Die Religion im täglichen Leben: Mangel einer Reformation — Stellung der Italiener zur Kirche — Hass gegen Hierarchie und Mönchtum — Die Bettelmönche — Die dominikanische Inquisition — Die höheren Orden — Gewöhnung an die Kirche und ihre Segnungen — Die Bußprediger — Girolamo Savonarola — Das Heidnische im Volksglauben — Der Reliquienglaube — Der Mariendienst — Schwankungen im Kultus — Große Bußepidemien — Deren -polizeiliche Regelung in Ferrara

Mit der Sittlichkeit eines Volkes steht in engstem Zusammenhange die Frage nach seinem Gottesbewusstsein, d. h. nach seinem größeren oder geringeren Glauben an eine göttliche Leitung der Welt, mag nun dieser Glaube die Welt für eine zum Glück oder zum Jammer und baldigen Untergang bestimmte halten. Nun ist der damalige italienische Unglaube im allgemeinen höchst berüchtigt und wer sich noch die Mühe eines Beweises nimmt, hat es leicht, hunderte von Aussagen und Beispielen zusammenzustellen. Unsere Aufgabe ist auch hier, zu sondern und zu unterscheiden. Ein abschließendes Gesamturteil werden wir uns auch hier nicht erlauben.

Das Gottesbewusstsein der früheren Zeit hat seine Quelle und seinen Anhalt im Christentum und in dessen äußerer Machtgestalt, der Kirche gehabt. Als die Kirche ausartete, hätte die Menschheit distinguieren und ihre Religion trotz allem behaupten sollen. Aber ein solches Postulat lässt sich leichter aufstellen als erfüllen. Nicht jedes Volk ist ruhig oder stumpfsinnig genug, um einen dauernden Widerspruch zwischen einem Prinzip und dessen äußerer Darstellung zu ertragen. Die sinkende Kirche ist es, auf welche jene schwerste Verantwortlichkeit fällt, die je in der Geschichte vorgekommen ist: sie hat eine getrübte und zum Vorteil ihrer Allmacht entstellte Lehre mit allen Mitteln der Gewalt als reine Wahrheit durchgesetzt, und im Gefühl ihrer Unantastbarkeit sich der schwersten Entsittlichung überlassen; sie hat, um sich in solchem Zustande zu behaupten, gegen den Geist und das Gewissen der Völker tödliche Streiche geführt und viele von den Höherbegabten, welche sich ihr innerlich entzogen, dem Unglauben und der Verbitterung in die Arme getrieben.


Carpaccio: Werbung um die heilige Ursula. Venedig, Akademie

Schule der Robbia, Die Barmherzigkeiten: Krankenbesuch Pistoia, Ospedale del Ceppo

Michelangelo: Trennung von Wasser und Land bei der Schöpfung der Erde Rom, Vatikan


Hier stellt sich uns auf dem Wege die Frage entgegen: warum das geistig so mächtige Italien nicht kräftiger gegen die Hierarchie reagiert, warum es nicht eine Reformation gleich der deutschen und vor derselben zustande gebracht habe?

Es gibt eine scheinbare Antwort: die Stimmung Italiens habe es nicht über die Verneinung der Hierarchie hinausgebracht, während Ursprung und Unbezwingbarkeit der deutschen Reformation den positiven Lehren, zumal von der Rechtfertigung durch den Glauben und vom Unwert der guten Werke, verdankt werde.

Es ist gewiss, dass diese Lehren erst von Deutschland her auf Italien wirkten, und zwar viel zu spät, als die spanische Macht bei weitem groß genug war, um teils unmittelbar, teils durch das Papsttum und dessen Werkzeuge alles zu erdrücken. Aber schon in den früheren religiösen Bewegungen Italiens von den Mystikern des XIII. Jahrhunderts bis auf Savonarola war auch sehr viel positiver Glaubensinhalt, dem zur Reife nichts als das Glück fehlte, wie es ja dem sehr positiv christlichen Hugenottentum auch fehlte. Kolossale Ereignisse wie die Reform des XVI. Jahrhunderts entziehen sich wohl überhaupt, was das einzelne, den Ausbruch und Hergang betrifft, aller geschichtsphilosophischen Deduktion, so klar man auch ihre Notwendigkeit im großen und ganzen erweisen kann. Die Bewegungen des Geistes, ihr plötzliches Aufblitzen, ihre Verbreitung, ihr Innehalten sind und bleiben unseren Augen wenigstens insoweit ein Rätsel, als wir von den dabei tätigen Kräften immer nur diese und jene, aber niemals alle kennen.

Die Stimmung der höheren und mittleren Stände Italiens gegen die Kirche zur Zeit der Renaissance ist zusammengesetzt aus tiefem, verachtungsvollem Unwillen, aus Akkommodation an die Hierarchie, insofern sie auf alle Weise in das äußere Leben verflochten ist, und aus einem Gefühl der Abhängigkeit von den Sakramenten, Weihen und Segnungen. Als etwas für Italien speziell Bezeichnendes dürfen wir noch die große individuelle Wirkung heiliger Prediger beifügen.

Über den antihierarchischen Unwillen der Italiener, wie er sich zumal seit Dante in Literatur und Geschichte offenbart, sind eigene umfangreiche Arbeiten vorhanden. Von der Stellung des Papsttums zur öffentlichen Meinung haben wir selber oben einige Rechenschaft geben müssen, und wer das Stärkste aus erlauchten Quellen schöpfen will, der kann die berühmten Stellen in Macchiavellis Discorsi und in (dem unverstümmelten) Guicciardini nachlesen. Außerhalb der römischen Kurie genießen noch am ehesten die besseren Bischöfe einigen sittlichen Respekt, auch manche Pfarrer; dagegen sind die bloßen Pfründner, Chorherren und Mönche fast ohne Ausnahme verdächtig und oft mit der schmachvollsten Nachrede, die den ganzen betreffenden Stand umfasst, übel beladen.

Man hat schon behauptet, die Mönche seien zum Sündenbock für den ganzen Klerus geworden, weil man nur über sie gefahrlos habe spotten dürfen. Allein dies ist auf alle Weise irrig. In den Novellen und Komödien kommen sie deshalb vorzugsweise vor, weil diese beiden Literaturgattungen stehende, bekannte Typen lieben, bei welchen die Phantasie leicht das nur Angedeutete ergänzt. Sodann schont die Novelle auch den Weltklerus nicht. Drittens beweisen zahllose Aufzeichnungen aus der ganzen übrigen Literatur, wie keck über das Papsttum und die römische Kurie öffentlich geredet und geurteilt wurde; in den freien Schöpfungen der Phantasie muss man aber dergleichen nicht erwarten. Viertens konnten sich auch die Mönche bisweilen furchtbar rächen.

So viel ist immerhin richtig, dass gegen die Mönche der Unwille am stärksten war, und dass sie als lebendiger Beweis figurierten von dem Unwert des Klosterlebens, der ganzen geistlichen Einrichtung, des Glaubenssystems, ja der Religion überhaupt, je nachdem man die Folgerungen mit Recht oder Unrecht auszudehnen beliebte. Man darf hierbei wohl annehmen, dass Italien eine deutlichere Erinnerung von dem Aufkommen der beiden großen Bettelorden bewahrt hatte als andere Länder, dass es noch ein Bewusstsein davon besaß, dieselben seien ursprünglich die Träger jener Reaktion gegen das, was man die Ketzerei des XIII. Jahrhunderts nennt, d. h. gegen eine frühe starke Regung des modernen italienischen Geistes. Und das geistliche Polizeiamt, welches den Dominikanern insbesondere dauernd anvertraut blieb, hat gewiss nie ein anderes Gefühl rege gemacht als heimlichen Hass und Hohn.

Wenn man den Decamerone und die Novellen des Franco Sacchetti liest, sollte man glauben, die frevelhafte Rede gegen Mönche und Nonnen wäre erschöpft. Aber gegen die Zeit der Reformation hin steigert sich dieser Ton noch um ein Merkliches. Gerne lassen wir Aretino aus dem Spiel, da er in den Ragionamenti das Klosterleben nur zum Vorwand braucht, um seinem eigenen Naturell den Zügel schießen zu lassen. Aber einen Zeugen statt aller müssen wir hier nennen: Massuccio in den zehn ersten von seinen fünfzig Novellen. Sie sind in der tiefsten Entrüstung und mit dem Zweck, dieselbe zu verbreiten, geschrieben und den vornehmsten Personen, selbst dem König Ferrante und dem Prinzen Alfonso von Neapel dediziert. Die Geschichten selbst sind zum Teil älter und einzelne schon aus Boccaccio bekannt; anderes aber hat eine furchtbare neapolitanische Aktualität. Die Betörung und Aussaugung der Volksmassen durch falsche Wunder, verbunden mit einem schändlichen Wandel, bringen hier einen denkenden Zuschauer zu einer wahren Verzweiflung. Von herumziehenden Minoritenkonventualen heißt es: „Sie betrügen, rauben und huren, und wo sie nicht mehr weiter wissen, stellen sie sich als Heilige und tun Wunder, wobei der eine das Gewand von S. Vincenzo, der andere die Schrift S. Bernardinos, ein dritter den Zaum von Capistranos Esel vorzeigt.“ . . . Andere „bestellen sich Helfershelfer, welche, scheinbar blind oder totkrank, durch Berührung des Saumes ihrer Kutte oder der mitgebrachten Reliquien plötzlich mitten im Volksgewühl genesen; dann schreit alles Misericordia! man läutet die Glocken und nimmt lange feierliche Protokolle auf.“ Es kommt vor, dass ein Mönch auf der Kanzel von einem anderen, welcher unter dem Volke steht, keck als Lügner angeschrien wird; dann aber fühlt sich der Rufende plötzlich von Besessenheit ergriffen, worauf ihn der Prediger begehrt und heilt. — Alles reine Komödie. Der Betreffende mit seinem Helfershelfer sammelte so viel Geld, dass er von einem Kardinal ein Bistum kaufen konnte, wo beide gemächlich auslebten. Massuccio machte keinen besonderen Unterschied zwischen Franziskanern und Dominikanern, indem beide einander wert seien. „Und da lässt sich das unvernünftige Publikum noch in ihren Hass und ihre Parteiung hineinziehen und streitet darüber auf öffentlichen Plätzen, und teilt sich in Franceschiner und Domenichiner !“ Die Nonnen gehören ausschließlich den Mönchen; sobald sie sich mit Laien abgeben, werden sie eingekerkert und verfolgt, die anderen aber halten mit Mönchen förmliche Hochzeit, wobei sogar Messen gesungen, Kontrakte aufgesetzt und Speise und Trank reichlich genossen werden. „Ich selber“, sagt der Verfasser, „bin nicht ein, sondern mehrere Male dabei gewesen, habe es gesehen und mit Händen gegriffen. Solche Nonnen gebären dann entweder niedliche Mönchlein oder sie treiben die Frucht ab. Und wenn jemand behaupten möchte, dies sei eine Lüge, so untersuche er die Kloaken der Nonnenklöster und er wird darin einen Vorrat von zarten Knöchlein finden, nicht viel anders als in Bethlehem zu Herodes Zeiten.“ Solche und andere Sachen birgt das Klosterleben. Freilich machen einander die Mönche es in der Beichte bequem und diktieren ein Paternoster für Dinge, um derentwillen sie einem Laien alle Absolution versagen würden gleich einem Ketzer. „Darum öffne sich die Erde und verschlinge solche Verbrecher lebendig samt ihren Gönnern.“ An einer anderen Stelle äußert Massuccio, weil die Macht der Mönche doch wesentlich auf der Furcht vor dem Jenseits beruhe, einen ganz merkwürdigen Wunsch: „Es gäbe keine bessere Züchtigung für sie, als wenn Gott recht bald das Fegefeuer aufhöbe; dann könnten sie nicht mehr von Almosen leben und müssten wieder zur Hacke greifen.“

Wenn man unter Ferrante und an ihn so schreiben durfte, so hing dies vielleicht damit zusammen, dass der König durch ein auf ihn gemünztes falsches Wunder erbittert war. Man hatte ihn durch eine bei Tarent vergrabene und hernach gefundene Bleitafel mit Inschrift zu einer Judenverfolgung ähnlich der spanischen zu zwingen gesucht, und, als er den Betrug durchschaute, ihm Trotz geboten. Auch einen falschen Faster hatte er entlarven lassen, wie schon früher einmal sein Vater König Alfonso tat. Der Hof hatte wenigstens am dumpfen Aberglauben keine Mitschuld.

Wir haben einen Autor angehört, dem es ernst war, und er ist lange nicht der einzige in seiner Art. Spott und Schimpf über die Bettelmönche sind vollends massenweise vorhanden und durchdringen die ganze Literatur. Man kann kaum daran zweifeln, dass die Renaissance binnen kurzem mit diesen Orden aufgeräumt haben würde, wenn nicht die deutsche Reformation und die Gegenreformation darüber gekommen wäre. Ihre populären Prediger und ihre Heiligen hätten sie schwerlich gerettet. Es wäre nur darauf angekommen, dass man sich mit einem Papst, der die Bettelorden verachtete, wie z. B. Leo X., zu rechter Zeit verabredet hätte. Wenn der Zeitgeist sie doch nur noch entweder komisch oder abscheulich fand, so waren sie für die Kirche weiter nichts mehr als eine Verlegenheit. Und wer weiß, was damals dem Papsttum selber bevorstand, wenn die Reformation es nicht gerettet hätte.

Die Machtübung, welche sich fortwährend der Pater Inquisitor eines Dominikanerklosters über die betreffende Stadt erlaubte, war im späteren XV. Jahrhundert gerade noch groß genug, um die Gebildeten zu genieren und zu empören, aber eine dauernde Furcht und Devotion ließ sich nicht mehr erzwingen. Bloße Gesinnungen zu strafen wie vor Zeiten war nicht mehr möglich, und vor eigentlichen Irrlehren konnte sich auch derjenige leicht hüten, der sonst gegen den ganzen Klerus als solchen die loseste Zunge führte. Wenn nicht eine mächtige Partei mithalf (wie bei Savonarola) oder böser Zauber bestraft werden sollte (wie öfter in den oberitalischen Städten), so kam es am Ende des XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts nur noch selten bis zum Scheiterhaufen. In mehreren Fällen begnügten sich die Inquisitoren, wie es scheint, mit höchst oberflächlichem Widerruf, anderemale kam es sogar vor, dass man ihnen den Verurteilten auf dem Gange zum Richtplatz aus den Händen nahm. In Bologna (1452) war der Priester Nicolò da Verona als Nekromant, Teufelsbanner und Sakramentsschänder bereits auf einer hölzernen Bühne vor San Domenico degradiert worden und sollte nun auf die Piazza zum Scheiterhaufen geführt werden, als ihn unterwegs eine Schar von Leuten befreite, welche der Johanniter Achille Malvezzi, ein bekannter Ketzerfreund und Nonnenschänder, gesandt hatte. Der Legat (Kardinal Bessarion) konnte hernach von den Tätern nur eines habhaft werden, der gehenkt wurde; Malvezzi lebte ungestört weiter.

Es ist bemerkenswert, dass die höheren Orden, also die Benediktiner mit ihren Abzweigungen, trotz ihres großen Reichtums und Wohllebens weit weniger perhorresziert waren als die Bettelorden; auf zehn Novellen, die von frati handeln, kommt höchstens eine, welche einen monaco zum Gegenstand und Opfer hat. Nicht wenig kam diesen Orden zugute, dass sie älter und ohne polizeiliche Absicht gegründet waren und sich nicht in das Privatleben einmischten. Es gab darunter fromme, gelehrte und geistreiche Leute, aber den Durchschnitt schildert einer von ihnen, Firenzuola, wie folgt: „Diese Wohlgenährten in ihren weiten Kutten bringen ihr Leben nicht hin mit barfüßigem Herumziehen und Predigen, sondern in zierlichen Corduanpantoffeln sitzen sie in ihren schönen Zellen mit Zypressengetäfel und falten die Hände über dem Bauch. Und wenn sie je einmal sich von der Stelle bemühen müssen, so reiten sie gemächlich auf Maultieren und fetten Pferdchen wie zur Erholung herum. Den Geist ermüden sie nicht zu sehr durch Studium vieler Bücher, damit das Wissen ihnen nicht statt ihrer mönchischen Einfalt einen Luzifershochmut beibringe.“

Wer die Literatur jener Zeiten kennt, wird zugeben, dass hier nur das zum Verständnis des Gegenstandes Notwendigste mitgeteilt ist. Dass eine solche Reputation von Weltklerus und Mönchen bei Unzähligen den Glauben an das Heilige überhaupt erschüttern musste, springt in die Augen.

Was für schreckliche Gesamturteile bekommt man da zu hören! Wir teilen schließlich nur eines davon mit, weil es erst neuerlich gedruckt und noch wenig bekannt ist. Guicciardini, der Geschichtsschreiber und viel jährige Beamte der mediceischen Päpste, sagt (1529) in seinen Aphorismen: „Keinem Menschen missfällt mehr als mir der Ehrgeiz, die Habsucht und die Ausschweifung der Priester, sowohl weil jedes dieser Laster an sich hassenswert ist als auch weil jedes allein oder alle sich wenig ziemen bei Leuten, die sich zu einem von Gott besonders abhängigen Stand bekennen, und vollends, weil sie unter sich so entgegengesetzt sind, dass sie sich nur in ganz absonderlichen Individuen vereinigt finden können. Gleichwohl hat meine Stellung bei mehreren Päpsten mich gezwungen, die Größe derselben zu wollen, meines eigenen Vorteils wegen. Aber ohne diese Rücksicht hätte ich Martin Luther geliebt, wie mich selbst, nicht, um mich loszumachen von den Gesetzen, welche das Christentum, so wie es insgemein erklärt und verstanden wird, uns auferlegt, sondern um diese Schar von Nichtswürdigen (questa caterva di scelerati) in ihre gebührenden Grenzen gewiesen zu sehen, so dass sie entweder ohne Laster oder ohne Macht leben müssten.“

Derselbe Guicciardini hält denn auch dafür, dass wir in betreff alles Übernatürlichen im Dunkel bleiben, dass Philosophen und Theologen nur Torheiten darüber vorbringen, dass die Wunder in allen Religionen vorkommen, für keine besonders beweisen und sich am Ende auf noch unbekannte Naturphänomene zurückführen lassen. Den bergeversetzenden Glauben, wie er sich damals bei den Nachfolgern Savonarolas zu erkennen gab, konstatiert er als ein kurioses Phänomen, doch ohne bittere Bemerkung.

Gegenüber von solchen Stimmungen hatten Klerus und Mönchtum den großen Vorteil, dass man an sie gewöhnt war und dass ihr Dasein sich mit dem Dasein von jedermann berührte und verflocht. Es ist der Vorteil, den alle alten und mächtigen Dinge von jeher in der Welt gehabt haben. Jedermann hatte irgendeinen Verwandten im Priesterrock oder in der Kutte, irgendeine Aussicht auf Protektion oder künftigen Gewinn aus dem Schatz der Kirche, und in der Mitte von Italien saß die römische Kurie, welche ihre Leute bisweilen plötzlich reich machte. Doch muss man sehr hervorheben, dass dies alles die Zunge und die Feder nicht band. Die Autoren der lästerlichen Komik sind ja selbst meist Mönche, Pfründner usw.; Poggio, der die Fazetien schrieb, war Geistlicher, Francesco Berni hatte ein Kanonikat, Teofilo Folengo war Benediktiner, Matteo Bandello, der seinen eigenen Orden lächerlich macht, war Dominikaner, und zwar Nepot eines Generals dieses Ordens. Treibt sie ein Übermaß des Sicherheitsgefühles?, oder ein Bedürfnis, die eigene Person von der Verrufenheit des Standes zu sondern?, oder jene pessimistische Selbstsucht mit dem Wahlspruch: „uns hält’s noch aus“? Vielleicht war etwas von allem dabei. Bei Folengo wirkt freilich schon das Luthertum kenntlich ein.

Die Abhängigkeit von Segnungen und Sakramenten, von welcher bereits bei Anlass des Papsttums die Rede gewesen ist, versteht sich bei dem gläubigen Teil des Volkes von selbst; bei den Emanzipierten bedeutet und bezeugt sie die Stärke der Jugendeindrücke und die enorme magische Kraft altgewohnter Symbole. Das Verlangen der Sterbenden — wer er auch sein mochte — nach priesterlicher Absolution beweist einen Rest von Höllenfurcht, selbst bei einem Menschen wie jener Vitellozzo war. Ein belehrenderes Beispiel als das seinige wird schwer zu finden sein. Die kirchliche Lehre von dem Charakter indelebilis des Priesters, woneben seine Persönlichkeit indifferent wird, hat so weit Früchte getragen, dass man wirklich den Priester verabscheuen und doch seine geistlichen Spenden begehren kann. Freilich gab es auch Trotzköpfe wie z. B. Fürst Galeotto von Mirandola, der 1499 in einer bereits sechzehnjährigen Exkommunikation starb. Während dieser ganzen Zeit war auch die Stadt um seinetwillen im Interdikt gewesen, so dass weder Messe noch geweihtes Begräbnis stattfand.

Glänzend tritt endlich neben all diesen Zweideutigkeiten hervor das Verhältnis der Nation zu ihren großen Bußpredigern. Das ganze übrige Abendland ließ sich von Zeit zu Zeit durch die Rede heiliger Mönche rühren, allein was wollte dies heißen neben der periodischen Erschütterung der italienischen Städte und Landschaften? Zudem ist z. B. der einzige, der während des XV. Jahrhunderts in Deutschland eine ähnliche Wirkung hervorbrachte, ein Abruzzese von Geburt gewesen, nämlich Giovanni Capistrano. Diejenigen Gemüter, welche einen so gewaltigen Ernst und einen solchen religiösen Beruf in sich tragen, sind damals im Norden intuitiv, mystisch; im Süden expansiv, praktisch, verbündet mit der hohen Achtung der Nation vor Sprache und Rede. Der Norden bringt eine Imitatio Christi hervor, welche im stillen, anfangs nur in Klöstern, aber auf Jahrhunderte wirkt; der Süden produziert Menschen, welche auf Menschen einen kolossalen Eindruck des Augenblickes machen.

Dieser Eindruck beruht wesentlich auf Erregung des Gewissens. Es sind Moralpredigten, ohne Abstraktion, voll spezieller Anwendung, unterstützt von einer geweihten, asketischen Persönlichkeit, woran sich dann von selbst durch die erregte Phantasie das Mirakel anschließt, auch gegen den Willen des Predigers. Das gewaltigste Argument war weniger die Drohung mit Fegefeuer und Hölle, als vielmehr die höchst lebendige Entwicklung der maledizione, des zeitlichen, in der Person wirkenden Fluches, der sich an das Böse knüpft. Die Betrübung Christi und der Heiligen hat ihre Folgen im Leben. Nur so konnte man die in Leidenschaft, Racheschwüren und Verbrechen verrannten Menschen zur Sühne und Buße bringen, was bei weitem der wichtigste Zweck war.

So predigten im XV. Jahrhundert Bernardino da Siena, Alberto da Sarzana, Giovanni Capistrano, Jacopo della Marca, Roberto da Lecce und andere; endlich Girolamo Savonarola. Es gab kein stärkeres Vorurteil als dasjenige gegen die Bettelmönche; sie überwanden es. Der hochmütige Humanismus kritisierte und höhnte; wenn sie ihre Stimme erhoben, so dachte man seiner nicht mehr. Die Sache war nicht neu, und ein Spöttervolk, wie die Florentiner, hatte schon im XIV. Jahrhundert die Karikatur davon, wo sie sich auf seinen Kanzeln blicken ließ, malträtieren gelernt; als Savonarola auftrat, riß er sie doch so weit hin, dass bald ihre ganze geliebte Bildung und Kunst in dem Glutfeuer, das er entzündete, zusammengeschmolzen wäre. Selbst die stärkste Profanation durch heuchlerische Mönche, welche mit Hilfe von Einverstandenen die Rührung beliebig in ihren Zuhörern hervorzubringen und zu verbreiten wussten, war nicht imstande, der Sache selbst zu schaden. Man fuhr fort, über gemeine Mönchspredigten mit erdichteten Wundern und Vorzeigung falscher Reliquien zu lachen und die echten großen Bußprediger hoch zu achten. Dieselben sind eine wahre italienische Spezialität des XV. Jahrhunderts.

Der Orden — in der Regel der des heiligen Franziskus, und zwar von der sogenannten Observanz — schickt sie aus, je nachdem sie begehrt werden. Dies geschieht hauptsächlich bei schwerer öffentlicher oder Privatzwietracht in den Städten, auch wohl bei schrecklicher Zunahme der Unsicherheit und Unsittlichkeit. Ist dann aber der Ruhm eines Predigers gewachsen, so begehren ihn die Städte alle auch ohne besonderen Anlass; er geht wohin ihn die Oberen senden. Ein besonderer Zweig dieser Tätigkeit ist die Kreuzpredigt gegen die Türken, wir haben es aber hier wesentlich mit der Bußpredigt zu tun.

Die Reihenfolge der Predigten, wenn eine solche methodisch beobachtet wurde, scheint sich einfach an die kirchliche Aufzählung der Todsünden angeschlossen zu haben; je dringender aber der Moment ist, um so eher geht der Prediger unmittelbar auf das Hauptziel los. Er beginnt vielleicht in einer jener gewaltig großen Ordenskirchen oder im Dom; binnen kurzem ist die größte Piazza zu klein für das von allen Gegenden herbeiströmende Volk, und das Kommen und Gehen ist für ihn selbst mit Lebensgefahr verbunden. In der Regel schließt die Predigt mit einer ungeheuren Prozession, allein die ersten Stadtbeamten, welche ihn in die Mitte nehmen, können ihn auch da kaum vor den Leuten sichern, welche ihm Hände und Füße küssen und Stücke von seiner Kutte schneiden.

Die nächsten Erfolge, welche sich am leichtesten ergeben, nachdem gegen Wucher, Vorkauf und unehrbare Moden gepredigt worden, sind das Eröffnen der Gefängnisse, d.h. wohl nur die Freilassung ärmerer Schuldgefangener, und das Verbrennen von Luxussachen und Werkzeugen gefährlichen sowohl als unschuldigen Zeitvertreibes: als da sind Würfel, Karten, Spiele aller Art, „Maskengesichter“, Musikinstrumente, Gesangbücher, geschriebene Zauberformeln, falsche Haartouren usw. Dies alles wurde auf einem Gerüste (talamo) ohne Zweifel zierlich gruppiert, oben darauf etwa noch eine Teufelsfigur befestigt und dann Feuer angelegt.

Nun kommen die härteren Gemüter an die Reihe; wer längst nicht mehr gebeichtet hat, beichtet nunmehr; ungerecht vorenthaltenes Gut wird zurückgegeben, unheilschwangere Schmähreden werden zurückgenommen. Redner wie Bernardino da Siena gingen sehr emsig und genau auf den täglichen Verkehr der Menschen und dessen Sittengesetz ein. Wenige unserer heutigen Theologen möchten wohl eine Morgenpredigt zu halten versucht sein „über Kontrakte, Restitutionen, Staatsrenten (monte) und Ausstattung von Töchtern“, wie er einst im Dom von Florenz eine hielt. Unvorsichtigere Prediger begingen dabei leicht den Fehler, so stark gegen einzelne Menschenklassen, Gewerbe, Beamtungen loszuziehen, dass sich das aufgeregte Gemüt der Zuhörer sofort durch Tätlichkeiten gegen diese entlud. Auch eine Predigt des Bernardino da Siena, die er einmal in Rom (1424) hielt, hatte außer dem Brand von Putz- und Zaubersachen auf dem Kapitol noch eine andere Folge: „Hernach, heißt es, wurde auch die Hexe Finicella verbrannt, weil sie mit teuflischen Mitteln viele Kinder tötete und viele Personen verhexte, und ganz Rom ging hin es zu sehen.“

Das wichtigste Ziel der Predigt aber ist, wie oben bemerkt, die Versöhnung von Streit und Verzichtung auf die Rache. Sie wird wohl in der Regel erst gegen Ende des Predigtkurses erfolgt sein, wenn der Strom allgemeiner Bußfertigkeit allmählich die ganze Stadt ergriff, wenn die Luft erbebte von dem Geschrei des ganzen Volkes: misericordia! — Da kam es zu jenen feierlichen Friedensschlüssen und Umarmungen, auch wenn schon Wechselmord zwischen den streitenden Parteien lag. Man ließ wohl die bereits Verbannten zu so heiligem Vorhaben absichtlich in die Stadt kommen. Es scheint, dass solche „paci“ im ganzen beobachtet worden sind, auch wenn die gehobene Stimmung vorüber war, und dann blieb das Andenken des Mönches im Segen auf viele Geschlechter hinaus. Aber es gab wilde, furchtbare Krisen, wie die der Fimilien della Valle und Croce zu Rom (1482), wobei selbst der große Roberto da Lecce seine Stimme umsonst erhob. Kurz vor der Karwoche hatte er noch auf dem Platz vor der Minerva zahllosem Volk gepredigt; da erfolgte in der Nacht vor Gründonnerstag die schreckliche Straßenschlacht vor dem Palazzo della Valle beim Ghetto; am Morgen gab Papst Sixtus den Befehl zu dessen Schleifung, und hielt dann die gewöhnten Zeremonien dieses Tages ab; am Karfreitag predigte Roberto wieder, in den Händen ein Kruzifix; er und seine Zuhörer konnten aber nichts als weinen.

Gewaltsame, mit sich zerfallene Gemüter fassten häufig unter dem Eindruck der Bußpredigten den Entschluss ins Kloster zu treten. Es waren darunter Räuber und Verbrecher aller Art, auch wohl brotlose Soldaten. Dabei wirkt die Bewunderung mit, welche dem heiligen Mönche sich wenigstens in der äußeren Lebensstellung nach Kräften zu nähern sucht.

Die Schlusspredigt ist dann ein lauterer Segensspruch, der sich in den Worten zusammenfasst: la pace sia con voi! Große Scharen begleiten den Prediger nach der nächsten Stadt und hören daselbst seinen ganzen Kreis von Reden noch einmal an.

Bei der ungeheuren Macht, welche diese heiligen Männer ausübten, war es dem Klerus und den Regierungen erwünscht, sie wenigstens nicht zum Gegner zu haben. Ein Mittel hiezu war, dass man darauf hielt, nur Mönche oder Geistliche, welche wenigstens die minderen Weihen hatten, in solcher Qualität auftreten zu lassen, so dass der Orden oder die betreffende Korporation einigermaßen für sie haftbar war. Aber eine scharfe Grenze ließ sich auch hier nicht festhalten, da die Kirche und also auch die Kanzel längst für allerlei Zwecke der Öffentlichkeit, gerichtliche Akte, Publikationen, Vorlesungen usw. in Anspruch genommen war, und da selbst bei eigentlichen Predigten bisweilen dem Humanisten und Laien das Wort gelassen wurde. Nun gab es ohnehin eine zwitterhafte Menschenklasse, welche weder Mönche noch Geistliche waren und doch der Welt entsagt hatten, nämlich die in Italien sehr zahlreichen Einsiedler, und solche erschienen bisweilen ohne allen Auftrag und rissen die Bevölkerung hin. Ein Fall dieser Art ereignete sich zu Mailand nach der zweiten französischen Eroberung (1516), freilich in einer Zeit großer öffentlicher Unordnung; ein toskanischer Einsiedler, vielleicht von der Partei Savonarolas, behauptete mehrere Monate lang die Kanzel des Domes, polemisierte auf das heftigste gegen die Hierarchie, stiftete einen neuen Leuchter und einen Altar im Dom, tat Wunder, und räumte nur nach heftigen Kämpfen das Feld. In jenen für das Schicksal Italiens entscheidenden Dezennien erwacht überall die Weissagung und diese lässt sich, wo sie vorkommt, nirgends auf einen bestimmten Stand einschränken. Man weiß z. B., wie vor der Verwüstung Roms die Einsiedler mit einem wahren Trotze der Prophetie auftraten. In Ermangelung einer Beredsamkeit schicken solche Leute auch wohl Boten mit Symbolen, wie z.B. jener Asket bei Siena, der (1429) ein „Eremitlein“, d.h. einen Schüler in die geängstigte Stadt sandte mit einem Totenkopf auf einem Stecken, woran ein Zettel mit einem drohenden Bibelspruch hing.

Aber auch die Mönche selber schonten oft Fürsten, Behörden, Klerus und ihren eigenen Stand durchaus nicht. Zwar eine direkte Predigt zum Sturz eines Tyrannenhauses, wie die des Fra Jacopo Bussollaro zu Pavia im XIV. Jahrhundert gewesen war, trifft man in den folgenden Zeiten nicht mehr an, wohl aber mutigen Tadel, selbst gegen den Papst in dessen eigener Kapelle, und naive politische Ratschläge in Gegenwart von Fürsten, die dessen nicht zu bedürfen glaubten. Auf dem Kastellplatz zu Mailand durfte 1494 ein blinder Prediger aus der Incoronata (also ein Augustiner) dem Lodovico Moro von der Kanzel her zurufen: „Herr, zeige den Franzosen den Weg nicht, denn du wirst es bereuen!“ Es gab weissagende Mönche, welche vielleicht nicht direkt politisierten, aber so schreckliche Bilder der Zukunft entwarfen, dass den Zuhörern die Besinnung verging. Ein ganzer Verein von solchen, zwölf Franziskaner-Konventualen, durchzog bald nach der Wahl Leos X. (1513) die verschiedenen Landschaften Italiens, wie sie dieselben unter sich verteilt hatten. Derjenige von ihnen, welcher in Florenz predigte, Fra Francesco di Montepulciano, erregte ein steigendes Entsetzen unter dem ganzen Volke, indem seine Äußerungen, gewiss eher verstärkt als gemildert, auch zu denjenigen gelangten, welche vor Gedränge nicht selber in seine Nähe kommen konnten. Nach einer solchen Predigt starb er plötzlich „an einem Brustwehe“; alles kam, der Leiche die Füße zu küssen, weshalb man sie Nachts in aller Stille begrub. Aber den neu entzündeten Geist der Weissagung, der nun selbst Weiber und Bauern ergriff, konnte man nur mit größter Mühe dämpfen. „Um die Leute wieder einigermaßen heiter zu stimmen, veranstalteten hierauf die Medici, Giuliano (Bruder Leos) und Lorenzo, auf St.-Johannis-Tag 1514 jene prächtigen Feste, Jagden, Aufzüge und Turniere, wozu sich von Rom her außer einigen großen Herrn auch sechs Kardinäle, diese allerdings verkleidet, einfanden.

Der größte Bußprediger und Prophet aber war in Florenz schon 1498 verbrannt worden: Fra Girolamo Savonarola von Ferrara. Hier müssen uns einige Winke über ihn genügen.

Das gewaltige Werkzeug, durch welches er Florenz umgestaltet und beherrscht (1494 — 1498), ist seine Rede, wovon die erhaltenen, meist an Ort und Stelle ungenügend nachgeschriebenen Predigten offenbar nur einen beschränkten Begriff geben. Nicht als ob die äußeren Mittel seines Auftretens sehr groß gewesen wären, denn Stimme, Aussprache, rhetorische Redaktion u. dgl. bildeten vielmehr eher die schwache Seite, und wer einen Stil- und Kunstprediger verlangte, ging zu seinem Rivalen Fra Mariano da Genazzano — aber in Savonarolas Rede lag jene hohe persönliche Gewalt, welche wohl von da bis auf Luther nicht wieder vorgekommen ist. Er selber hielt es für Erleuchtung und taxierte deshalb ohne Unbescheidenheit das Predigtamt sehr hoch: über dem Prediger folge in der großen Hierarchie der Geister unmittelbar der unterste der Engel.

Diese völlig zu Feuer und Flammen gewordene Persönlichkeit vollbrachte zunächst noch ein anderes, größeres Wunder; das eigene Kloster S. Marco des Dominikanerordens und dann alle Dominikanerklöster Toskanas werden desselben Sinnes und unternehmen eine freiwillige große Reform. Wenn man weiß, was die Klöster damals waren und wie unendlich schwer die geringste Veränderung bei Mönchen durchzusetzen ist, so wird man doppelt erstaunen über eine völlige Sinnesänderung wie diese. Als die Sache im Gange war, befestigte sie sich dadurch, dass Gleichgesinnte jetzt in bedeutender Zahl Dominikaner wurden. Söhne aus den ersten Häusern traten in S. Marco als Novizen ein.

Diese Reform des Ordens für ein bestimmtes Land war nun der erste Schritt zu einer Nationalkirche, zu welcher es bei längerer Dauer dieses Wesens unfehlbar hätte kommen müssen. Savonarola selber wollte freilich eine Reform der ganzen Kirche und schickte deshalb noch gegen Ende seiner Wirksamkeit an alle großen Potentaten dringende Mahnungen, sie möchten ein Konzil versammeln. Allein sein Orden und seine Partei waren bereits für Toskana das allein mögliche Organ seines Geistes, das Salz der Erde geworden, während die Nachbargegenden im alten Zustande verharrten. Mehr und mehr baut sich aus Entsagung und Phantasie ein Zustand auf, der Florenz zu einem Reiche Gottes auf Erden machen will.

Die Weissagungen, deren teilweises Eintreffen dem Savonarola ein übermenschliches Ansehen verlieh, sind derjenige Punkt, auf welchem die allmächtige italienische Phantasie auch das bestverwahrte, liebevollste Gemüt bemeisterte. Anfangs meinten die Franziskaner von der Observanz, im Widerschein des Ruhmes, welchen ihnen S. Bernardino da Siena vermacht hatte, sie könnten den großen Dominikaner durch Konkurrenz bändigen. Sie verschafften einem der Ihrigen die Damkanzel, und ließen die Unglücksprophezeiungen durch noch schlimmere überbieten, bis Pietro de’ Medici, der damals noch über Florenz herrschte, einstweilen beiden Ruhe gebot. Bald darauf, als Karl VIII. nach Italien kam und die Medici vertrieben wurden, wie Savonarola mit klaren Worten geweissagt hatte, glaubte man nur noch ihm.

Und hier muss nun zugestanden werden, dass er gegen seine eigenen Ahnungen und Visionen keine Kritik übte und gegen diejenigen anderer eine ziemlich strenge. In der Leichenrede auf Pico della Mirandola geht er mit dem verstorbenen Freunde etwas unbarmherzig um. Weil Pico trotz einer inneren Stimme, die von Gott kam, doch nicht in den Orden treten wollte, habe er selber Gott gebeten, jenen etwas zu züchtigen; seinen Tod aber habe er wahrlich nicht gewünscht; nun sei durch Almosen und Gebet so viel erwirkt, dass die Seele sich einstweilen im Fegefeuer befinde. In betreff einer tröstlichen Vision, die Pico auf dem Krankenbette gehabt, wobei ihm die Madonna erschien und versprach, er solle nicht sterben, gesteht Savonarola, er habe es lange für eine dämonische Täuschung gehalten, bis ihm geoffenbart worden sei, die Madonna habe den zweiten Tod, nämlich den ewigen gemeint. — Wenn dies und ähnliches Überhebung war, so hat dieses große Gemüt wenigstens dafür gebüßt, so bitter es dafür büßen konnte; in seinen letzten Tagen scheint Savonarola die Nichtigkeit seiner Gesichte und Weissagungen erkannt zu haben, und doch blieb ihm innerer Friede genug übrig, um in heiliger Stimmung zum Tode zu gehen. Seine Anhänger aber hielten außer seiner Lehre auch seine Prophezeiungen noch drei Jahrzehnte hindurch fest.

Als Reorganisator des Staates hatte er nur gearbeitet, weil sonst statt seiner feindselige Kräfte sich der Sache bemächtigt haben würden. Es ist unbillig, ihn nach der halbdemokratischen Verfassung vom Anfang des Jahres 1495 zu beurteilen. Sie ist nicht besser und nicht schlechter als andere florentinische Verfassungen auch.

Er war zu solchen Dingen im Grunde der ungeeignetste Mensch, den man finden konnte. Sein wirkliches Ideal war eine Theokratie, bei welcher sich alles in seliger Demut vor dem Unsichtbaren beugt und alle Konflikte der Leidenschaft von vornherein abgeschnitten sind. Sein ganzer Sinn liegt in jener Inschrift des Signorenpalastes, deren Inhalt schon Ende 1495 sein Wahlspruch war, und die 1527 von seinen Anhängern erneuert wurde: „Jesus Christus Rex populi florentini S. P. Q. decreto creatus.“ Zum Erdenleben und seinen Bedingungen hatte er so wenig ein Verhältnis als irgendein echter und strenger Mönch. Der Mensch soll sich nach seiner Ansicht nur mit dem abgeben, was mit dem Seelenheil in unmittelbarer Verbindung steht.

Wie deutlich verrät sich dies bei seinen Ansichten über die antike Literatur. „Das einzige Gute“, predigt er, „was Plato und Aristoteles geleistet haben, ist, dass sie viele Argumente vorbrachten, welche man gegen die Ketzer gebrauchen kann. Sie und andere Philosophen sitzen doch in der Hölle. Ein altes Weib weiß mehr vom Glauben als Plato. Es wäre gut für den Glauben, wenn viele sonst nützlich scheinende Bücher vernichtet würden. Als es noch nicht so viele Bücher und nicht so viele Vernunftsgründe (ragioni naturali) und Disputen gab, wuchs der Glaube rascher als er seither gewachsen ist.“ Die klassische Lektüre der Schulen will er auf Homer, Virgil und Cicero beschränkt und den Rest aus Hieronymus und Augustin ergänzt wissen; dagegen sollen nicht nur Catull und Ovid, sondern auch Tibull und Terenz verbannt bleiben. Hier spricht einstweilen wohl nur eine ängstliche Moralität, allein er gibt in einer besonderen Schrift die Schädlichkeit der Wissenschaft im allgemeinen zu. Eigentlich sollten, meint er, einige wenige Leute dieselbe erlernen, damit die Tradition der menschlichen Kenntnisse nicht unterginge, besonders aber, damit immer einige Athleten zur Bekämpfung ketzerischer Sophismen vorrätig wären; alle übrigen dürften nicht über Grammatik, gute Sitten und Religionsunterricht (sacrse literae) hinaus. So würde natürlich die ganze Bildung wieder an Mönche zurückfallen, und da zugleich die „Wissendsten und Heiligsten“ auch Staaten und Reiche regieren sollten, so wären auch dieses wiederum Mönche. Wir wollen nicht einmal fragen, ob der Autor so weit hinaus gedacht hat.

Kindlicher kann man nicht räsonieren. Die einfache Erwägung, dass das wiederentdeckte Altertum und die riesige Ausweitung des ganzen Gesichtskreises und Denkkreises eine je nach Umständen ruhmvolle Feuerprobe für die Religion sein möchten, kommt dem guten Menschen nicht in den Sinn. Er möchte gern verbieten, was sonst nicht zu beseitigen ist. Überhaupt war er nichts weniger als liberal; gegen gottlose Astrologen z. B. hält er denselben Scheiterhaufen in Bereitschaft, auf welchem er hernach selbst gestorben ist.

Wie gewaltig muss die Seele gewesen sein, die bei diesem engen Geiste wohnte! Welch eines Feuers bedurfte es, um den Bildungsenthusiasmus der Florentiner vor dieser Anschauung sich beugen zu lehren!

Was sie ihm noch von Kunst und von Weltlichkeit preiszugeben bereit waren, das zeigen jene berühmten Opferbrände, neben welchen gewiss alle talami des Bernardino da Siena und anderer nur wenig besagen wollten.

Es ging dabei allerdings nicht ab ohne einige tyrannische Polizei von Seiten Savonarolas. Überhaupt sind seine Eingriffe in die hochgeschätzte Freiheit des italienischen Privatlebens nicht gering, wie er denn z. B. Spionage der Dienerschaft gegen den Hausherrn verlangte, um seine Sittenreform durchführen zu können. Was später in Genf dem eisernen Calvin, bei dauerndem Belagerungszustande von außen, doch nur mühsam gelang, eine Umgestaltung des öffentlichen und Privatlebens, das musste in Florenz doch nur ein Versuch bleiben und als solcher die Gegner auf das äußerste erbittern. Dahin gehört vor allem die von Savonarola organisierte Schar von Knaben, welche in die Häuser drangen und die für den Scheiterhaufen geeigneten Gegenstände mit Gewalt verlangten; sie wurden hie und da mit Schlägen abgewiesen, da gab man ihnen, um die Fiktion einer heranwachsenden heiligen Bürgerschaft dennoch zu behaupten, Erwachsene als Beschützer mit.

Und so konnten am letzten Karnevalstage des Jahres 1497 und an demselben Tage des folgenden Jahres die großen Autodafes auf dem Signorenplatz stattfinden. Da ragte eine Stufenpyramide, ähnlich dem rogus, auf welchem römische Imperatorenleichen verbrannt zu werden pflegten. Unten zunächst der Basis waren Larven, falsche Barte, Maskenkleider u. dgl. gruppiert; darüber folgten die Bücher der lateinischen und italienischen Dichter, unter anderen der Morgante des Pulci, der Boccaccio, der Petrarca, zum Teil kostbare Pergamentdrucke und Manuskripte mit Miniaturen; dann Zierden und Toilettegeräte der Frauen, Parfüms, Spiegel, Schleier, Haartouren; weiter oben Lauten, Harfen, Schachbretter, Tricktracks, Spielkarten; endlich enthielten die beiden obersten Absätze lauter Gemälde, besonders von weiblichen Schönheiten, teils unter den klassischen Namen der Lucretia, Kleopatra, Faustina, teils unmittelbare Porträts wie die der schönen Bencina, Lena Morella, Bina und Maria de’ Lenzi. Das erstemal bot ein anwesender venezianischer Kaufmann der Signorie 20.000 Goldtaler für den Inhalt der Pyramide; die einzige Antwort war, dass man ihn ebenfalls porträtieren und das Bild zu den übrigen hinaufstellen ließ. Beim Anzünden trat die Signorie auf den Balkon; Gesang, Trompetenschall und Glockengeläute erfüllte die Lüfte. Nachher zog man auf den Platz vor S. Marco, wo die ganze Partei eine dreifache konzentrische Runde tanzte: zu innerst die Mönche dieses Klosters abwechselnd mit Engelknaben, dann junge Geistliche und Laien, zu äußerst endlich Greise, Bürger und Priester, diese mit Olivenzweigen bekränzt.

Der ganze Spott der siegreichen Gegenpartei, die doch wahrlich einigen Anlass und überdies das Talent dazu hatte, genügte später doch nicht, um das Andenken Savonarolas herabzusetzen. Je trauriger die Schicksale Italiens sich entwickelten, desto heller verklärte sich im Gedächtnis der Überlebenden die Gestalt des großen Mönches und Propheten. Seine Weissagungen mochten im einzelnen unbewährt geblieben sein — das große allgemeine Unheil, das er verkündet hatte, war nur zu schrecklich in Erfüllung gegangen.

So groß aber die Wirkung der Bußprediger war und so deutlich Savonarola dem Mönchsstande als solchem das rettende Predigtamt vindizierte, so wenig entging dieser Stand doch dem allgemeinen verwerfenden Urteil. Italien gab zu verstehen, dass es sich nur für die Individuen begeistern könne.

Wenn man nun die Stärke des alten Glaubens, abgesehen von Priesterwesen und Mönchtum, verifizieren soll, so kann dieselbe bald sehr gering, bald sehr bedeutend erscheinen, je nachdem man sie von einer bestimmten Seite, in einem bestimmten Lichte anschaut. Von der Unentbehrlichkeit der Sakramente und Segnungen ist schon die Rede gewesen; überblicken wir einstweilen die Stellung des Glaubens und des Kultus im täglichen Leben. Hier ist die Masse und ihre Gewöhnung und die Rückkehr der Mächtigen auf beides von bestimmendem Gewicht.

Alles, was zur Buße und zur Erwerbung der Seligkeit mittels guter Werke gehört, war bei den Bauern und bei den unteren Klassen überhaupt wohl in derselben Ausbildung und Ausartung vorhanden wie im Norden, und auch die Gebildeten wurden davon stellenweise ergriffen und bestimmt. Diejenigen Seiten des populären Katholizismus, wo er sich dem antiken, heidnischen Anrufen, Beschenken und Versöhnen der Götter anschließt, haben sich im Bewusstsein des Volkes auf das hartnäckigste festgesetzt. Die schon bei einem anderen Anlass zitierte achte Ekloge des Battista Mantovano enthält unter anderen das Gebet eines Bauern an die Madonna, worin dieselbe als spezielle Schutzgöttin für alle einzelnen Interessen des Landlebens angerufen wird.

Welche Begriffe machte sich das Volk von dem Werte bestimmter Madonnen als Nothelferinnen! Was dachte sich jene Florentinerin, die ein Fässchen von Wachs als ex voto nach der Annunziata stiftete, weil ihr Geliebter, ein Mönch, allmählich ein Fässchen Wein bei ihr austrank, ohne dass der abwesende Gemahl es bemerkte. Ebenso regierte damals ein Patronat einzelner Heiligen für bestimmte Lebenssphären gerade wie jetzt noch. Es ist schon öfter versucht worden, eine Anzahl von allgemeinen ritualen Gebräuchen der katholischen Kirche auf heidnische Zeremonien zurückzuführen, und dass außerdem eine Menge örtlicher und volkstümlicher Bräuche, die sich an Kirchenfeste geknüpft haben, unbewusste Reste der verschiedenen alten Heidentümer Europas sind, gibt jedermann zu. In Italien aber kam auf dem Lande noch dies und jenes vor, worin sich ein bewusster Rest heidnischen Glaubens gar nicht verkennen ließ. So das Hinstellen von Speise für die Toten, vier Tage vor Petri Stuhlfeier, also noch am Tage der alten Feralien, 18. Februar. Manches andere dieser Art mag damals noch in Übung gewesen und erst seither ausgerottet worden sein. Vielleicht ist es nur scheinbar paradox, zu sagen, dass der populäre Glaube in Italien ganz besonders fest gegründet war, soweit er Heidentum war.

Wieweit nun die Herrschaft dieser Art von Glauben sich auch in die oberen Stände erstreckte, ließe sich wohl bis zu einem gewissen Punkte näher nachweisen. Derselbe hatte, wie bereits bei Anlass des Verhältnisses zum Klerus bemerkt wurde, die Macht der Gewöhnung und der frühen Eindrücke für sich; auch die Liebe zum kirchlichen Festpomp wirkte mit, und hie und da kam eine jener großen Bußepidemien hinzu, welchen auch Spötter und Leugner schwer widerstehen konnten.

Es ist aber bedenklich, in diesen Fragen rasch auf durchgehende Resultate hinzusteuern. Man sollte z. B. meinen, dass das Verhalten der Gebildeten zu den Reliquien von Heiligen einen Schlüssel gewähren müsse, der uns wenigstens einige Fächer ihres religiösen Bewusstseins öffnen könnte. In der Tat lassen sich Gradunterschiede nachweisen, doch lange nicht so deutlich, wie es zu wünschen wäre. Zunächst scheint die Regierung von Venedig im XV. Jahrhundert durchaus diejenige Andacht zu den Überresten heiliger Leiber geteilt zu haben, welche damals durch das ganze Abendland herrschte. Auch Fremde, welche in Venedig lebten, taten wohl, sich dieser Befangenheit zu fügen. Wenn wir das gelehrte Padua nach seinem Topographen Michele Savonarola beurteilen dürften, so wäre es hier nicht anders gewesen als in Venedig. Mit einem Hochgefühl, in welches sich frommes Grausen mischt, erzählt uns Michele, wie man bei großen Gefahren des Nachts durch die ganze Stadt die Heiligen seufzen höre, wie der Leiche einer heiligen Nonne zu 8. Chiara beständig Nägel und Haare wachsen, wie sie bei bevorstehendem Unheil Lärm macht, die Arme erhebt u. dgl. Bei der Beschreibung der Antoniuskapelle im Santo verliert sich der Autor völlig ins Stammeln und Phantasieren. In Mailand zeigte wenigstens das Volk einen großen Reliquienfanatismus, und als einst (1517) die Mönche in S. Simpliciano beim Umbau des Hochaltars sechs heilige Leichen unvorsichtig aufdeckten und mächtige Regenstürme über das Land kamen, suchten die Leute die Ursache der letzteren in jenem Sakrilegium und prügelten die betreffenden Mönche auf öffentlicher Straße durch, wo sie sie antrafen. In anderen Gegenden Italiens aber, selbst bei den Päpsten, sieht es mit diesen Dingen schon viel zweifelhafter aus, ohne dass man doch einen bündigen Schluss ziehen könnte. Es ist bekannt, unter welchem allgemeinen Aufsehen Pius II. das aus Griechenland zunächst nach S. Maura geflüchtete Haupt des Apostels Andreas erwarb und (1462) feierlich in S. Peter niederlegte; allein aus seiner eigenen Relation geht hervor, dass er dies tat aus einer Art von Scham, als schon viele Fürsten sich um die Reliquie bewarben. Jetzt erst fiel es ihm ein, Rom zu einem allgemeinen Zufluchtsort der aus ihren Kirchen vertriebenen Reste der Heiligen zu machen. Unter Sixtus IV. war die Stadtbevölkerung in diesen Dingen eifriger als der Papst, so dass der Magistrat sich (1483) bitter beklagte, als Sixtus dem sterbenden Ludwig XI. einiges von den lateranensischen Reliquien verabfolgte. In Bologna erhob sich um diese Zeit eine mutige Stimme, welche verlangte, man solle dem König von Spanien den Schädel des hl. Dominikus verkaufen und aus dem Erlös etwas zum öffentlichen Nutzen Dienendes stiften. Die wenigste Reliquienandacht zeigen die Florentiner. Zwischen ihrem Beschluss, den Stadtheiligen S. Zanobi durch einen neuen Sarkophag zu ehren, und der definitiven Bestellung bei Ghiberti vergehen 19 Jahre (1409 — 1428), und auch dann erfolgt der Auftrag nur zufällig, weil der Meister eine kleinere, ähnliche Arbeit schön vollendet hatte. Vielleicht war man der Reliquien etwas überdrüssig, seitdem man (1352) durch eine verschlagene Äbtissin im Neapolitanischen mit einem falschen, aus Holz und Gips nachgemachten Arm der Schutzpatronin des Domes, S. Reparata, war betrogen worden. Oder dürfen wir etwa annehmen, dass der ästhetische Sinn es war, welcher sich hier vorzüglich entschieden von den zerstückelten Leichnamen, den halbvermoderten Gewändern und Geräten abwandte?, oder gar der moderne Ruhmessinn, welcher lieber die Leichen eines Dante und Petrarca in den herrlichsten Gräbern beherbergt hätte als alle zwölf Apostel miteinander? Vielleicht war aber in Italien überhaupt, abgesehen von Venedig und dem ganz exzeptionellen Rom, der Reliquiendienst schon seit langer Zeit mehr zurückgetreten vor dem Madonnendienst als irgendwo sonst in Europa, und darin läge dann zugleich, wenn auch verhüllt, ein frühes Überwiegen des Formsinnes. Man wird fragen, ob denn im Norden, wo die riesenhaftesten Kathedralen fast alle Unserer lieben Frau gewidmet sind, wo ein ganzer, reicher Zweig der Poesie im Lateinischen wie in den Landessprachen die Mutter Gottes verherrlichte, eine größere Verehrung derselben auch nur möglich gewesen wäre? Allein diesem gegenüber macht sich in Italien eine ungemein viel größere Anzahl von wundertätigen Marienbildern geltend, mit einer unaufhörlichen Intervention in das tägliche Leben. Jede beträchtliche Stadt besitzt ihrer eine ganze Reihe, von den uralten oder für uralt geltenden „Malereien des St. Lukas“ bis zu den Arbeiten von Zeitgenossen, welche die Mirakel ihrer Bilder nicht selten noch erleben konnten. Das Kunstwerk ist hier gar nicht so harmlos, wie Battista Mantovano glaubt; es gewinnt, je nach Umständen, plötzlich eine magische Gewalt. Das populäre Wunderbedürfnis, zumal der Frauen, mag dabei vollständig gestillt worden sein und schon deshalb der Reliquien wenig mehr geachtet haben. Inwiefern dann noch der Spott der Novellisten gegen falsche Reliquien auch den für echt geltenden Eintrag tat, mag auf sich beruhen.

Das Verhältnis der Gebildeten zum Mariendienst zeichnet sich dann schon etwas klarer als das zum Reliquiendienst. Es darf zunächst auffallen, dass in der Literatur Dante mit seinem Paradies eigentlich der letzte bedeutende Mariendichter der Italiener geblieben ist, während im Volk die Madonnenlieder bis auf den heutigen Tag neu hervorgebracht werden. Man wird vielleicht Sannazaro, Sabellico und andere lateinische Dichter namhaft machen wollen, allein ihre wesentlich literarischen Zwecke benehmen ihnen ein gutes Teil der Beweiskraft. Diejenigen italienisch abgefassten Gedichte des XV. Jahrhunderts und des beginnenden XVI., aus welche eine unmittelbare Religiosität zu uns spricht, könnten meist auch von Protestanten geschrieben sein; so die betreffenden Hymnen usw. des Lorenzo magnifico, die Sonette der Vittoria Colonna, des Michelangelo usw. Abgesehen von dem lyrischen Ausdruck des Theismus redet meist das Gefühl der Sünde, das Bewusstsein der Erlösung durch den Tod Christi, die Sehnsucht nach der höheren Welt, wobei die Fürbitte der Mutter Gottes nur ganz ausnahmsweise erwähnt wird. Es ist dasselbe Phänomen, welches sich in der klassischen Bildung der Franzosen, in der Literatur Ludwigs XIV. wiederholt. Erst die Gegenreformation brachte in Italien den Mariendienst wieder in die Kunstdichtung zurück. Freilich hatte inzwischen die bildende Kunst das Höchste getan zur Verherrlichung der Madonna. Der Heiligendienst endlich nahm bei den Gebildeten nicht selten eine wesentlich heidnische Farbe an.

Wir könnten nun noch verschiedene Seiten des damaligen italienischen Katholizismus auf diese Weise prüfend durchgehen und das vermutliche Verhältnis der Gebildeten zum Volksglauben bis zu einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit ermitteln, ohne doch je zu einem durchgreifenden Resultat zu gelangen. Es gibt schwer zu deutende Kontraste. Während z. B. an und für Kirchen rastlos gebaut, gemeißelt und gemalt wird, vernehmen wir aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts die bitterste Klage über Erschlaffung im Kultus und Vernachlässigung derselben Kirchen: Templa ruunt, passim sordent altaria, cultus paulatkn divinus abit! ... Es ist bekannt, wie Luther in Rom durch das weihelose Benehmen der Priester bei der Messe geärgert wurde. Und daneben waren die kirchlichen Feste mit einer Pracht und einem Geschmack ausgestattet, wovon der Norden keinen Begriff hatte. Man wird annehmen müssen, dass das Phantasievolk im vorzugsweisen Sinne das Alltägliche gern vernachlässigte, um dann von dem Außergewöhnlichen sich hinreißen zu lassen.

Durch die Phantasie erklären sich auch jene Bußepidemien, von welchen hier noch die Rede sein muss. Sie sind wohl zu unterscheiden von den Wirkungen jener großen Bußprediger; was sie hervorruft, sind große allgemeine Kalamitäten oder die Furcht vor solchen.

Im Mittelalter kam von Zeit zu Zeit über ganz Europa irgendein Sturm dieser Art, wobei die Massen sogar in strömende Bewegung gerieten, wie z. B. bei den Kreuzzügen und Geißelfahrten. Italien beteiligte sich bei beiden; die ersten, ganz gewaltigen Geißlerscharen traten hier auf, gleich nach dem Sturze Ezzelinos und seines Hauses, und zwar in der Gegend desselben Perugia, das wir bereits als eine Hauptstation der späteren Bußprediger kennen lernten. Dann folgten die Flagellanten von 1310 und 1334 und dann die große Bußfahrt ohne Geißelung, von welcher Corio zum Jahre 1399 erzählt. Es ist nicht undenkbar, dass die Jubiläen zum Teil eingerichtet wurden, um diesen unheimlichen Wandertrieb religiös aufgeregter Massen möglichst zu regulieren und unschädlich zu machen; auch zogen die inzwischen neu berühmt gewordenen Wallfahrtsorte Italiens, wie z. B. Loreto, einen Teil jener Aufregung an sich.

Aber in schrecklichen Augenblicken erwacht hier und da ganz spät die Glut der mittelalterlichen Buße, und das geängstigte Volk, zumal, wenn Prodigien hinzukommen, will mit Geißelungen und lautem Geschrei um Barmherzigkeit den Himmel erweichen. So war es bei der Pest von 1457 zu Bologna, so bei den inneren Wirren von 1496 in Siena, um aus zahllosen Beispielen nur zwei zu wählen. Wahrhaft erschütternd aber ist, was 1529 zu Mailand geschah, als die drei furchtbaren Geschwister Krieg, Hunger und Pest samt der spanischen Aussaugerei die höchste Verzweiflung über das Land gebracht hatten. Zufällig war es ein spanischer Mönch, Fra Tommaso Nieto, auf den man jetzt hörte; bei den barfüßigen Prozessionen von alt und jung ließ er das Sakrament auf eine neue Weise mittragen, nämlich befestigt auf einer geschmückten Bahre, welche auf den Schultern von vier Priestern im Linnengewande ruhte — eine Nachahmung der Bundeslade, wie sie einst das Volk Israel um die Mauern von Jericho trug. So erinnerte das gequälte Volk von Mailand den alten Gott an seinen alten Bund mit den Menschen, und als die Prozession wieder in den Dom einzog und es schien, als müsse von dem Jammerruf miserioordia! der Riesenbau einstürzen, da mochte wohl mancher glauben, der Himmel müsse in die Gesetze der Natur und der Geschichte eingreifen durch irgend ein rettendes Wunder.

Es gab aber eine Regierung in Italien, welche sich in solchen Zeiten sogar an die Spitze der allgemeinen Stimmung stellte und die vorhandene Bußfertigkeit polizeilich ordnete: die des Herzogs Ercole I. von Ferrara. Als Savonarola in Florenz mächtig war, und Weissagung und Buße in weiten Kreisen, auch über den Apennin hinaus, das Volk zu ergreifen begannen, kam auch über Ferrara großes freiwilliges Fasten (Anfang 1496); ein Lazarist verkündete nämlich von der Kanzel den baldigen Eintritt der schrecklichsten Kriegs- und Hungersnot, welche die Welt gesehen; wer jetzt faste, könne diesem Unheil entgehen, so habe es die Madonna einem frommen Ehepaar verkündigt. Darauf konnte auch der Hof nicht umhin, zu fasten, aber er ergriff nun selber die Leitung der Devotion. Am 3. April (Ostertag) erschien ein Sitten- und Andachtsedikt gegen Lästerung Gottes und der hl. Jungfrau, verbotene Spiele, Sodomie, Konkubinat, Häuservermieten an Huren und deren Wirte, Öffnung der Buden an Festtagen, mit Ausnahme der Bäcker und Gemüsehändler, usw.; die Juden und Maranen, deren viele aus Spanien hergeflüchtet waren, sollten wieder ihr gelbes O auf der Brust genäht tragen. Die Zuwiderhandelnden wurden bedroht nicht nur mit den im bisherigen Gesetz verzeichneten Strafen, sondern auch „mit den noch größeren, welche der Herzog zu verhängen für gut finden wird“. Darauf ging der Herzog samt dem Hofe mehrere Tage nacheinander zur Predigt; am 10. April mussten sogar alle Juden von Ferrara dabei sein. Allein am 3. Mai ließ der Polizeidirektor — der schon oben erwähnte Gregorio Zampante — ausrufen: wer den Schergen Geld gegeben habe, um nicht als Lästerer angezeigt zu werden, möge sich melden, um es samt weiterer Vergütung zurückzuerhalten; diese schändlichen Menschen nämlich hatten von Unschuldigen bis auf zwei, drei Dukaten erpresst durch die Androhung der Denunziation und einander dann gegenseitig verraten, worauf sie selbst in den Kerker kamen. Da man aber eben nur bezahlt hatte, um nicht mit dem Zampante zu tun zu haben, so möchte auf sein Ausschreiben kaum jemand erschienen sein. — Im Jahre 1500, nach dem Sturze des Lodovico Moro, als ähnliche Stimmungen wiederkehrten, verordnete Ercole von sich aus eine Folge von neun Prozessionen, wobei auch die weißgekleideten Kinder mit der Jesusfahne nicht fehlen durften; er selber ritt mit im Zuge, weil er schlecht zu Fuße war. Dann folgte ein Edikt ganz ähnlichen Inhaltes wie das von 1496. Die zahlreichen Kirchen- und Klosterbauten dieser Regierung sind bekannt, aber selbst eine leibhaftige Heilige, die Suor Colomba, ließ sich Ercole kommen, ganz kurz, bevor er seinen Sohn Alfonso mit der Lucrezia Borgia vermählen musste (1502). Ein Kabinettskurier holte die Heilige von Viterbo mit 15 anderen Nonnen ab, und der Herzog selber führte sie bei der Ankunft in Ferrara in ein bereitgehaltenes Kloster ein. Tun wir ihm Unrecht, wenn wir in all diesen Dingen die stärkste politische Absichtlichkeit voraussetzen? Zu der Herrscheridee des Hauses Este, wie sie oben nachgewiesen wurde, gehört eine solche Mitbenützung und Dienstbarmachung des Religiösen beinahe schon nach den Gesetzen der Logik.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 6. Buch