Erschütterung des Glaubens überhaupt: Die Beichte des Boscoli — Religiöse Konfusion und allgemeiner Zweifel — Streit über die Unsterblichkeit — Der Heidenhimmel — Das homerische Jenseits — Verflüchtigung der christlichen Lehren — Der italienische Theismus

Eine mächtige Quelle aller Zweifel an der Unsterblichkeit war zunächst der Wunsch, der verhassten Kirche, wie sie war, innerlich nichts mehr zu verdanken. Wir sahen, dass die Kirche diejenigen, welche so dachten, Epikureer nannte. Im Augenblick des Todes mag sich mancher wieder nach den Sakramenten umgesehen haben, aber Unzählige haben während ihres Lebens, zumal während ihrer tätigsten Jahre, unter jener Voraussetzung gelebt und gehandelt. Dass sich daran bei vielen ein allgemeiner Unglaube hängen musste, ist an sich einleuchtend und überdies geschichtlich auf alle Weise bezeugt. Es sind diejenigen, von welchen es bei Ariost heißt: sie glauben nicht über das Dach hinaus. In Italien, zumal in Florenz, konnte man zuerst als ein notorisch Ungläubiger existieren, wenn man nur keine unmittelbare Feindseligkeit gegen die Kirche übte. Der Beichtvater z. B., der einen politischen Delinquenten zum Tode vorbereiten soll, erkundigt sich vorläufig, ob derselbe glaube, „denn es war ein falsches Gerücht gegangen, er habe keinen Glauben“.

Der arme Sünder, um den es sich hier handelt, jener erwähnte Pierpaolo Boscoli, der 1513 an einem Attentat gegen das eben hergestellte Haus Medici teilnahm, ist bei diesem Anlass zu einem wahren Spiegelbild der damaligen religiösen Konfusion geworden. Von Hause aus der Partei Savonarolas zugetan, hatte er dann doch für die antiken Freiheitsideale und anderes Heidentum geschwärmt; in seinem Kerker aber nimmt sich jene Partei wiederum seiner an und verschafft ihm ein seliges Ende in ihrem Sinne. Der pietätvolle Zeuge und Aufzeichner des Herganges ist einer von der Künstlerfamilie della Robbia, der gelehrte Philologe Luca. „Ach“, seufzt Boscoli, „treibet mir den Brutus aus dem Kopf, damit ich meinen Gang als Christ gehen kann!“ — Luca: „Wenn Ihr wollt, so ist das nicht schwer; Ihr wisset ja, dass jene Römertaten uns nicht schlicht, sondern idealisiert (con arte accresciute) überliefert sind.“ Nun zwingt jener seinen Verstand, zu glauben, und jammert, dass er nicht freiwillig glauben könne. Wenn er nur noch einen Monat mit guten Mönchen zu leben hätte, dann würde er ganz geistlich gesinnt werden! Es zeigt sich weiter, dass diese Leute vom Anhang Savonarolas die Bibel wenig kannten; Boscoli kann nur Paternoster und Avemaria beten und ersucht nun den Luca dringend, den Freunden zu sagen, sie möchten die hl. Schrift studieren, denn nur was der Mensch im Leben erlernt habe, das besitze er im Sterben. Darauf liest und erklärt ihm Luca die Passion nach dem Evangelium Johannis; merkwürdigerweise ist dem Armen die Gottheit Christi einleuchtend, während ihm dessen Menschheit Mühe macht; diese möchte er gerne so sichtbar begreifen, „als käme ihm Christus aus einem Walde entgegen“ — worauf ihn sein Freund zur Demut verweist, indem dies nur Zweifel seien, welche der Satan sende. Später fällt ihm ein ungelöstes Jugendgelübde einer Wallfahrt nach der Impruneta ein; der Freund verspricht es zu erfüllen an seiner Statt. Dazwischen kommt der Beichtvater, ein Mönch aus Savonarolas Kloster, wie er ihn erbeten hatte, gibt ihm zunächst jene oben erwähnte Erläuterung über die Ansicht des Thomas von Aquino wegen des Tyrannenmordes und ermahnt ihn dann, den Tod mit Kraft zu ertragen. Boscoli antwortet: „Pater, verlieret damit keine Zeit, denn dazu genügen mir schon die Philosophen; helfet mir, den Tod zu erleiden aus Liebe zu Christus.“ Das weitere, die Kommunion, der Abschied und die Hinrichtung, wird auf sehr rührende Weise geschildert; besonders hervorzuheben ist aber der eine Zug, dass Boscoli, indem er das Haupt auf den Block legte, den Henker bat, noch einen Augenblick mit dem Hieb zu warten: „er hatte nämlich die ganze Zeit über (seit der Verkündigung des Todesurteils) nach einer engen Vereinigung mit Gott gestrebt, ohne sie nach Wunsch zu erreichen, nun gedachte er in diesem Augenblick, durch volle Anstrengung sich gänzlich Gott hinzugeben“. Offenbar ist es ein Ausdruck Savonarolas, der — halbverstanden — ihn beunruhigt. Besäßen wir noch mehr Bekenntnisse dieser Art, so würde das geistige Bild jener Zeit um viele wichtige Züge reicher werden, die uns keine Abhandlung und kein Gedicht gibt. Wir würden noch besser sehen, wie stark der angeborene religiöse Trieb, wie subjektiv und auch wie schwankend das Verhältnis des einzelnen zum Religiösen war und was für gewaltige Feinde dem letzteren gegenüberstanden. Dass Menschen von einem so beschaffenen Inneren nicht taugen, um eine neue Kirche zu bilden, ist unleugbar, aber die Geschichte des abendländischen Geistes wäre unvollständig ohne die Betrachtung jener Gärungszeit der Italiener, während sie sich den Blick auf andere Nationen, die am Gedanken keinen Teil hatten, getrost ersparen darf. Doch wir kehren zur Frage von der Unsterblichkeit zurück.


Wenn der Unglaube in dieser Beziehung unter den höher Entwickelten eine so bedeutende Stellung gewann, so hing dies weiter davon ab, dass die große irdische Aufgabe der Entdeckung und Reproduktion der Welt in Wort und Bild alle Geistes- und Seelenkräfte bis zu einem hohen Grade für sich in Anspruch nahm. Von dieser notwendigen Weltlichkeit der Renaissance war schon die Rede. Aber überdies erhob sich aus dieser Forschung und Kunst mit derselben Notwendigkeit ein allgemeiner Geist des Zweifels und der Frage. Wenn derselbe sich in der Literatur wenig kundgibt, wenn er z. B. zu einer Kritik der biblischen Geschichte nur vereinzelte Anläufe verrät, so muss man nicht glauben, er sei nicht vorhanden gewesen. Er war nur übertönt durch das soeben genannte Bedürfnis des Darstellens und Bildens in allen Fächern, d. h. durch den positiven Kunsttrieb; außerdem hemmte ihn auch die noch vorhandene Zwangsmacht der Kirche, sobald er theoretisch zu Werke gehen wollte. Dieser Geist des Zweifels aber musste sich unvermeidlich und vorzugsweise auf die Frage vom Zustand nach dem Tode werfen, aus Gründen, welche zu einleuchtend sind, als dass sie genannt zu werden brauchten.

Und nun kam das Altertum hinzu und wirkte auf diese ganze Angelegenheit in zweifacher Weise. Fürs erste suchte man sich die Psychologie der Alten anzueignen und peinigte den Buchstaben des Aristoteles um eine entscheidende Auskunft. In einem der lucianischen Dialoge jener Zeit erzählt Charon dem Merkur, wie er den Aristoteles bei der Überfahrt im Nachen selber um seinen Unsterblichkeitsglauben befragt habe; der vorsichtige Philosoph, obwohl selber bereits leiblich gestorben und dennoch fortlebend, habe sich auch jetzt nicht mit einer klaren Antwort kompromittieren wollen; wie werde es erst nach vielen Jahrhunderten mit der Deutung seiner Schriften gehen! — Nur um so eifriger stritt man über seine und anderer alter Schriftsteller Meinungen in betreff der wahren Beschaffenheit der Seele, ihren Ursprung, ihre Präexistenz, ihre Einheit in allen Menschen, ihre absolute Ewigkeit, ja, ihre Wanderungen, und es gab Leute, die dergleichen auf die Kanzel brachten. Die Debatte wurde überhaupt schon im XV. Jahrhundert sehr laut; die einen bewiesen, dass Aristoteles allerdings eine unsterbliche Seele lehre; andere klagten über die Herzenshärte der Menschen, welche die Seele gern breit auf einem Stuhl vor sich sitzen sähen, um überhaupt an ihr Dasein zu glauben; Filelfo in seiner Leichenrede auf Francesco Sforza führt eine bunte Reihe von Aussagen antiker und selbst arabischer Philosophen zugunsten der Unsterblichkeit an und schließt dies im Druck anderthalb enge Folioseiten betragende Gemisch mit zwei Zeilen: „überdies haben wir das Alte und Neue Testament, was über alle Wahrheit ist“. Dazwischen kamen die florentinischen Platoniker mit der Seelenlehre Piatos und, wie z. B. Pico, mit sehr wesentlicher Ergänzung derselben aus der Lehre des Christentums. Allein die Gegner erfüllten die gebildete Welt mit ihrer Meinung. Zu Anfang des XVI. Jahrhunderts war das Ärgernis, das die Kirche darob empfand, so hoch gestiegen, dass Leo X. auf dem lateranensischen Konzil (1513) eine Konstitution erlassen musste zum Schutz der Unsterblichkeit und Individualität der Seele, letzteres gegen die, welche lehrten, die Seele sei in allen Menschen nur eine. Wenige Jahre später erschien aber das Buch des Pomponazzo, worin die Unmöglichkeit eines philosophischen Beweises für die Unsterblichkeit dargetan wurde, und nun spann sich der Kampf mit Gegenschriften und Apologien fort und verstummte erst gegenüber der katholischen Reaktion. Die Präexistenz der Seelen in Gott, mehr oder weniger nach Platos Ideenlehre gedacht, blieb lange ein sehr verbreiteter Begriff und kam z. B. den Dichtern gelegen. Man erwog nicht näher, welche Konsequenz für die Art der Fortdauer nach dem Tode daran hing.

Die zweite Einwirkung des Altertums kam ganz vorzüglich von jenem merkwürdigen Fragment aus Ciceros sechstem Buche vom Staat her, welches unter dem Namen „Traum des Scipio“ bekannt ist. Ohne den Kommentar des Macrobius wäre es wahrscheinlich untergegangen wie die übrige zweite Hälfte des ciceronischen Werkes; nun war es wieder in unzähligen Abschriften und von Anfang der Typographie an in Abdrucken verbreitet und wurde mehrfach neu kommentiert. Es ist die Schilderung eines verklärten Jenseits für die großen Männer, durchtönt von der Harmonie der Sphären. Dieser Heidenhimmel, für den sich allmählich auch noch andere Aussagen der Alten fanden, vertrat allmählich in demselben Maße den christlichen Himmel, in welchem das Ideal der historischen Größe und des Ruhmes die Ideale des christlichen Lebens in den Schatten stellte, und dabei wurde doch das Gefühl nicht beleidigt wie bei der Lehre von dem gänzlichen Aufhören der Persönlichkeit. Schon Petrarca gründet nun seine Hoffnung wesentlich auf diesen „Traum des Scipio“, auf die Äußerungen in anderen ciceronischen Schriften und auf Platos Phädon, ohne die Bibel zu erwähnen. „Warum soll ich“, fragt er anderswo, „als Katholik eine Hoffnung nicht teilen, welche ich erweislich bei den Heiden vorfinde?“ Etwas später schrieb Coluccio Salutati seine (noch handschriftlich vorhandenen) „Arbeiten des Herkules“, wo am Schluss bewiesen wird, dass den energischen Menschen, welche die ungeheuren Mühen der Erde überstanden haben, der Wohnsitz auf den Sternen von Rechts wegen gehöre. Wenn Dante noch strenge darauf gehalten hatte, dass auch die größten Heiden, denen er gewiss das Paradies gönnte, doch nicht über jenen Limbus am Eingang der Hölle hinauskamen, so griff jetzt die Poesie mit beiden Händen nach den neuen liberalen Ideen vom Jenseits. Cosimo der ältere wird, laut Bernardo Pulcis Gedicht auf seinen Tod, im Himmel empfangen von Cicero, der ja auch „Vater des Vaterlandes“ geheißen, von den Fabiern, von Curius, Fabricius und vielen anderen; mit ihnen wird er eine Zierde des Chores sein, wo nur tadellose Seelen singen.

Aber es gab in den alten Autoren noch ein anderes, weniger gefälliges Bild des Jenseits, nämlich das Schattenreich Homers und derjenigen Dichter, welche jenen Zustand nicht versüßt und humanisiert hatten. Auf einzelne Gemüter machte auch dies Eindruck. Gioviano Pontano legt irgendwo dem Sannazar die Erzählung einer Vision in den Mund, die er frühmorgens im Halbschlummer gehabt habe. Es erscheint ihm ein verstorbener Freund, Ferrandus Januarius, mit dem er sich einst oft über die Unsterblichkeit der Seele unterhalten hatte; jetzt fragt er ihn, ob die Ewigkeit und Schrecklichkeit der Höllenstrafen eine Wahrheit sei? Der Schatten antwortet nach einigem Schweigen ganz im Sinne des Achill, als ihn Odysseus befragte: „so viel sage und beteure ich dir, dass wir vom leiblichen Leben Abgeschiedenen das stärkste Verlangen tragen, wieder in dasselbe zurückzukehren“. Dann grüßt und verschwindet er. Es ist gar nicht zu verkennen, dass solche Ansichten vom Zustande nach dem Tode das Aufhören der wesentlichen christlichen Dogmen teils voraussetzen, teils verursachen. Die Begriffe von Sünde und Erlösung müssen fast völlig verduftet gewesen sein. Man darf sich durch die Wirkung der Bußprediger und durch die Bußepidemien, von welchen oben die Rede war, nicht irremachen lassen; denn selbst zugegeben, dass auch die individuell entwickelten Stände daran teilgenommen hätten wie alle anderen, so war die Hauptsache dabei doch nur das Rührungsbedürfnis, die Losspannung heftiger Gemüter, das Entsetzen über großes Landesunglück, der Schrei zum Himmel um Hilfe. Die Weckung des Gewissens hatte durchaus nicht notwendig das Gefühl der Sündhaftigkeit und des Bedürfnisses der Erlösung zur Folge, ja, selbst eine sehr heftige äußere Buße setzt nicht notwendig eine Reue im christlichen Sinne voraus. Wenn kräftig entwickelte Menschen der Renaissance uns erzählen, ihr Prinzip sei: nichts zu bereuen, so kann dies allerdings sich auf sittlich indifferente Angelegenheiten, auf bloß Unkluges und Unzweckmäßiges beziehen, aber von selbst wird sich diese Verachtung der Reue auch auf das sittliche Gebiet ausdehnen, weil ihre Quelle eine allgemeine, nämlich das individuelle Kraftgefühl, ist. Das passive und kontemplative Christentum mit seiner beständigen Beziehung auf eine jenseitige höhere Welt beherrschte diese Menschen nicht mehr. Macchiavelli wagt dann die weitere Konsequenz: dasselbe könne auch dem Staat und der Verteidigung von dessen Freiheit nicht förderlich sein.

Welche Gestalt musste nun die trotz allem vorhandene starke Religiosität bei den tieferen Naturen annehmen? Es ist der Theismus oder Deismus, wie man will. Den letzteren Namen mag diejenige Denkweise führen, welche das Christliche abgestreift hat, ohne einen weiteren Ersatz für das Gefühl zu suchen oder zu finden. Theismus aber erkennen wir in der erhöhten positiven Andacht zum göttlichen Wesen, welche das Mittelalter nicht gekannt hatte. Dieselbe schließt das Christentum nicht aus und kann sich jederzeit mit dessen Lehre von der Sünde, Erlösung und Unsterblichkeit verbinden, aber sie ist auch ohne dasselbe in den Gemütern vorhanden.

Bisweilen tritt sie mit kindlicher Naivität, ja mit einem halbheidnischen Anklang auf; Gott erscheint ihr als der allmächtige Erfüller der Wünsche. Agnolo Pandolfini erzählt, wie er nach der Hochzeit sich mit seiner Gemahlin einschloß und vor dem Hausaltar mit dem Marienbilde niederkniete, worauf sie aber nicht zur Madonna, sondern zu Gott beteten, er möge ihnen verleihen die richtige Benützung ihrer Güter, langes Zusammenleben in Fröhlichkeit und Eintracht und viele männliche Nachkommen; ,,für mich betete ich um Reichtum, Freundschaften und Ehre, für sie um Unbescholtenheit, Ehrbarkeit und dass sie eine gute Haushälterin werden möge“. Wenn dann noch eine starke Antikisierung im Ausdruck hinzukommt, so hat man es bisweilen schwer, den heidnischen Stil und die theistische Überzeugung auseinanderzuhalten.

Auch im Unglück äußert sich hie und da diese Gesinnung mit ergreifender Wahrheit. Es sind aus der späteren Zeit des Firenzuola, da er jahrelang am Fieber krank lag, einige Anreden an Gott vorhanden, in welchen er sich beiläufig mit Nachdruck als einen gläubigen Christen geltend macht und doch ein rein theistisches Bewusstsein an den Tag legt. Er fasst sein Leiden weder als Sündenschuld noch als Prüfung und Vorbereitung auf eine andere Welt auf; es ist eine Angelegenheit zwischen ihm und Gott allein, der die mächtige Liebe zum Leben zwischen den Menschen und seine Verzweiflung hineingestellt hat. „Ich fluche, doch nur gegen die Natur, denn deine Größe verbietet mir, dich selbst zu nennen . . . gib mir den Tod, Herr, ich flehe dich, gib mir ihn jetzt!“

Einen augenscheinlichen Beweis für einen ausgebildeten, bewussten Theismus wird man freilich in diesen und ähnlichen Aussagen vergebens suchen; die Betreffenden glaubten zum Teil noch Christen zu sein und respektierten außerdem aus verschiedenen Gründen die vorhandene Kirchenlehre. Aber zur Zeit der Reformation, als die Gedanken gezwungen waren, sich abzuklären, gelangte diese Denkweise zu einem deutlicheren Bewusstsein; eine Anzahl der italienischen Protestanten erwiesen sich als Antitrinitarier, und die Sozinianer machten sogar als Flüchtlinge in weiter Ferne den denkwürdigen Versuch, eine Kirche in diesem Sinn zu konstituieren. Aus dem bisher Gesagten wird wenigstens so viel klar geworden sein, dass außer dem humanistischen Rationalismus noch andere Geister in diese Segel wehten.

Ein Mittelpunkt der ganzen theistischen Denkweise ist wohl in der platonischen Akademie von Florenz und ganz besonders in Lorenzo magnifico selbst zu suchen. Die theoretischen Werke und selbst die Briefe jener Männer geben doch nur die Hälfte ihres Wesens. Es ist wahr, dass Lorenzo von Jugend auf bis an sein Lebensende sich dogmatisch christlich geäußert hat und dass Pico sogar unter die Herrschaft Savonarolas und in eine mönchisch asketische Gesinnung hineingeriet. Allein in den Hymnen Lorenzos, welche wir als das höchste Resultat des Geistes jener Schule zu bezeichnen versucht sind, spricht ohne Rückhalt der Theismus, und zwar von einer Anschauung aus, welche sich bemüht, die Welt als einen großen moralischen und physischen Kosmos zu betrachten. Während die Menschen des Mittelalters die Welt ansehen als ein Jammertal, welches Papst und Kaiser hüten müssen bis zum Auftreten des Antichrist, während die Fatalisten der Renaissance abwechseln zwischen Zeiten der gewaltigen Energie und Zeiten der dumpfen Resignation oder des Aberglaubens, erhebt sich hier, im Kreise auserwählter Geister, die Idee, dass die sichtbare Welt von Gott aus Liebe geschaffen, dass sie ein Abbild des in ihm präexistierenden Vorbildes sei, und dass er ihr dauernder Beweger und Fortschöpfer bleiben werde. Die Seele des einzelnen kann zunächst durch das Erkennen Gottes ihn in ihre engen Schranken zusammenziehen, aber auch durch Liebe zu ihm sich ins Unendliche ausdehnen, und dies ist dann die Seligkeit auf Erden.

Hier berühren sich Anklänge der mittelalterlichen Mystik mit platonischen Lehren und mit einem eigentümlichen modernen Geiste. Vielleicht reifte hier eine höchste Frucht jener Erkenntnis der Welt und des Menschen, um derentwillen allein schon die Renaissance von Italien die Führerin unseres Weltalters heißen muss.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 6. Buch