Die Religion und der Geist der Renaissance: Notwendige Subjektivität — Weltlichkeit des Geistes — Toleranz gegen den Islam — Berechtigung aller Religionen — Einwirkung des Altertums — Sogenannte Epikureer — Die Lehre vom freien Willen — Die frommen Humanisten — Mittlere Richtung der Humanisten — Anfänge der Kritik des Heiligen — Fatalismus der Humanisten — Ihre heidnischen Äußerlichkeiten

Um aber zu den entscheidenden Schlüssen über die Religiosität der Menschen der Renaissance zu gelangen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Aus der geistigen Haltung derselben überhaupt muss ihr Verhältnis sowohl zu der bestehenden Landesreligion als zu der Idee des Göttlichen klar werden.

Diese modernen Menschen, die Träger der Bildung des damaligen Italiens, sind religiös geboren wie die Abendländer des Mittelalters, aber ihr mächtiger Individualismus macht sie darin wie in anderen Dingen völlig subjektiv, und die Fülle von Reiz, welche die Entdeckung der äußeren und der geistigen Welt auf sie ausübt, macht sie überhaupt vorwiegend weltlich. Im übrigen Europa dagegen bleibt die Religion noch länger ein objektives Gegebenes, und im Leben wechselt Selbstsucht und Sinnengenuss unmittelbar mit Andacht und Buße; letztere hat noch keine geistige Konkurrenz wie in Italien, oder doch eine unendliche geringere.


Ferner hatte von jeher der häufige und nahe Kontakt mit Byzantinern und mit Mohammedanern eine neutrale Toleranz aufrecht erhalten, vor welcher der ethnographische Begriff einer bevorrechteten abendländischen Christenheit einigermaßen zurücktrat. Und als vollends das klassische Altertum mit seinen Menschen und Einrichtungen ein Ideal des Lebens wurde, weil es die größte Erinnerung Italiens war, da überwältigte die antike Spekulation und Skepsis bisweilen den Geist der Italiener vollständig.

Da ferner die Italiener die ersten neueren Europäer waren, welche sich schrankenlos dem Nachdenken über Freiheit und Notwendigkeit hingaben, da sie dies taten unter gewaltsamen, rechtlosen politischen Verhältnissen, die oft einem glänzenden und dauernden Siege des Bösen ähnlich sahen, so wurde ihr Gottesbewusstsein schwankend, ihre Weltanschauung teilweise fatalistisch. Und wenn ihre Leidenschaftlichkeit bei dem Ungewissen nicht wollte stehen bleiben, so nahmen manche vorlieb mit einer Ergänzung aus dem antiken, orientalischen und mittelalterlichen Aberglauben; sie wurden Astrologen und Magier.

Endlich aber zeigen die geistig Mächtigen, die Träger der Renaissance, in religiöser Beziehung eine häufige Eigenschaft jugendlicher Naturen: sie unterscheiden recht scharf zwischen gut und böse, aber sie kennen keine Sünde; jede Störung der inneren Harmonie getrauen sie sich vermöge ihrer plastischen Kraft wiederherzustellen und kennen deshalb keine Reue; da verblasst denn auch das Bedürfnis der Erlösung, während zugleich vor dem Ehrgeiz und der Geistesanstrengung des Tages der Gedanke an das Jenseits entweder völlig verschwindet oder eine poetische Gestalt annimmt statt der dogmatischen.

Denkt man sich dieses alles vermittelt und teilweise verwirrt durch die allherrschende Phantasie, so ergibt sich ein Geistesbild jener Zeit, das wenigstens der Wahrheit näher kommt als bloße unbestimmte Klagen über modernes Heidentum. Und bei näherem Forschen wird man erst noch inne werden, dass unter der Hülle dieses Zustandes ein starker Trieb echter Religiosität lebendig blieb.

Die nähere Ausführung des Gesagten muss sich hier auf die wesentlichsten Belege beschränken.

Dass die Religion überhaupt wieder mehr Sache des einzelnen Subjektes und seiner besonderen Auffassung wurde, war gegenüber der ausgearteten, tyrannisch behaupteten Kirchenlehre unvermeidlich und ein Beweis, dass der europäische Geist noch am Leben sei. Freilich offenbart sich dies auf sehr verschiedene Weise; während die mystischen und asketischen Sekten des Nordens für die neue Gefühlswelt und Denkart sogleich auch eine neue Disziplin schufen, ging in Italien jeder seinen eigenen Weg, und Tausende verloren sich auf dem hohen Meer des Lebens in religiöse Indifferenz. Um so höher muss man es denjenigen anrechnen, welche zu einer individuellen Religion durchdrangen und daran festhielten. Denn dass sie an der alten Kirche, wie sie war und sich aufdrang, keinen Teil mehr hatten, war nicht ihre Schuld; dass aber der einzelne die ganze große Geistesarbeit, welche dann den deutschen Reformatoren zufiel, in sich hätte durchmachen sollen, wäre ein unbilliges Verlangen gewesen. Wo es mit dieser individuellen Religion der Besseren in der Regel hinaus wollte, werden wir am Schlüsse zu zeigen suchen.

Die Weltlichkeit, durch welche die Renaissance einen ausgesprochenen Gegensatz zum Mittelalter zu bilden scheint, entsteht zunächst durch das massenhafte Überströmen der neuen Anschauungen, Gedanken und Absichten in bezug auf Natur und Menschheit. An sich betrachtet, ist sie der Religion nicht feindlicher als das, was jetzt ihre Stelle vertritt, nämlich die sogenannten Bildungsinteressen, nur dass diese, so wie wir sie betreiben, uns bloß ein schwaches Abbild geben von der allseitigen Aufregung, in welche damals das viele und große Neue die Menschen versetzte. So war diese Weltlichkeit eine ernste, überdies durch Poesie und Kunst geadelte. Es ist eine erhabene Notwendigkeit des modernen Geistes, dass er dieselbe gar nicht mehr abschütteln kann, dass er zur Erforschung der Menschen und der Dinge unwiderstehlich getrieben wird und dies für seine Bestimmung hält. Wie bald und auf welchen Wegen ihn dies Forschen zu Gott zurückführen, wie es sich mit der sonstigen Religiosität des einzelnen in Verbindung setzen wird, das sind Fragen, welche sich nicht nach allgemeinen Vorschriften erledigen lassen. Das Mittelalter, welches sich im ganzen die Empirie und das freie Forschen erspart hatte, kann in dieser großen Angelegenheit mit irgend einem dogmatischen Entscheid nicht aufkommen.

Mit dem Studium des Menschen, aber auch noch mit vielen anderen Dingen, hing dann die Toleranz und die Indifferenz zusammen, womit man zunächst dem Mohammedanismus begegnete. Die Kenntnis und Bewunderung der bedeutenden Kulturhöhe der islamitischen Völker, zumal vor der mongolischen Überschwemmung, war gewiss den Italienern seit den Kreuzzügen eigen; dazu kam die halbmohammedanische Regierungsweise ihrer eigenen Fürsten, die stille Abneigung, ja, Verachtung gegen die Kirche, wie sie war, die Fortdauer der orientalischen Reisen und des Handels nach den östlichen und südlichen Häfen des Mittelmeeres. Erweislich schon im XIII. Jahrhundert offenbart sich bei den Italienern die Anerkennung eines mohammedanischen Ideals von Edelmut, Würde und Stolz, das am liebsten mit der Person eines Sultans verknüpft wird. Man hat dabei insgemein an ejubidische oder mamelukische Sultane von Ägypten zu denken; wenn ein Name genannt wird, so ist es höchstens Saladin. Selbst die osmanischen Türken, deren zerstörende, aufbrauchende Manier wahrlich kein Geheimnis war, flößen dann den Italienern, wie oben gezeigt wurde, doch nur einen halben Schrecken ein, und ganze Bevölkerungen gewöhnen sich an den Gedanken einer möglichen Abfindung mit ihnen.

Leonardo da Vinci: Heilige Anna selbdritt. Paris, Louvre

Andrea del Sarto: Madonna dell' Arpie. Florenz, Uffizien


Der wahrste und bezeichnendste Ausdruck dieser Indifferenz ist die berühmte Geschichte von den drei Ringen, welche unter anderen Lessing seinem Nathan in den Mund legte, nachdem sie schon vor vielen Jahrhunderten zaghafter in den „hundert alten Novellen“ (Nov. 72 oder 73) und etwas rückhaltsloser bei Boccaccio vorgebracht worden war. In welchem Winkel des Mittelmeeres und in welcher Sprache sie zuerst einer dem anderen erzählt haben mag, wird man nie herausbringen; wahrscheinlich lautete sie ursprünglich noch viel deutlicher als in den beiden italienischen Redaktionen. Der geheime Vorbehalt, der ihr zugrunde liegt, nämlich der Deismus, wird unten in seiner weiteren Bedeutung an den Tag treten. In roher Missgestalt und Verzerrung gibt der bekannte Spruch von „den Dreien, die die Welt betrogen“, nämlich Moses, Christus und Mohammed, dieselbe Idee wieder. Wenn Kaiser Friedrich II., von dem diese Rede stammen soll, ähnlich gedacht hat, so wird er sich wohl geistreicher ausgedrückt haben. Ähnliche Reden kommen auch im damaligen Islam vor.

Auf der Höhe der Renaissance, gegen Ende des XV. Jahrhunderts, tritt uns dann eine ähnliche Denkweise entgegen bei Luigi Pulci, im Morgan te maggiore. Die Phantasie weit, in welcher sich seine Geschichten bewegen, teilt sich, wie bei allen romantischen Heldengedichten, in ein christliches und ein mohammedanisches Heerlager. Gemäß dem Sinne des Mittelalters war nun der Sieg und die Versöhnung zwischen den Streitern gerne begleitet von der Taufe des unterliegenden mohammedanischen Teiles, und die Improvisatoren, welche dem Pulci in der Behandlung solcher Stoffe vorangegangen waren, müssen von diesem Motiv reichlichen Gebrauch gemacht haben. Nun ist es Pulcis eigentliches Geschäft, diese seine Vorgänger, besonders wohl die schlechten darunter, zu parodieren, und dies geschieht schon durch die Anrufungen an Gott, Christus und die Madonna, womit seine einzelnen Gesänge anheben. Noch viel deutlicher aber macht er ihnen die raschen Bekehrungen und Taufen nach, deren Sinnlosigkeit dem Leser oder Hörer ja recht in die Augen springen soll. Allein dieser Spott führt ihn weiter bis zum Bekenntnis seines Glaubens an die relative Güte aller Religionen, dem trotz seiner Beteuerungen der Orthodoxie eine wesentlich theistische Anschauung zugrunde liegt. Außerdem tut er noch einen großen Schritt über alles Mittelalter hinaus nach einer anderen Seite hin. Die Alternativen der vergangenen Jahrhunderte hatten gelautet: Rechtgläubiger oder Ketzer, Christ oder Heide und Mohammedaner; nun zeichnet Pulci die Gestalt des Riesen Margutte, der sich gegenüber von aller und jeglicher Religion zum sinnlichsten Egoismus und zu allen Lastern fröhlich bekennt und sich nur das eine vorbehält: dass er nie einen Verrat begangen habe. Vielleicht hatte der Dichter mit diesem auf seine Manier ehrlichen Scheusal nichts Geringes vor, möglicherweise eine Erziehung zum Besseren durch Morgante, allein die Figur verleidete ihm bald, und er gönnte ihr bereits im nächsten Gesang ein komisches Ende. Margutte ist schon als Beweis von Pulcis Frivolität geltend gemacht worden; er gehört aber notwendig mit zu dem Weltbilde der Dichtung des XV. Jahrhunderts. Irgendwo musste sie in grotesker Größe den für alles damalige Dogmatisieren unempfindlich gewordenen, wilden Egoismus zeichnen, dem nur ein Rest von Ehrgefühl geblieben ist. Auch in anderen Gedichten wird den Riesen, Dämonen, Heiden und Mohammedanern in den Mund gelegt, was kein christlicher Ritter sagen darf.

Wieder auf eine ganz andere Weise als der Islam wirkte das Altertum ein, und zwar nicht durch seine Religion, denn diese war dem damaligen Katholizismus nur zu homogen, sondern durch seine Philosophie. Die antike Literatur, die man jetzt als etwas Unvergleichliches verehrte, war ganz erfüllt von dem Siege der Philosophie über den Götterglauben; eine ganze Anzahl von Systemen und Fragmente von Systemen stürzten über den italienischen Geist herein, nicht mehr als Kuriositäten oder gar als Häresien, sondern fast als Dogmen, die man nun nicht sowohl zu unterscheiden als miteinander zu versöhnen bestrebt war. Fast in all diesen verschiedenen Meinungen und Philosophemen lebte irgendeine Art von Gottesbewusstsein, aber in ihrer Gesamtheit bildeten sie doch einen starken Gegensatz zu der christlichen Lehre von der göttlichen Weltregierung. Nun gibt es eine wahrhaft zentrale Frage, um deren Lösung sich schon die Theologie des Mittelalters ohne genügenden Erfolg bemüht hatte und welche jetzt vorzugsweise von der Weisheit des Altertums eine Antwort verlangte: Das Verhältnis der Vorsehung zur menschlichen Freiheit und Notwendigkeit. Wenn wir die Geschichte dieser Frage seit dem XIV. Jahrhundert auch nur oberflächlich durchgehen wollten, so würde hieraus ein eigenes Buch werden. Wenige Andeutungen müssen hier genügen.

Hört man Dante und seine Zeitgenossen, so wäre die antike Philosophie zuerst gerade von derjenigen Seite her auf das italienische Leben gestoßen, wo sie den schroffsten Gegensatz gegen das Christentum bildete; es stehen nämlich in Italien Epikureer auf. Nun besaß man Epikurs Schriften nicht mehr, und schon das späte Altertum hatte von seiner Lehre einen mehr oder weniger einseitigen Begriff; immerhin aber genügte schon diejenige Gestalt des Epikureismus, welche man aus Lucretius und ganz besonders aus Cicero studieren konnte, um eine völlig entgötterte Welt kennenzulernen. Wie weit man die Doktrin buchstäblich fasste und ob nicht der Name des rätselhaften griechischen Weisen ein bequemes Schlagwort für die Menge wurde, ist schwer zu sagen; wahrscheinlich hat die dominikanische Inquisition das Wort auch gegen solche gebraucht, welchen man sonst auf keine andere Weise beikommen konnte. Es sind hauptsächlich frühentwickelte Verächter der Kirche, welche man doch schwer wegen bestimmter ketzerischer Lehren und Aussagen belangen konnte; ein mäßiger Grad von Wohlleben mag dann genügt haben, um jene Anklage hervorzubringen. In diesem konventionellen Sinne braucht z. B. Giovanni Villani das Wort, wenn er bereits die florentinischen Feuersbrünste von 1115 und 1117 als göttliche Strafe für die Ketzereien geltend macht, „unter anderen wegen der liederlichen und schwelgerischen Sekte der Epikureer“. Von Manfred sagt er: „Sein Leben war epikureisch, indem er nicht an Gott noch an die Heiligen und überhaupt nur an leibliches Vergnügen glaubte.“

Deutlicher redet Dante im neunten und zehnten Gesang der Hölle. Das furchtbare, von Flammen durchzogene Gräberfeld mit den halb offenen Sarkophagen, aus welchen Töne des tiefsten Jammers hervordringen, beherbergt die zwei großen Kategorien der von der Kirche im XIII. Jahrhundert Besiegten oder Ausgestoßenen. Die einen waren Ketzer und setzten sich der Kirche entgegen durch bestimmte, mit Absicht verbreitete Irrlehren; die anderen waren Epikureer, und ihre Sünde gegen die Kirche lag in einer allgemeinen Gesinnung, welche sich in dem Satze sammelt, dass die Seele mit dem Leib vergehe. Die Kirche aber wusste recht gut, dass dieser eine Satz, wenn er Boden gewänne, ihrer Art von Macht verderblicher werden müsste als alles Manichäer- und Paterinerwesen, weil er ihrer Einmischung in das Schicksal des einzelnen Menschen nach dem Tode allen Wert benahm. Dass sie selber durch die Mittel, welche sie in ihren Kämpfen brauchte, gerade die Begabtesten in Verzweiflung und Unglauben getrieben hatte, gab sie natürlich nicht zu.

Dantes Abscheu gegen Epikur oder gegen das, was er für dessen Lehre hielt, war gewiss aufrichtig; der Dichter des Jenseits musste den Leugner der Unsterblichkeit hassen, und die von Gott weder geschaffene noch geleitete Welt sowie der niedrige Zweck des Daseins, den das System aufzustellen schien, waren dem Wesen Dantes so entgegengesetzt als möglich. Sieht man aber näher zu, so haben auch auf ihn gewisse Philosopheme der Alten einen Eindruck gemacht, vor welchem die biblische Lehre von der Weltlenkung zurücktritt. Oder war es eigene Spekulation, Einwirkung der Tagesmeinung, Grauen vor dem die Welt beherrschenden Unrecht, wenn er die spezielle Vorsehung völlig aufgab? Sein Gott überlässt nämlich das ganze Detail der Weltregierung einem dämonischen Wesen, der Fortuna, welche für nichts als für Veränderung, für das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu sorgen hat und in indifferenter Seligkeit den Jammer der Menschen überhören darf. Dafür hält er aber die sittliche Verantwortung des Menschen unerbittlich fest: er glaubt an den freien Willen.

Der Populärglaube an den freien Willen herrscht im Abendlande von jeher, wie man denn auch zu allen Zeiten jeden persönlich für das, was er getan, verantwortlich gemacht hat, als verstehe sich die Sache ganz von selbst. Anders verhält es sich mit der religiösen und philosophischen Lehre, welche sich in der Lage befindet, die Natur des menschlichen Willens mit den großen Weltgesetzen in Einklang bringen zu müssen. Hier ergibt sich ein Mehr oder Weniger, wonach sich die Taxierung der Sittlichkeit überhaupt richtet. Dante ist nicht völlig unabhängig von den astrologischen Wahngebilden, welche den damaligen Horizont mit falschem Lichte erhellen, aber er rafft sich nach Kräften empor zu einer würdigen Anschauung des menschlichen Wesens. „Die Gestirne“, lässt er seinen Marco Lombardo sagen, „geben wohl die ersten Antriebe zu euerem Tun, aber Licht ist euch gegeben über Gutes und Böses, und freier Wille, der nach anfänglichem Kampf mit den Gestirnen alles besiegt, wenn er richtig genährt wird.“

Andere mochten die der Freiheit gegenüberstehende Notwendigkeit in einer anderen Potenz suchen als in den Sternen — jedenfalls war die Frage seitdem eine offene, nicht mehr zu umgehende. Soweit sie eine Frage der Schulen oder vollends nur eine Beschäftigung isolierter Denker blieb, dürfen wir dafür auf die Geschichte der Philosophie verweisen. Sofern sie aber in das Bewusstsein weiterer Kreise überging, wird noch davon die Rede sein müssen.

Das XIV. Jahrhundert ließ sich vorzüglich durch die philosophischen Schriften Ciceros anregen, welcher bekanntlich als Eklektiker galt, aber als Skeptiker wirkte, weil er die Theorien verschiedener Schulen vorträgt, ohne genügende Abschlüsse beizufügen. In zweiter Linie kommen Seneca und die wenigen ins Lateinische übersetzten Schriften des Aristoteles. Die Frucht dieses Studiums war einstweilen die Fähigkeit, über die höchsten Dinge zu reflektieren, wenigstens außerhalb der Kirchenlehre, wenn auch nicht im Widerspruch mit ihr.

Mit dem XV. Jahrhundert vermehrte sich, wie wir sahen, der Besitz und die Verbreitung der Schriften des Altertums außerordentlich; endlich kamen auch die sämtlichen noch vorhandenen griechischen Philosophen wenigstens in lateinischer Übersetzung unter die Leute. Nun ist es zunächst sehr bemerkenswert, dass gerade einige der Hauptförderer dieser Literatur der strengsten Frömmigkeit, ja der Askese ergeben sind. Von Fra Ambrogio Camaldolese darf man nicht sprechen, weil er sich ausschließlich auf das Übertragen der griechischen Kirchenväter zurückzog und nur mit großem Widerstreben auf Andringen des älteren Cosimo Medici den Diogenes Laertius ins Lateinische übersetzte. Aber seine Zeitgenossen Niccolò Niccoli, Gianozzo Mannetti, Donato Acciajuoli, Papst Nicolaus V. vereinigen mit allseitigem Humanismus eine sehr gelehrte Bibelkunde und eine tiefe Andacht. An Vittorino da Feltre wurde bereits eine ähnliche Richtung hervorgehoben. Derselbe Maffeo Vegio, welcher das dreizehnte Buch zur Aeneide dichtete, hatte für das Andenken S. Augustins und dessen Mutter Monica eine Begeisterung, welche nicht ohne höheren Bezug gewesen sein wird. Frucht und Folge solcher Bestrebungen war dann, dass die platonische Akademie zu Florenz sich es förmlich zum Ziele setzte, den Geist des Altertums mit dem des Christentums zu durchdringen; eine merkwürdige Oase innerhalb des damaligen Humanismus.

Letzterer war im ganzen doch profan und wurde es bei der Ausdehnung der Studien im XV. Jahrhundert immer mehr. Seine Leute, die wir oben als die rechten Vorposten des entfesselten Individualismus kennenlernten, entwickelten in der Regel einen solchen Charakter, dass uns selbst ihre Religiosität, die bisweilen mit sehr bestimmten Ansprüchen auftritt, gleichgültig sein darf. In den Ruf von Atheisten gelangten sie etwa, wenn sie indifferent waren und dabei ruchlose Reden gegen die Kirche führten; einen irgendwie spekulativ begründeten Überzeugungsatheismus hat keiner aufgestellt noch aufzustellen wagen dürfen. Wenn sie sichauf einen leitenden Gedanken besannen, so wird es am ehesten eine Art von oberflächlichem Rationalismus gewesen sein, ein flüchtiger Niederschlag aus den vielen widersprechenden Ideen der Alten, womit sie sich beschäftigen mussten, und aus der Verachtung der Kirche und ihrer Lehre. Dieser Art war wohl jenes Räsonnement, welches den Galeottus Martius beinahe auf den Scheiterhaufen brachte, wenn ihn nicht sein früherer Schüler Papst Sixtus IV. eilends aus (den Händen der Inquisition herausgerissen hätte. Galeotto hatte nämlich geschrieben: wer sich recht aufführe und nach dem inneren angeborenen Gesetz handle, aus welchem Volk er auch sei, der komme in den Himmel.

Betrachten wir beispielsweise das religiöse Verhalten eines der Geringeren aus der großen Schar des Codrus Urceus, der erst Hauslehrer des letzten Ordelaffo, Fürsten von Forli, und dann lange Jahre Professor in Bologna gewesen ist. Über Hierarchie und Mönche bringt er die obligaten Lästerungen im vollsten Maß; sein Ton im allgemeinen ist höchst frevelhaft, dazu erlaubt er sich eine beständige Einmischung seiner Person nebst Stadtgeschichten und Possen. Aber er kann auch erbaulich von dem wahren Gottmenschen Christus reden und sich brieflich in das Gebet eines frommen Priesters; empfehlen. Einmal fällt es ihm ein, nach Aufzählung der Torheiten der heidnischen Religion also fortzufahren: „auch unsere Theologen wackeln oft und zanken de lana caprina, über unbefleckte Empfängnis, Antichrist, Sakramente, Vorherbestimmung und einiges andere, was man lieber beschweigen. als herauspredigen sollte.“ Einst verbrannte sein Zimmer samt fertigen Manuskripten, da er nicht zu Hause war; als er es vernahm, auf der Gasse, stellte er sich gegen ein Madonnenbild und rief an dasselbe hinauf: „Höre, was ich dir sage, ich bin nicht verrückt, ich rede mit Absicht! wenn ich dich einst in der Stunde meines Todes zu Hilfe rufen sollte, so brauchst du mich nicht zu erhören und zu den Deinigen hinüberzunehmen! denn mit dem Teufel will ich wohnen bleiben in Ewigkeit!“ Eine Rede, auf welche hin er doch für gut fand, sich sechs Monate hindurch bei einem Holzhacker verborgen zu halten. Dabei war er so abergläubisch, dass ihn Augurien und Prodigien beständig ängstigten; nur für die Unsterblichkeit hatte er keinen Glauben übrig. Seinen Zuhörern sagte er auf Befragen: was nach dem Tode mit dem Menschen, mit seiner Seele oder seinem Geiste geschehe, das wisse man nicht und alle Reden über das Jenseits seien Schreckmittel für alte Weiber. Als es aber ans Sterben ging, empfahl er doch in seinem Testament seine Seele oder seinen Geist dem allmächtigen Gott, vermahnte auch jetzt seine weinenden Schüler zur Gottesfurcht und insbesondere zum Glauben an Unsterblichkeit und Vergeltung nach dem Tode, und empfing die Sakramente mit großer Inbrunst. — Man hat keine Garantie dafür, dass ungleich berühmtere Leute desselben Faches, auch wenn sie bedeutende Gedanken ausgesprochen haben, im Leben viel konsequenter gewesen seien. Die meisten werden innerlich geschwankt haben zwischen Freigeisterei und Fragmenten des anerzogenen Katholizismus, und äußerlich hielten sie schon aus Klugheit zur Kirche. Insofern sich dann ihr Rationalismus mit den Anfängen der historischen Kritik verband, mochte auch hie und da eine schüchterne Kritik der biblischen Geschichte auftauchen. Es wird ein Wort Pius’ II. überliefert, welches wie mit der Absicht des Vorbauens gesagt ist: „Wenn das Christentum auch nicht durch Wunder bestätigt wäre, so hätte es doch schon um seiner Moralität willen angenommen werden müssen.“ Über die Legenden, insoweit sie willkürliche Übertragungen der biblischen Wunder enthalten, erlaubte man sich ohnehin zu spotten, und dies wirkte dann weiter zurück. Wenn judaisierende Ketzer erwähnt werden, so wird man dabei vor allem an Leugnung der Gottheit Christi zu denken haben; so verhielt es sich vielleicht mit Giorgio da Novara, welcher um 1500 in Bologna verbrannt wurde. Aber in demselben Bologna musste um diese Zeit (1497) der dominikanische Inquisitor den wohl protegierten Arzt Gabrielle da Salö mit einer bloßen Reueerklärung durchschlüpfen lassen, obwohl derselbe folgende Reden zu führen pflegte: Christus sei nicht Gott gewesen, sondern Sohn des Joseph und der Maria aus einer gewöhnlichen Empfängnis; er habe die Welt mit seiner Arglist ins Verderben gebracht; den Kreuzestod möge er wohl erlitten haben wegen begangener Verbrechen; auch werde seine Religion nächstens aufhören; in der geweihten Hostie sei sein wahrer Leib nicht; seine Wunder habe er nicht vollbracht aus göttlicher Kraft, sondern sie seien durch Einfluss der Himmelskörper geschehen. Letzteres ist wiederum höchst bezeichnend; der Glaube ist dahin, aber die Magie behält man sich vor.

In betreff der Weltregierung raffen sich die Humanisten insgemein nicht weiter auf als bis zu einer kalt resignierten Betrachtung dessen, was unter der ringsum herrschenden Gewalt und Missregierung geschieht. Aus dieser Stimmung sind hervorgegangen die vielen Bücher „vom Schicksal“ oder wie die Varietäten des Titels lauten mögen. Sie „konstatieren meist nur das Drehen des Glücksrades, die Unbeständigkeit der irdischen, zumal der politischen Dinge; die Vorsehung wird herbeigezogen, offenbar nur weil man sich des nackten Fatalismus, des Verzichtens auf Erkenntnis von Ursachen und Wirkungen, oder des baren Jammers noch schämt. Nicht ohne Geist konstruiert Gioviano Pontano die Naturgeschichte des dämonischen Etwas, Fortuna genannt, aus hundert meist selbsterlebten Erfahrungen. Mehr scherzhaft, in Form eines Traumgesichtes, behandelt Aeneas Sylvius den Gegenstand. Poggios Streben dagegen, in einer Schrift seines Greisenalters, geht dahin, die Welt als ein Jammertal darzustellen und das Glück der einzelnen Stände so niedrig als möglich zu taxieren. Dieser Ton bleibt dann im ganzen der vorherrschende; von einer Menge ausgezeichneter Leute wird das Soll und Haben Ihres Glückes und Unglückes untersucht und die Summe daraus in vorwiegend ungünstigem Sinn gezogen. In höchst würdiger Weise, fast elegisch, schildert uns vorzüglich Tristan Caracciolo das Schicksal Italiens und der Italiener, soweit es sich um 1510 überschauen ließ. Mit spezieller Anwendung dieses herrschenden Grundgefühles auf die Humanisten selber verfasste dann später Pierio Valeriano seine berühmte Abhandlung. Es gab einzelne ganz besonders anregende Themata dieser Art, wie z. B. das Glück Leos X. Was von politischer Seite darüber Günstiges gesagt werden kann, das hat Francesco Vettori in scharfen Meisterzügen zusammengefasst; das Bild seines Genusslebens geben Paolo Giovio und die Biographie eines Ungenannten; die Schattenseiten dieses Glückes verzeichnet unerbittlich wie das Schicksal selbst der ebengenannte Pierio.

Daneben erregt es beinahe Grauen, wenn hie und da sich jemand öffentlich in lateinischer Inschrift des Glückes rühmt. So wagte Giovanni II. Bentivoglio, Herrscher von Bologna, an dem neu erbauten Turme bei seinem Palaste es in Stein hauen zu lassen: sein Verdienst und sein Glück hätten ihm alle irgend wünschbaren Güter reichlich gewährt — wenige! Jahre vor seiner Verjagung. Die Alten, wenn sie in diesem Sinne redeten, empfanden wenigstens das Gefühl vom Neid der Götter. In Italien hatten es wahrscheinlich die Kondottieren aufgebracht, dass man sich laut der Fortuna rühmen durfte.

Der stärkste Einfluss des wiederentdeckten Altertums auf die Religion kam übrigens nicht von irgendeinem philosophischen System oder von einer Lehre und Meinung der Alten her, sondern von einem alles beherrschenden Urteil. Man zog die Menschen und zum Teil auch die Einrichtungen des Altertums denjenigen des Mittelalters vor, strebte ihnen auf alle Weise nach und wurde dabei über den Religionsunterschied völlig gleichgültig. Die Bewunderung der historischen Größe absorbierte alles.

Bei den Philologen kam dann noch manche besondere Torheit hinzu, durch welche sie die Blicke der Welt auf sich zogen. Wie weit Papst Paul II. berechtigt war, das Heidentum seiner Abbreviatoren und ihrer Genossen zur Rechenschaft zu ziehen, bleibt allerdings sehr zweifelhaft, da sein Hauptopfer und Biograph Platina es meisterlich verstanden hat, ihn dabei als rachsüchtig wegen anderer Dinge und ganz besonders als komische Figur erscheinen zu lassen. Die Anklage auf Unglauben, Heidentum, Leugnung der Unsterblichkeit usw. wurde gegen die Verhafteten erst erhoben, nachdem der Hochverratsprozess nichts ergeben hatte; auch war Paul, wenn wir recht berichtet werden, gar nicht der Mann dazu, irgend etwas Geistiges zu beurteilen, wie er denn die Römer ermahnte, ihren Kindern über Lesen und Schreiben hinaus keinen weiteren Unterricht mehr geben zu lassen. Es ist eine ähnliche priesterliche Beschränktheit wie bei Savonarola, nur dass man Papst Paul hätte erwidern können, er und seinesgleichen trügen mit die Hauptschuld, wenn die Bildung den Menschen von der Religion abwendig mache. Daran aber ist doch nicht zu zweifeln, dass er eine wirkliche Besorgnis wegen der heidnischen Tendenzen in seiner Nähe verspürte. Was mögen sich vollends die Humanisten am Hofe des heidnisch ruchlosen Sigismondo Malatesta erlaubt haben? Gewiss kam es bei diesen meist haltungslosen Menschen wesentlich darauf an, wie weit ihre Umgebung ihnen zu gehen gestattete. Und wo sie das Christentum anrühren, da paganisieren sie es. Man muss sehen, wie weit z. B. ein Gioviano Pontano die Vermischung treibt; ein Heiliger heißt bei ihm nicht nur Divus, sondern Deus; die Engel hält er schlechtweg mit den Genien des Altertums für identisch, und seine Ansicht von der Unsterblichkeit gleicht einem Schattenreiche. Es kommt zu einzelnen ganz wunderbaren Exzessen in dieser Beziehung. Als 1526 Sieria von der Partei der Ausgetriebenen angegriffen wurde, stand der gute Domherr Tizio, der uns dies selber erzählt, am 22. Juli vom Bette auf, gedachte dessen, was im dritten Buch des Macrobius geschrieben steht, las eine Messe und sprach dann die in jenem Autor aufgezeichnete Devotionsformel gegen die Feinde aus, nur dass er statt Tellus mater teque Jupiter obtestor sagte: Tellus teque Christe Deus obtestor. Nachdem er damit noch an den zwei folgenden Tagen fortgefahren, zogen die Feinde ab. Von der einen Seite sieht dergleichen aus wie eine unschuldige Stil- und Modesache, von der anderen aber wie ein religiöser Abfall.

Doch das Altertum hatte noch eine ganz besonders gefährliche Wirkung und zwar dogmatischer Art: es teilte der Renaissance seine Art des Aberglaubens mit. Einzelnes davon hatte sich in Italien durch das Mittelalter hindurch am Leben erhalten; um so viel leichter lebte jetzt das ganze neu auf. Dass dabei die Phantasie mächtig mitspielte, versteht sich von selbst. Nur sie konnte den forschenden Geist der Italiener so weit zum Schweigen bringen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 6. Buch