst tot bin, bekam ich eine Aufforderung, mich heim Militär zu stellen. Das verwunderte mich nicht wenig, und ich begab mich trotz dem Aufsehen, das ich in den Straßen erregte, auf das Bezirkskommando. „Entschuldigen Sie,“ klapperte ich mit meinen Zähnen und schüttelte den Knochenstaub von meinen Füßen, „hier muss ein Irrtum vorliegen. Ich hin bereits 1797 in der großen Revolution — sonderbarerweise auf dem natürlichen Wege des Erstickens an einem Putenknochen — gestorben. Und jetzt soll ich noch Militärdienste leisten? Das ist eine contradictio in adjecto.“

Der Bezirksfeldwebel musterte mich kritisch. „Große Revolution? Sie sind Sozialdemokrat.“ „Verzeihen Sie, ich bin überhaupt nicht. Dies zuvor. Ich bin gewesen...“ „Keine Wortspaltereien. Sie sind Anarchist. Negieren den Staat, den Sie zu verteidigen hätten.“ — „Herr Feldwebel, wenn man selber negiert ist, bleibt zum Negieren anderer wenig Lust und Zeit.“ Der Feldwebel runzelte die Stirne. ,,Genug. Ich philosophiere schon zu viel. Vergesse die Achtung, die ich der Realität meiner Tressen und Interessen entgegenzubringen habe. Disputiere mit Untergebenen. Sie sind geboren wann?“
„1747.“
„Jahrgang 1747? Aber Menschenskind, dann gehören Sie ja zum Landsturm letzten Aufgebots. Der Jahrgang wird schwerlich einberufen werden. Überhaupt haben Sie einen verdammt schmalen Brustkasten. Haben Sie irgendeinen bemerkenswerten körperlichen Fehler?“
„Knochenfraß!“ schrie ich und ließ gelben Staub aus meinen Rippen rinnen.
„Bisschen unterernährt sehen Sie ja aus. Sie können gehen. Warten Sie neue Order ab.“


Ich stolperte die Treppe hinunter und fiel beinahe über einen blutjungen Leutnant, den ich militärisch grüßte, weil das Vorschrift im Bezirkskommando ist. Ich sah seine junge Wange, sein blitzendes Auge, seinen strahlenden Gang, und ehe ich's mir versah, stürzte ich an seine Brust und weinte tränenlos. „Bruder,“ rief ich, „auch du wirst sterben müssen wie ich. Erbarme dich meiner und gib mir wieder Blut. Da drinnen, dein Feldwebel, donnerte Paragraphen. Setze mir Fleisch zwischen die Rippen, und ich will gerne tausendfältiges Ziel der Maschinengewehre sein. Nur eine Sekunde atmen! Sieh, ich habe keine Lungen mehr, lebe längst nicht mehr!“

Brüsk stieß der Leutnant mich von sich und klemmte das Einglas ins rechte Auge. „Sind Sie besoffen, einen kgl. preußischen Leutnant zu duzen? Drei Tage in den Kasten.“

Er winkte einer Ordonnanz. Schnell entsprang ich die Treppe hinab und eilte im Laufschritt auf den Friedhof, wo ich mich, müde von den Ereignissen des Tages und wenig gewillt, in Haft zu treten, in meinem Sarg ausstreckte und den Deckel über mir zuklappte. Mochten sie mich nun suchen. Sie werden mich schwerlich finden. Der Briefbote, der meine Sargnummer weiß, wird mich nicht verraten, denn er bekommt bei jedem eingeschriebenen Brief mit tödlicher Sicherheit ein beträchtliches Trinkgeld von mir.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kunterbuntergang des Abendlandes