2. Es war am Morgen eines regnerischen Herbstsonntags (1914)

Es war am Morgen eines regnerischen Herbstsonntages, als er dieses Buch zu schreiben begann. Er saß im Zimmer Nr. 2 des Gasthofes „Zur Post“ in Haag in Oberbayern und blickte auf den alten fünffach gespitzten Turm des Schlosses Haag, der wie ein Paket Bleistifte durch den Nebel sah. Nachdem Leni ihm gestern nacht unterm Kastanienbaum (nicht weit vom Kloster: die Zellen der Nonnen glotzten glitzernd durchs Gesträuch, hin und wieder klopften reife Kastanien auf den mit Blättern verschütteten Boden und zersprangen erschreckt) — jene merkwürdige Geschichte von den silbernen Löffeln erzählt hatte, war er nicht weiter verwundert, sie heute morgen vorm Kirchgang an der verabredeten Stelle nicht getroffen zu haben. Gewiss hatte sie sich erhängt. Oder war ihr das „Wetter zu schlecht für einen Spaziergang auf die Alm? Er zündete sich eine Zigarette an, die ihn ein wenig wärmte und schlenderte durch die glitschigen Gassen. Er sah die Leute aus der Kirche kommen. Es war schon dreiviertel 8 Uhr. Die Glocke schlug schräg, er sah zum Turm empor und sah das Wappen des Haager Schlosses: das weiße springende Pferd auf rotem Grunde. Es regnete heftiger, und er stellte sich unter den Pavillon. Ein Junge stolperte die Stufen zur Wirtschaft herauf, eine Milchkanne am Arm, stolperte und schlug in den Dreck. Er dachte an die Berge, die man heute den ganzen Tag nicht würde sehen können und an Fiete, und daß er ihr werde schreiben müssen. Er stieg zum Markte ab und schwankte, ob er nicht doch bei Lenis Eltern nachfragen solle, ob sie gestern nach Hause gekommen sei? Vielleicht würde der Vater versuchen, ihn zu ohrfeigen, und die Mutter würde mit einem Küchenbeil auf ihn eindringen. Ich möchte sie schon sehen, wie sie tot im Bette liegt: wie gelbes Glas, und die Augen sind ihr herausgetreten wie ein blauer Fluss über seine Ufer tritt. Er fragte bei Andreas Lehner, Buchdruckereibesitzer und Eigentümer des „Haager Boten“ nach den neuesten Ereignissen vom Kriegsschauplatz, kaufte ein paar Bogen weißes Papier und ein paar Ansichtskarten, von denen er eine für Fiete bestimmte, und ging in sein Zimmer, um eine Geschichte zu schreiben, welche, wie oben ersichtlich, begann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kunterbuntergang des Abendlandes