Vorwort zur ersten Auflage. 1899

Unter dem Gesamttitel „Kulturarbeiten“ erscheint im Kunstwart-Verlag eine Folge von Büchern, deren Zweck es ist, der entsetzlichen Verheerung unseres Landes auf allen Gebieten sichtbarer Kultur entgegenzuarbeiten. Sie sollen auch die ungeübtesten Augen durch stetig wiederholte Gegenüberstellung guter und schlechter Lösungen gleicher (oder ähnlicher) Aufgaben zum Vergleich und damit zum Nachdenken zwingen; ferner sollen sie auf die guten Arbeiten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufmerksam machen und so die Tradition, das heißt die unmittelbar fortgepflanzte Arbeitsüberlieferung wieder anknüpfen helfen.

Die Kultur des Sichtbaren umfasst nicht allein Häuser und Denkmäler, Brücken und Strassen, sondern auch Kleider und gesellige Formen, Forste und Viehzucht, Maschinen und Landesverteidigung. Über die Tatsache, dass sie so, wie seit fünfzig Jahren der einzelne und das Gemeinwesen sie formt, eine entsetzliche Entstellung der Physiognomie unseres Landes bedeutet, darüber sind sich heut wohl alle, die hier eine Stimme abzugeben befähigt sind, einig. Seit einer Reihe von Jahren hat eine starke Bewegung eingesetzt, die mit gewaltigen Kraftanstrengungen arbeitet, aber ihre Arbeit vorzugsweise den Luxusbedürfnissen oder doch den Bedürfnissen der Bemittelteren zugewandt hat. Bei der Gestaltung der Formen des Lebens von Stadt und Dorf verschwinden die Besserungsversuche in der ungeheuren Menge der täglichen Aufgaben so gut wie ganz. Und doch ist es höchste, allerhöchste Zeit, dass hier Bestrebungen einsetzen, die Einhalt gebieten, wenn unser Land nicht bald das rohe und freudlose Antlitz einer verkommenden Nation tragen soll, die den Sinn des Lebens zum Vegetieren entstellt. Es ist gar nicht zu ermessen, welcher geistige Schaden entsteht, wenn wir auf die Dauer die Verbindung „nützlich und hässlich“ für gewissermaßen innerlich begründet halten.


Wir sollten also bei unseren Bemühungen auf die Mithilfe von allen Einsichtigen rechnen können. Es kann aber keine gute Sache geben, die nicht alsbald ihre „Gegner“ findet. Anstatt zum gemeinsamen Werke zusammenzuhalten, sieht man die Kampfgenossen sich gegenseitig zerfleischen, so dass man manchmal meinen könnte, es käme ihnen gar nicht auf die tatsächliche Erreichung des Zieles zum Wohle der ganzen Menschheit, sondern vielmehr darauf an, nur ja selber die ersten im Wettlauf zu sein.

Es scheint mir angebracht, der Reihe von Büchern einige erklärende Worte vorauszuschicken, um den zerstörenden Folgen der Missverständnisse wenigstens bei denen entgegenzuwirken, die mit gutem Willen an sie herantreten.

Die Buchfolge „Kulturarbeiten“ wendet sich nicht an die Kreise derer, die schon mit uns für gleiche Ziele fechten. Auch von ihnen werden vielleicht einige mit Interesse die Methode beobachten, mit der ein Mitkämpfer für die gleichen Ziele eintritt; auch sie werden an der Sammlung der Reste einer bescheidenen, aber feinen Kultur ihre Freude haben können und werden sich an der beharrlichen Durchführung von Beispiel und Gegenbeispiel nicht stoßen, wenn sie sich sagen, dass auf diesem Grundsatz der ganze werbende und erzieherische Gedanke der Bücher beruht. Aber der Zweck der Veröffentlichung ist, denen die Augen zu öffnen, die noch ganz fernab stehen, denen noch nichts von der Erkenntnis dämmert, dass das Urteil unseres bewussten Anschauens nicht allein „schön und hässlich“ lautet, sondern „gut und schlecht“, in beiderlei Sinn, nämlich „praktisch brauchbar und unbrauchbar“ und „moralisch gut und schlecht“ und dass das Auge sein Urteil nicht vom Sprachdenken zu beziehen braucht, in dem wir das einzig „logische“ Denken zu erblicken gewöhnt sind. Auch das Auge vermag logische Schlüsse zu ziehen.

Die Bücher wenden sich auch nicht ausschliesslich an die, die sich „die Gebildeten“ nennen, sondern unser Wunsch ist es, das Volk zu gewinnen, den kleinen Bürger, die Bauern, die Arbeiter, diejenigen, die am nachhaltigsten an der Umgestaltung des Antlitzes unseres Landes tätig sind.

Man wird mir sagen: Die lesen doch keine Bücher. Ich meine: man muss die Bücher eben derartig unter das Volk zu bringen suchen, dass sie sie lesen können. Die Statistik unserer Volksbibliotheken spricht dafür. Im übrigen soll man doch ein anderes erreichbares Mittel sagen, mit dem man heut besser als mit billigen Büchern und Abbildungen auf breite Massen wirken kann. Natürlich, mit fortreißen kann erst die Betätigung, die dann zur Nachahmung verführt. Aber das liegt nicht in der Macht des einzelnen, und so muss ich mich damit begnügen, in Wort und Bild zur Betätigung zu überreden.

Paul Schultze-Naumburg
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kulturarbeiten - Band 1 - Hausbau