Die Moralität: Grenzen des Urteils — Bewusstsein der Demoralisation — Das moderne Ehrgefühl — Herrschaft der Phantasie — Spielsucht und Rachsucht — Verletzung der Ehe — Sittliche Stellung der Frau — Die vergeistigte Liebe — Der allgemeine Frevelsinn — Räuberwesen — Der bezahlte Mord — Die Vergiftungen — Die absoluten Bösewichter — Verhältnis der Sittlichkeit zum Individualismus

Das Verhältnis der einzelnen Völker zu den höchsten Dingen, zu Gott, Tugend und Unsterblichkeit, lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grade erforschen, niemals aber in strenger Parallele darstellen. Je deutlicher die Aussagen auf diesem Gebiete zu sprechen scheinen, desto mehr muss man sich vor einer unbedingten Annahme, einer Verallgemeinerung derselben hüten.

Vor allem gilt dies von dem Urteil über die Sittlichkeit. Man wird viele einzelne Kontraste und Nuancen zwischen den Völkern nachweisen können, die absolute Summe des Ganzen aber zu ziehen ist menschliche Einsicht zu schwach. Die große Verrechnung von Nationalcharakter, Schuld und Gewissen bleibt eine geheime, schon weil die Mängel eine zweite Seite haben, wo sie dann als nationale Eigenschaften, ja als Tugenden erscheinen. Solchen Autoren, welche den Völkern gerne allgemeine Zensuren, und zwar bisweilen im heftigsten Tone schreiben, muss man ihr Vergnügen lassen. Abendländische Völker können einander misshandeln, aber glücklicherweise nicht richten. Eine große Nation, die durch Kultur, Taten und Erlebnisse mit dem Leben der ganzen neueren Welt verflochten ist, überhört es, ob man sie anklage oder entschuldige; sie lebt weiter mit oder ohne Gutheißen der Theoretiker.


So ist denn auch, was hier folgt, kein Urteil, sondern eine Reihe von Randbemerkungen, wie sie sich bei mehrjährigem Studium der italienischen Renaissance von selber ergaben. Ihre Geltung ist eine um so beschränktere, als sie sich meist auf das Leben der höheren Stände beziehen, über welche wir hier im guten wie im bösen unverhältnismäßig reichlicher unterrichtet sind als bei anderen europäischen Völkern. Weil aber Ruhm und Schmach hier lauter tönen als sonst irgendwo, so sind wir deshalb der allgemeinen Bilanz der Sittlichkeit noch um keinen Schritt näher.

Wessen Auge dringt in die Tiefen, wo sich Charaktere und Schicksale der Völker bilden? Wo Angeborenes und Erlebtes zu einem neuen Ganzen gerinnt und zu einem zweiten, dritten Naturell wird? Wo selbst geistige Begabungen, die man auf den ersten Blick für ursprünglich halten würde, sich erst relativ spät und neu bilden? Hatte z. B. der Italiener vor dem XIII. Jahrhundert schon jene leichte Lebendigkeit und Sicherheit des ganzen Menschen, jene mit allen Gegenständen spielende Gestaltungskraft in Wort und Form, die ihm seitdem eigen ist? — Und wenn wir solche Dinge nicht wissen, wie sollen wir das unendlich reiche und feine Geäder beurteilen, durch welches Geist und Sittlichkeit unaufhörlich ineinander überströmen? Wohl gibt es eine persönliche Zurechnung und ihre Stimme ist das Gewissen, aber die Völker möge man mit Generalsentenzen in Ruhe lassen. Das scheinbar kränkste Volk kann der Gesundheit nahe sein und ein scheinbar gesundes kann einen mächtig entwickelten Todeskeim in sich bergen, den erst die Gefahr an den Tag bringt.

Zu Anfang des XVI. Jahrhunderts, als die Kultur der Renaissance auf ihrer Höhe angelangt und zugleich das politische Unglück der Nation so viel als unabwendbar entschieden war, fehlte es nicht an ernsten Denkern, welche dieses Unglück mit der großen Sittenlosigkeit in Verbindung brachten. Es sind keine von jenen Bußpredigern, welche bei jedem Volke und zu jeder Zeit über die schlechten Zeiten zu klagen sich verpflichtet glauben, sondern ein Macchiavelli ist es, der mitten in einer seiner wichtigsten Gedankenreihen es offen ausspricht: ja, wir Italiener sind vorzugsweise irreligiös und böse. — Ein anderer hätte vielleicht gesagt: wir sind vorzugsweise individuell entwickelt; die Rasse hat uns aus den Schranken ihrer Sitte und Religion entlassen, und die äußeren Gesetze verachten wir, weil unsere Herrscher illegitim und ihre Beamten und Richter verworfene Menschen sind. — Macchiavelli selber setzt hinzu: weil die Kirche in ihren Vertretern das übelste Beispiel gibt.

Sollen wir hier noch beifügen: „weil das Altertum ungünstig einwirkte?“ — jedenfalls bedürfte eine solche Annahme sorgfältiger Beschränkungen. Bei den Humanisten wird man am ehesten davon reden dürfen, zumal in betreff ihres wüsten Sinnenlebens. Bei den übrigen möchte sich die Sache ungefähr so verhalten haben, dass an die Stelle des christlichen Lebensideals, der Heiligkeit, das der historischen Größe trat, seit sie das Altertum kannten. Durch einen naheliegenden Missverstand hielt man dann auch die Fehler für indifferent, trotz welcher die großen Männer groß gewesen waren. Vermutlich geschah dies fast unbewusst, denn wenn theoretische Aussagen dafür angeführt werden sollen, so muss man sie wieder bei den Humanisten suchen, wie z. B. bei Paolo Giovio, der den Eidbruch des Giangaleazzo Visconti, insofern dadurch die Gründung eines Reiches ermöglicht wurde, mit dem Beispiel des Julius Cäsar entschuldigt. Die großen florentinischen Geschichtsschreiber und Politiker sind von so knechtischen Zitaten völlig frei, und was in ihren Urteilen und Taten antik erscheint, ist es, weil ihr Staatswesen eine notwendig dem Altertum einigermaßen analoge Denkweise hervorgetrieben hatte.

Immerhin aber fand Italien um den Anfang des XVI. Jahrhunderts sich in einer schweren sittlichen Krisis, aus welcher die Besseren kaum einen Ausweg hofften.

Beginnen wir damit, die dem Bösen aufs stärkste entgegenwirkende sittliche Kraft namhaft zu machen. Jene hochbegabten Menschen glaubten sie zu erkennen in Gestalt des Ehrgefühls. Es ist die rätselhafte Mischung aus Gewissen und Selbstsucht, welche dem modernen Menschen noch übrig bleibt, auch wenn er durch oder ohne seine Schuld alles übrige, Glauben, Liebe und Hoffnung eingebüßt hat. Dieses Ehrgefühl verträgt sich mit vielem Egoismus und großen Lastern und ist ungeheurer Täuschungen fähig; aber auch alles Edle, das in einer Persönlichkeit übrig geblieben, kann sich daran anschließen und aus diesem Quell neue Kräfte schöpfen. In viel weiterem Sinne, als man gewöhnlich denkt, ist es für die heutigen individuell entwickelten Europäer eine entscheidende Richtschnur des Handelns geworden; auch viele von denjenigen, welche noch außerdem Sitte und Religion treulich festhalten, fassen doch die wichtigsten Entschlüsse unbewusst nach jenem Gefühl.

Es ist nicht unsere Aufgabe nachzuweisen, wie schon das Altertum eine eigentümliche Schattierung dieses Gefühles kannte und wie dann das Mittelalter die Ehre in einem speziellen Sinne zur Sache eines bestimmten Standes machte. Auch dürfen wir mit denjenigen nicht streiten, welche das Gewissen allein statt des Ehrgefühls als die wesentliche Triebkraft ansehen; es wäre schöner und besser, wenn es sich so verhielte, allein sobald man doch zugeben muss, dass die besseren Entschlüsse aus einem „von Selbstsucht mehr oder weniger getrübten Gewissen“ hervorgehen, so nenne man lieber diese Mischung mit ihrem Namen. Allerdings ist es bei den Italienern der Renaissance bisweilen schwer, dieses Ehrgefühl von der direkten Ruhmbegier zu unterscheiden, in welche dasselbe häufig übergeht. Doch bleiben es wesentlich zwei verschiedene Dinge.

An Aussagen über diesen Punkt fehlt es nicht. Eine besonders deutliche mag statt vieler hier ihre Stelle finden; sie stammt aus den erst neuerlich an den Tag getretenen Aphorismen des Guicciardini. „Wer die Ehre hochhält, dem gelingt alles, weil er weder Mühe, Gefahr noch Kosten scheut; ich habe es an mir selbst erprobt und darf es sagen und schreiben: eitel und tot sind diejenigen Handlungen der Menschen, welche nicht von diesem starken Antrieb ausgehen.“ Wir müssen freilich hinzusetzen, dass nach anderweitiger Kunde vom Leben des Verfassers hier durchaus nur vom Ehrgefühl und nicht vom eigentlichen Ruhme die Rede sein kann. Schärfer aber als vielleicht alle Italiener hat Rabelais die Sache betont. Zwar nur ungern mischen wir diesen Namen in unsere Forschung; was der gewaltige, stets barocke Franzose gibt, gewährt uns ungefähr ein Bild davon, wie die Renaissance sich ausnehmen würde ohne Form und ohne Schönheit. Aber seine Schilderung eines Idealzustandes im Thelemitenkloster ist kulturgeschichtlich entscheidend, so dass ohne diese höchste Phantasie das Bild des XVI. Jahrhunderts unvollständig wäre. Er erzählt von diesen seinen Herren und Damen vom Orden des freien Willens unter anderem wie folgt:

En leur reigle n’estoit que ceste clause: Fay ce que vouldras. Parce que gens liberes, bien nayz, bien instruictz, conversans en compaignies honnestes, ont par nature ung instinct et aguillon qui tousjours les poulse à faictz vertueux, et retire de vice: lequel ilz nommoyent honneur.

Es ist derselbe Glaube an die Güte der menschlichen Natur, welcher auch die zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts beseelte und der französischen Revolution die Wege bereiten half. Auch bei den Italienern appelliert jeder individuell an diesen seinen eigenen edlen Instinkt, und wenn im großen und ganzen — hauptsächlich unter dem Eindruck des nationalen Unglückes — pessimistischer geurteilt oder empfunden wird, gleichwohl wird man immer jenes Ehrgefühl hochhalten müssen. Wenn einmal die schrankenlose Entwicklung des Individuums eine welthistorische Fügung, wenn sie stärker war als der Wille des einzelnen, so ist auch diese gegenwirkende Kraft, wo sie im damaligen Italien vorkommt, eine große Erscheinung. Wie oft und gegen welch heftige Angriffe der Selbstsucht sie den Sieg davontrug, wissen wir eben nicht, und deshalb reicht unser menschliches Urteil überhaupt nicht aus, um den absoluten moralischen Wert der Nation richtig zu schätzen.

Was nun der Sittlichkeit des höher entwickelten Italieners der Renaissance als wichtigste allgemeine Voraussetzung gegenübersteht, ist die Phantasie. Sie vor allem verleiht seinen Tugenden und Fehlern ihre besondere Farbe; unter ihrer Herrschaft gewinnt seine entfesselte Selbstsucht erst ihre volle Furchtbarkeit.

Um ihretwillen wird er z. B. der früheste große Hasardspieler der neueren Zeit, indem sie ihm die Bilder des künftigen Reichtums und der künftigen Genüsse mit einer solchen Lebendigkeit vormalt, dass er das Äußerste daransetzt. Die mohammedanischen Völker wären ihm hierin ohne allen Zweifel vorangegangen, hätte nicht der Koran von Anfang an das Spielverbot als die notwendigste Schutzwehr islamitischer Sitte festgestellt und die Phantasie seiner Leute an Auffindung vergrabener Schätze gewiesen. In Italien wurde eine Spielwut allgemein, welche schon damals häufig genug die Existenz des einzelnen bedrohte oder zerstörte. Florenz hat schon zu Ende des XIV. Jahrhunderts seinen Casanova, einen gewissen Buonaccorso Pitti, welcher auf beständigen Reisen als Kaufmann, Parteigänger, Spekulant, Diplomat und Spieler von Profession enorme Summen gewann und verlor und nur noch Fürsten zu Partnern gebrauchen konnte, wie die Herzoge von Brabant, Bayern und Savoyen. Auch der große Glückstopf, welchen man die römische Kurie nannte, gewöhnte seine Leute an ein Bedürfnis der Aufregung, welches sich in den Zwischenpausen der großen Intrigen notwendig durch Würfelspiel Luft machte. Franceschetto Cybò verspielte z. B. einst in zwei Malen an Kardinal Raffaele Riario 14.000 Dukaten und klagte hernach beim Papst, sein Mitspieler habe ihn betrogen. In der Folge wurde bekanntlich Italien die Heimat des Lotteriewesens.

Die Phantasie ist es auch, welche hier der Rachsucht ihren besonderen Charakter gibt. Das Rechtsgefühl wird wohl im ganzen Abendland von jeher eins und dasselbe gewesen und seine Verletzung, so oft sie ungestraft blieb, auf die gleiche Weise empfunden worden sein. Aber andere Völker, wenn sie auch nicht leichter verzeihen, können doch leichter vergessen, während die italienische Phantasie das Bild des Unrechts in furchtbarer Frische erhält. Dass zugleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt und oft auf das grässlichste geübt wird, gibt dieser allgemeinen Rachsucht noch einen besonderen Grund und Boden. Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Dasein und ihre Berechtigung an und suchen nur den schlimmsten Exzessen zu steuern. Aber auch unter den Bauern kommen thyesteische Mahlzeiten und weit sich ausbreitender Wechselmord vor; hören wir nur einen Zeugen.

In der Landschaft von Acquapendente hüteten drei Hirtenknaben das Vieh und einer sagte: wir wollen versuchen, wie man die Leute henkt. Als der eine dem andern auf der Schulter saß und der dritte den Strick zuerst um dessen Hals schlang und dann an eine Eiche band, kam der Wolf, so dass die beiden entflohen und jenen hängen ließen. Hernach fanden sie ihn tot und begruben ihn. Sonntags kam sein Vater um ihm Brot zu bringen, und einer von den beiden gestand ihm den Hergang und zeigte ihm das Grab. Der Alte aber tötete diesen mit einem Messer, schnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirtete damit zu Hause dessen Vater; dann sagte er ihm, wessen Leber er gegessen. Hierauf begann das wechselseitige Morden zwischen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren 36 Personen, Weiber sowohl als Männer, umgebracht.

Und solche Vendetten, erblich bis auf mehrere Generationen, auf Seitenverwandte und Freunde, erstreckten sich auch weit in die höheren Stände hinauf. Chroniken sowohl als Novellensammlungen sind voll von Beispielen, zumal von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der klassische Boden hiefür war besonders die Romagna, wo sich die Vendetta mit allen erdenklichen sonstigen Parteiungen verflocht. In furchtbarer Symbolik stellt die Sage bisweilen die Verwilderung dar, welche über dieses kühne, kräftige Volk kam. So z. B. in der Geschichte von jenem vornehmen Ravennaten, der seine Feinde in einem Turm beisammen hatte und sie hätte verbrennen können, statt dessen aber sie herausließ, umarmte und herrlich bewirtete, worauf die wütende Scham sie erst recht zur Verschwörung antrieb. Unablässig predigten fromme, ja heilige Mönche zur Versöhnung, aber es wird alles gewesen sein, was sie erreichten, wenn sie die schon im Gange befindlichen Vendetten einschränkten; das Entstehen von neuen werden sie wohl schwerlich gehindert haben. Die Novellen schildern uns nicht selten auch diese Einwirkung der Religion, die edle Aufwallung und dann deren Sinken durch das Schwergewicht dessen, was vorangegangen und doch nicht mehr zu ändern ist. Hatte doch der Papst in Person nicht immer Glück im Friedenstiften: „Papst Paul II. wollte, dass der Hader zwischen Antonio Caffarello und dem Hause Alberino aufhöre und ließ Giovanni Alberino und Antonio Caffarello vor sich kommen und befahl ihnen, einander zu küssen und kündigte ihnen 2.000 Dukaten Strafe an, wenn sie einander wieder ein Leid antäten, und zwei Tage darauf wurde Antonio von demselben Giacomo Alberino, Sohn des Giovanni, gestochen, der ihn vorher schon verwundet hatte, und Papst Paul wurde sehr unwillig und ließ den Alberino die Habe konfiszieren und die Häuser schleifen und Vater und Sohn aus Rom verbannen.“ Die Eide und Zeremonien, wodurch die Versöhnten sich vor dem Rückfall zu sichern suchen, sind bisweilen ganz entsetzlich; als am Silvesterabend 1494 im Dom von Siena die Parteien der Nove und der Popolari sich paarweise küssen mussten, wurde ein Schwur dazu verlesen, worin dem künftigen Übertreter alles zeitliche und ewige Heil abgesprochen wurde, „ein Schwur so erstaunlich und schrecklich, wie noch keiner erhört worden“; selbst die letzten Tröstungen in der Todesstunde sollten sich in Verdammnis verkehren für den, welcher ihn verletzen würde. Es leuchtet ein, dass dergleichen mehr die verzweifelte Stimmung der Vermittler als eine wirkliche Garantie des Friedens ausdrückte, und dass gerade die wahrste Versöhnung am wenigsten solcher Worte bedurfte.

Das individuelle Rachebedürfnis des Gebildeten und des Hochstehenden, ruhend auf der mächtigen Grundlage einer analogen Volkssitte, spielt nun natürlich in tausend Farben und wird von der öffentlichen Meinung, welche hier aus den Novellisten redet, ohne allen Rückhalt gebilligt. Alle Welt ist darüber einig, dass bei denjenigen Beleidigungen und Verletzungen, für welche die damalige italienische Justiz kein Recht schafft, und vollends bei denjenigen, gegen die es nie und nirgends ein genügendes Gesetz gegeben hat, noch geben kann, jeder sich selber Recht schaffen dürfe. Nur muss Geist in der Rache sein und die Satisfaktion sich mischen aus tatsächlicher Schädigung und geistiger Demütigung des Beleidigers; brutale plumpe Übermacht allein gilt in der öffentlichen Meinung für keine Genugtuung. Das ganze Individuum, mit seiner Anlage zu Ruhm und Hohn muss triumphieren, nicht bloß die Faust.

Der damalige Italiener ist vieler Verstellung fähig, um bestimmte Zwecke zu erreichen, aber gar keiner Heuchelei in Sachen von Prinzipien, weder vor anderen noch vor sich selber. Mit völliger Naivität wird deshalb auch diese Rache als ein Bedürfnis zugestanden. Ganz kühle Leute preisen sie vorzüglich dann, wenn sie, getrennt von eigentlicher Leidenschaft, um der bloßen Zweckmäßigkeit willen auftritt, „damit andere Menschen lernen dich unangefochten zu lassen“. Doch werden solche Fälle eine kleine Minderzahl gewesen sein gegenüber von denjenigen, da die Leidenschaft Abkühlung suchte. Deutlich scheidet sich hier diese Rache von der Blutrache ; während letztere sich eher noch innerhalb der Schranken der Vergeltung, des ius talionis hält, geht die erstere notwendig darüber hinaus, indem sie nicht nur die Beistimmung des Rechtsgefühls verlangt, sondern die Bewunderer und je nach Umständen die Lacher auf ihrer Seite haben will.

Hierin liegt denn auch der Grund des oft langen Aufschiebens. Zu einer „bella Vendetta“ gehört in der Regel ein Zusammentreffen von Umständen, welches durchaus abgewartet werden muss. Mit einer wahren Wonne schildern die Novellisten hie und da das allmähliche Heranreifen solcher Gelegenheiten.

Über die Moralität von Handlungen, wobei Kläger und Richter eine Person sind, braucht es weiter keines Urteils. Wenn diese italienische Rachsucht sich irgendwie rechtfertigen wollte, so müsste dies geschehen durch den Nachweis einer entsprechenden nationalen Tugend, nämlich der Dankbarkeit; dieselbe Phantasie, welche das erlittene Unrecht auffrischt und vergrößert, musste auch das empfangene Gute im Andenken erhalten. Es wird niemals möglich sein, einen solchen Nachweis im Namen des ganzen Volkes zu führen, doch fehlt es nicht an Spuren dieser Art im jetzigen italienischen Volkscharakter. Dahin gehört bei den gemeinen Leuten die große Erkenntlichkeit für honette Behandlung und bei den höheren Ständen das gute gesellschaftliche Gedächtnis.

Dieses Verhältnis der Phantasie zu den moralischen Eigenschaften des Italieners wiederholt sich nun durchgängig. Wenn daneben scheinbar viel mehr kalte Berechnung zu Tage tritt in Fällen, da der Nordländer mehr dem Gemüte folgt, so hängt dies wohl davon ab, dass der Italiener häufiger sowohl als früher und stärker individuell entwickelt ist. Wo dies außerhalb Italiens ebenfalls stattfindet, da ergeben sich auch ähnliche Resultate; die zeitige Entfremdung vom Hause und von der väterlichen Autorität z. B. ist der italienischen und der nordamerikanischen Jugend gleichmäßig eigen. Später stellt sich dann bei den edleren Naturen das Verhältnis einer freien Pietät zwischen Kindern und Eltern ein.

Jacopo della Quercia: Vertreibung aus dem Paradiese. Bologna, San Petronio

Florenz, Findelhaus

Florenz, S. Crocc, Cappella Pazzi

Jacopo delia Quercia: Carita von der Fönte Gaia. Siena, Palazzo Comunale

Andrea Mantegna: Grablegung Christi, Kupferstich

Signorelli: Die Taten des Antichrist. Orvieto, Dom


Es ist überhaupt ganz besonders schwer, über die Sphäre des Gemütes bei anderen Nationen zu urteilen. Dasselbe kann sehr entwickelt vorhanden sein, aber in so fremdartiger Weise, dass der von draußen Kommende es nicht erkennt, es kann sich auch wohl vollkommen vor ihm verstecken. Vielleicht sind alle abendländischen Nationen in dieser Beziehung gleichmäßig begnadigt.

Wenn aber irgendwo die Phantasie als gewaltige Herrin sich in die Moralität gemischt hat, so ist dies geschehen im unerlaubten Verkehr der beiden Geschlechter. Vor der gewöhnlichen Hurerei scheute sich bekanntlich das Mittelalter überhaupt nicht, bis die Syphilis kam, und eine vergleichende Statistik der damaligen Prostitution jeder Art gehört nicht hierher. Was aber dem Italien der Renaissance eigen zu sein scheint, ist, dass die Ehe und ihr Recht vielleicht mehr und jedenfalls bewusster als anderswo mit Füßen getreten wird. Die Mädchen der höheren Stände, sorgfältig abgeschlossen, kommen nicht in Betracht; auf verheiratete Frauen bezieht sich alle Leidenschaft.

Dabei ist bemerkenswert, dass die Ehen doch nicht nachweisbar abnahmen und dass das Familienleben bei weitem nicht diejenige Zerstörung erlitt, welche es im Norden unter ähnlichen Umständen erleiden würde. Man wollte völlig nach Willkür leben, aber durchaus nicht auf die Familie verzichten, selbst wenn zu fürchten stand, dass es nicht ganz die eigene sei. Auch sank die Rasse deshalb weder physisch noch geistig — denn von derjenigen scheinbaren geistigen Abnahme, welche sich gegen die Mitte des XVI. Jahrhunderts zu erkennen gibt, lassen sich ganz bestimmte äußere Ursachen politischer und kirchlicher Art namhaft machen, selbst wenn man nicht zugeben will, dass der Kreis der möglichen Schöpfungen der Renaissance durchlaufend gewesen sei. Die Italiener fuhren fort, trotz aller Ausschweifung, zu den leiblich und geistig gesündesten und wohlgeborensten Bevölkerungen Europas zu gehören, und behaupten diesen Vorzug bekanntlich bis auf diesen Tag, nachdem sich die Sitten sehr gebessert haben.

Wenn man nun der Liebesmoral der Renaissance näher nachgeht, so findet man sich betroffen von einem merkwürdigen Gegensatz in den Aussagen. Die Novellisten und Komödiendichter machen den Eindruck, als bestände die Liebe durchaus nur im Genüsse und als wären zu dessen Erreichung alle Mittel, tragische wie komische, nicht nur erlaubt, sondern je kühner und frivoler, desto interessanter. Liest man die besseren Lyriker und Dialogenschreiber, so lebt in ihnen die edelste Vertiefung und Vergeistigung der Leidenschaft, ja der letzte und höchste Ausdruck derselben wird gesucht in einer Aneignung antiker Ideen von einer ursprünglichen Einheit der Seelen im göttlichen Wesen. Und beide Anschauungen sind damals wahr und in einem und demselben Individuum vereinbar. Es ist nicht durchaus rühmlich, aber es ist eine Tatsache, dass in dem modernen gebildeten Menschen die Gefühle auf verschiedenen Stufen zugleich nicht nur stillschweigend vorhanden sind, sondern auch zur bewussten, je nach Umständen künstlerischen Darstellung kommen. Erst der moderne Mensch ist, wie der antike, auch in dieser Beziehung ein Mikrokosmus, was der mittelalterliche nicht war und nicht sein konnte.

Zunächst ist die Moral der Novellen beachtenswert. Es handelt sich in den meisten derselben, wie bemerkt, um Ehefrauen und also um Ehebruch.

Höchst wichtig erscheint nun hier jene oben erwähnte Ansicht von der gleichen Geltung des Weibes mit dem Manne. Die höher gebildete, individuell entwickelte Frau verfügt über sich mit einer ganz anderen Souveränität als im Norden, und die Untreue macht nicht jenen furchtbaren Riss durch ihr Leben, sobald sie sich gegen die äußeren Folgen sichern kann. Das Recht des Gemahles auf ihre Treue hat nicht denjenigen festen Boden, den es bei den Nordländern durch die Poesie und Leidenschaft der Werbung und des Brautstandes gewinnt; nach flüchtigster Bekanntschaft, unmittelbar aus dem elterlichen oder klösterlichen Gewahrsam tritt die junge Frau in die Welt und nun erst bildet sich ihre Individualität ungemein schnell aus. Hauptsächlich deshalb ist jenes Recht des Gatten nur ein sehr bedingtes, und auch wer es als ein ius quaesitum ansieht, bezieht es doch nur auf die äußere Tat, nicht auf das Herz. Die schöne junge Gemahlin eines Greises z. B. weist die Geschenke und Botschaften eines jungen Liebhabers zurück, im festen Vorsatz, ihre Ehrbarkeit (honesta) zu behaupten. „Aber sie freute sich doch der Liebe des Jünglings wegen seiner großen Trefflichkeit, und sie erkannte, dass ein edles Weib einen ausgezeichneten Menschen lieben darf ohne Nachteil ihrer Ehrbarkeit.“ Wie kurz ist aber der Weg von einer solchen Distinktion bis zur völligen Hingebung.

Letztere erscheint dann soviel als berechtigt, wenn Untreue des Mannes hinzukommt. Das individuell entwickelte Weib empfindet dieselbe bei weitem nicht bloß als einen Schmerz, sondern als Hohn und Demütigung, namentlich als Überlistung, und nun übt sie, oft mit ziemlich kaltem Bewusstsein, die vom Gemahl verdiente Rache. Ihrem Takt bleibt es überlassen, das für den betreffenden Fall richtige Strafmaß zu treffen. Die tiefste Kränkung kann z. B. einen Ausweg zur Versöhnung und zu künftigem ruhigem Leben anbahnen, wenn sie völlig geheim bleibt. Die Novellisten, welche dergleichen dennoch erfahren oder es gemäß der Atmosphäre ihrer Zeit erdichten, sind voll von Bewunderung, wenn die Rache höchst angemessen, wenn sie ein Kunstwerk ist. Es versteht sich, dass der Ehemann ein solches Vergeltungsrecht doch im Grunde nie anerkennt und sich nur aus Furcht oder aus Klugheitsgründen fügt. Wo diese wegfallen, wo er um der Untreue seiner Gemahlin ohnehin erwarten oder wenigstens besorgen muss, von dritten Personen ausgehöhnt zu werden, da wird die Sache tragisch. Nicht selten folgt die gewaltsamste Gegenrache und der Mord. Es ist höchst bezeichnend für die wahre Quelle dieser Taten, dass außer dem Gemahl auch die Brüder und der Vater der Frau sich dazu berechtigt, ja verpflichtet glauben; die Eifersucht hat also nichts mehr damit zu tun, das sittliche Gefühl wenig, der Wunsch, dritten Personen ihren Spott zu verleiden das meiste. „Heute“, sagt Bandello, „sieht man eine, um ihre Lüste zu erfüllen, den Gemahl vergiften, als dürfte sie dann, weil sie Witwe geworden, tun was ihr beliebt. Eine andere, aus Furcht vor Entdeckung ihres unerlaubten Umganges, lässt den Gemahl durch den Geliebten ermorden. Dann erheben sich Väter, Brüder und Gatten, um sich die Schande aus den Augen zu schaffen, mit Gift, Schwert und anderen Mitteln, und dennoch fahren viele Weiber fort, mit Verachtung des eigenen Lebens und der Ehre, ihren Leidenschaften nachzuleben.“ Ein andermal, in milderer Stimmung, ruft er aus: „Wenn man doch nur nicht täglich hören müsste: Dieser hat seine Frau ermordet, weil er Untreue vermutete, jener hat die Tochter erwürgt, weil sie sich heimlich vermählt harte, jener endlich hat seine Schwester töten lassen, weil sie sich nicht nach seinen Ansichten vermählen wollte ! Es ist doch eine große Grausamkeit, dass wir alles tun wollen, was uns in den Sinn kommt und den armen Weibern nicht dasselbe zugestehen. Wenn sie etwas tun, was uns missfällt, so sind wir gleich mit Strick, Dolch und Gift bei der Hand. Welche Narrheit der Männer, vorauszusetzen, dass ihre und des ganzen Hauses Ehre von der Begierde eines Weibes abhänge!“ Leider wusste man den Ausgang solcher Dinge bisweilen so sicher voraus, dass der Novellist auf einen bedrohten Liebhaber Beschlag legen konnte, während derselbe noch lebendig herumlief. Der Arzt Antonio Bologna hatte sich insgeheim mit der verwitweten Herzogin von Malfi, vom Hause Aragon, vermählt; bereits hatten ihre Brüder sie und ihre Kinder wieder in ihre Gewalt bekommen und in einem Schloss ermordet. Antonio, der letzteres noch nicht wusste und mit Hoffnungen hingehalten wurde, befand sich in Mailand, wo ihm schon gedungene Mörder auflauerten, und sang in Gesellschaft bei der Ippolita Sforza die Geschichte seines Unglückes zur Laute. Ein Freund des genannten Hauses, Delio, „erzählte die Geschichte bis zu diesem Punkte dem Scipione Atellano und fügte bei, er werde dieselbe in einer seiner Novellen behandeln, da er gewiss wisse, dass Antonio ermordet werden würde“. Die Art, wie dies fast unter den Augen Delios und Atellanos eintraf, ist bei Bandello (I, 26) ergreifend geschildert.

Einstweilen aber nehmen die Novellisten doch fortwährend Partei für alles Sinnreiche, Schlaue und Komische, was beim Ehebruch vorkommt: mit Vergnügen schildern sie das Versteckspiel in den Häusern, die symbolischen Winke und Botschaften, die mit Kissen und Konfekt zum voraus versehenen Truhen, in welchen der Liebhaber verborgen und fortgeschafft werden kann, u. dgl. m. Der betrogene Ehemann wird je nach Umständen ausgemalt als eine ohnehin vom Hause aus lächerliche Person oder als ein furchtbarer Rächer; ein drittes gibt es nicht, es sei denn, dass das Weib als böse und grausam und der Mann oder Liebhaber als unschuldiges Opfer geschildert werden soll. Man wird indes bemerken, dass Erzählungen dieser letzteren Art nicht eigentliche Novellen, sondern nur Schreckensbeispiele aus dem wirklichen Leben sind.

Mit der Hispanisierung des italienischen Lebens im Verlauf des XVI. Jahrhunderts nahm die in den Mitteln höchst gewaltsame Eifersucht vielleicht noch zu, doch muss man dieselbe unterscheiden von der schon vorher vorhandenen, im Geist der italienischen Renaissance selbst begründeten Vergeltung der Untreue. Mit der Abnahme des spanischen Kultureinflusses schlug dann die auf die Spitze getriebene Eifersucht gegen Ende des XVII. Jahrhunderts in ihr Gegenteil um, in jene Gleichgültigkeit, welche den Cicisbeo als unentbehrliche Figur im Hause betrachtete und außerdem noch einen oder mehrere Geduldete (Patiti) sich gefallen ließen.

Wer will es nun unternehmen, die ungeheure Summe von Immoralität, welche in den geschilderten Verhältnissen liegt, mit dem zu vergleichen, was in anderen Ländern geschah. War die Ehe z. B. in Frankreich während des XV. Jahrhunderts wirklich heiliger als in Italien? Die Fabliaux und Farcen erregen starke Zweifel, und man sollte glauben, dass die Untreue ebenso häufig, nur der tragische Ausgang seltener gewesen, weil das Individuum mit seinen Ansprüchen weniger entwickelt war. Eher möchte zu Gunsten der germanischen Völker ein entscheidendes Zeugnis vorhanden sein, nämlich jene größere gesellschaftliche Freiheit der Frauen und Mädchen, welche den Italienern in England und in den Niederlanden so angenehm auffiel. Und doch wird man auch hierauf kein zu großes Gewicht legen dürfen. Die Untreue war gewiss ebenfalls sehr häufig und der individuell entwickeltere Mensch treibt es auch hier bis zur Tragödie. Man sehe nur, wie die damaligen nordischen Fürsten bisweilen auf den ersten Verdacht hin mit ihren Gemahlinnen umgehen.

Innerhalb des Unerlaubten aber bewegte sich bei den damaligen Italienern nicht nur das gemeine Gelüste, nicht nur die dumpfe Begier des gewöhnlichen Menschen, sondern auch die Leidenschaft der edelsten und besten; nicht bloß weil die unverheirateten Mädchen sich außerhalb der Gesellschaft befanden, sondern auch weil gerade der vollkommene Mann am stärksten angezogen wurde von dem bereits durch die Ehe ausgebildeten weiblichen Wesen. Diese Männer sind es, welche die höchsten Töne der lyrischen Poesie angeschlagen und auch in Abhandlungen und Dialogen von der verzehrenden Leidenschaft ein verklärtes Abbild zu geben versucht haben: l’amor divino. Wenn sie über die Grausamkeit des geflügelten Gottes klagen, so ist damit nicht bloß die Hartherzigkeit der Geliebten oder ihre Zurückhaltung gemeint, sondern auch das Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit der Verbindung. Über dieses Unglück suchen sie durch jene Vergeistigung der Liebe sich zu erheben, welche sich an die platonische Seelenlehre anlehnt und in Pietro Bembo ihren berühmtesten Vertreter gefunden hat. Man hört ihn unmittelbar im dritten Buch seiner Asolani, und mittelbar durch Castiglione, welcher ihm jene prachtvolle Schlussrede des vierten Buches des Cortigiano in den Mund legt. Beide Autoren waren im Leben keine Stoiker, aber in jener Zeit wollte es schon etwas heißen, wenn man ein berühmter und zugleich ein guter Mann war und diese Prädikate kann man beiden nicht versagen. Die Zeitgenossen nahmen das, was sie sagten, für wahrhaft gefühlt und so dürfen auch wir es nicht als bloßes Phrasenwerk verachten. Wer sich die Mühe nimmt, die Rede im Cortigiano nachzulesen, wird einsehen, wie wenig ein Exzerpt einen Begriff davon geben könnte. Damals lebten in Italien einige vornehme Frauen, welche wesentlich durch Verhältnisse dieser Art berühmt wurden, wie Giulia Gonzaga, Veronica da Coreggio und vor allen Vittoria Colonna. Das Land der stärksten Wüstlinge und der größten Spötter respektierte diese Gattung von Liebe und diese Weiber: Größeres lässt sich nicht zu ihren Gunsten sagen. Ob etwas Eitelkeit dabei war, ob Vittoria den sublimierten Ausdruck hoffnungsloser Liebe von seiten der berühmtesten Männer Italiens gerne um sich herum tönen hörte, wer mag es entscheiden? Wenn die Sache stellenweise eine Mode wurde, so war es immerhin kein Kleines, dass Vittoria wenigstens nicht aus der Mode kam und dass sie in der spätesten Zeit noch die stärksten Eindrücke hervorbrachte. — Es dauerte lange, bis andere Länder irgend ähnliche Erscheinungen aufwiesen.

Die Phantasie, welche dieses Volk mehr als ein anderes beherrscht, ist dann überhaupt eine allgemeine Ursache davon, dass jede Leidenschaft in ihrem Verlauf überaus heftig und je nach Umständen verbrecherisch in den Mitteln wird. Man kennt eine Heftigkeit der Schwäche, die sich nicht beherrschen kann; hier dagegen handelt es sich um eine Ausartung der Kraft. Bisweilen knüpft sich daran eine Entwicklung ins Kolossale; das Verbrechen gewinnt eine eigene, persönliche Konsistenz.

Schranken gibt es nur noch wenige. Der Gegenwirkung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates mit seiner Polizei fühlt sich jedermann, auch das gemeine Volk, innerlich entwachsen, und an die Gerechtigkeit der Justiz glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer Mordtat ist, bevor man irgend die näheren Umstände kennt, die Sympathie unwillkürlich auf Seiten des Mörders. Ein männliches, stolzes Auftreten vor und während der Hinrichtung erregt vollends solche Bewunderung, dass die Erzähler darob leicht vergessen, zu melden, warum der Betreffende verurteilt war. Wenn aber irgendwo zu der innerlichen Verachtung der Justiz und zu den vielen aufgesparten Vendetten noch die Straflosigkeit hinzutritt, etwa in Zeiten politischer Unruhen, dann scheint sich bisweilen der Staat und das bürgerliche Leben auflösen zu wollen. Solche Momente hatte Neapel beim Übergang von der aragonesischen auf die französische und auf die spanische Herrschaft, solche hatte auch Mailand bei der mehrmaligen Vertreibung und Wiederkehr der Sforza. Da kommen jene Menschen zum Vorschein, welche den Staat und die Gesellschaft insgeheim niemals anerkannt haben und nun ihre räuberische und mörderische Selbstsucht ganz souverän walten lassen. Betrachten wir beispielshalber ein Bild dieser Art aus einem kleineren Kreise.

Als das Herzogtum Mailand bereits um 1480 durch die inneren Krisen nach dem Tode des Galeazzo Maria Sforza erschüttert war, hörte in den Provinzialstädten jede Sicherheit auf. So in Parma, wo der mailändische Gubernator, durch Mordanschläge in Schrecken gesetzt, sich die Freilassung furchtbarer Menschen abringen ließ, wo Einbrüche, Demolitionen von Häusern, öffentliche Mordtaten etwas Gewöhnliches wurden, wo zuerst maskierte Verbrecher einzeln, dann ohne Scheu jede Nacht große bewaffnete Scharen herumzogen; dabei zirkulierten frevelhafte Spaße, Satiren, Drohbriefe und es erschien ein Spottsonett gegen die Behörden, welches dieselben offenbar mehr empörte als der entsetzliche Zustand selbst. Dass in vielen Kirchen die Tabernakel samt den Hostien geraubt wurden, verrät noch eine besondere Farbe und Richtung jener Ruchlosigkeit. Nun ist es wohl unmöglich, zu erraten, was in jedem Lande der Welt auch heute geschehen würde, wenn Regierung und Polizei ihre Tätigkeit einstellten und dennoch durch ihr Dasein die Bildung eines provisorischen Regimentes unmöglich machten; allein was damals in Italien bei solchen Anlässen geschah, trägt doch wohl einen besonderen Charakter durch starke Einmischung der Rache.

Im allgemeinen macht das Italien der Renaissance den Eindruck, als ob auch in gewöhnlichen Zeiten die großen Verbrechen häufiger gewesen wären als in anderen Ländern. Freilich könnte uns wohl der Umstand täuschen, dass wir hier verhältnismäßig weit mehr Spezielles davon erfahren als irgend anderswo und dass dieselbe Phantasie, welche auf das tatsächliche Verbrechen wirkt, auch das nichtgeschehene ersinnt. Die Summe der Gewalttaten war vielleicht anderswo dieselbe. Ob der Zustand z. B. in dem kraftvollen, reichen Deutschland um 1500, mit seinen kühnen Landstreichern, gewaltigen Bettlern und wegelagernden Rittern im ganzen sicherer gewesen, ob das Menschenleben wesentlich besser garantiert war, lässt sich schwer ermitteln. Aber so viel ist sicher, dass das prämeditierte, besoldete, durch dritte Hand geübte, auch das zum Gewerbe gewordene Verbrechen in Italien eine große und schreckliche Ausdehnung gewonnen hatte.

Blicken wir zunächst auf das Räuberwesen, so wird vielleicht Italien damals nicht mehr, in glücklicheren Gegenden, wie z. B. Toskana, sogar weniger davon heimgesucht gewesen sein als die meisten Länder des Nordens. Aber es gibt wesentlich italienische Figuren. Schwerlich findet sich anderswo z. B. die Gestalt des durch Leidenschaft verwilderten, allmählich zum Räuberhauptmann gewordenen Geistlichen, wovon jene Zeit unter anderen folgendes Beispiel liefert. Am 12. August 1495 wurde in einen eisernen Käfig außen am Turm von S. Giuliano zu Ferrara eingeschlossen der Pfarrer

Don Nicolò de’ Pelegati von Figarolo. Derselbe hatte zweimal seine erste Messe gelesen; das erstemal hatte er an demselben Tage einen Mord begangen und war darauf in Rom absolviert worden; nachher tötete er vier Menschen und heiratete zwei Weiber, mit welchen er herumzog. Dann war er bei vielen Tötungen anwesend, notzüchtigte Weiber, führte andere mit Gewalt fort, übte Raub in Masse, tötete noch viele und zog im Ferraresischen mit einer uniformierten bewaffneten Bande herum, Nahrung und Obdach mit Mord und Gewalt erzwingend. — Wenn man sich das Dazwischenliegende hinzudenkt, so ergibt sich für den Priester eine ungeheure Summe des Frevels. Es gab damals überall viele Mörder und andere Missetäter unter den so wenig beaufsichtigten und so hoch privilegierten Geistlichen und Mönchen, aber kaum einen Pelegati. Etwas anderes, obwohl auch nichts rühmliches, ist es, wenn verlorene Menschen sich in die Kutte stecken dürfen, um der Justiz zu entgehen, wie z. B. jener Korsar, den Massuccio in einem Kloster zu Neapel kannte. Wie es sich mit Papst Johann XXIII. in dieser Beziehung verhielt, ist nicht näher bekannt.

Die Zeit der individuell berühmten Räuberhauptleute beginnt übrigens erst später, im XVII. Jahrhundert, als die politischen Gegensätze, Guelfen und Ghibellinen, Spanier und Franzosen, das Land nicht mehr in Bewegung setzten; der Räuber löst den Parteigänger ab.

In gewissen Gegenden von Italien, wo die Kultur nicht hindrang, waren die Landleute permanent mörderisch gegen jeden von draußen, der ihnen in die Hände fiel. So namentlich in den entlegeneren Teilen des Königreiches Neapel, wo eine uralte Verwilderung vielleicht seit der römischen Latifundienwirtschaft sich erhalten hatte, und wo man den Fremden und den Feind, hospes und hostis, noch in aller Unschuld für gleichbedeutend halten mochte. Diese Leute waren gar nicht irreligiös; es kam vor, dass ein Hirt voll Angst im Beichtstuhl erschien, um zu bekennen, dass ihm während der Fasten beim Käsemachen ein paar Tropfen Milch in den Mund gekommen. Freilich fragte der sittenkundige Beichtvater bei diesem Anlass auch noch aus ihm heraus, dass er oft mit seinen Gefährten Reisende beraubt und ermordet hatte, nur dass dies als etwas Landesübliches keine Gewissensbisse rege machte. Wie sehr in Zeiten politischer Unruhen die Bauern auch anderswo verwildern konnten, ist bereits angedeutet worden.

Ein schlimmeres Zeichen der damaligen Sitte als die Räuberei ist die Häufigkeit der bezahlten, durch dritte Hand geübten Verbrechen. Darin ging zugestandenermaßen Neapel allen anderen Städten voran. „Hier ist gar nichts billiger zu kaufen als ein Menschenleben“, sagt Pontano. Aber auch andere Gegenden weisen eine furchtbare Reihe von Missetaten dieser Art auf. Man kann dieselben natürlich nur schwer nach den Motiven sondern, indem politische Zweckmäßigkeit, Parteihass, persönliche Feindschaft, Rache und Furcht durcheinander wirkten. Es macht den Florentinern die größte Ehre, dass damals bei ihnen, dem höchstentwickelten Volke von Italien, dergleichen am wenigsten vorkommt, vielleicht weil es für berechtigte Beschwerden noch eine Justiz gab, die man anerkannte, oder weil die höhere Kultur den Menschen eine andere Ansicht verlieh über das verbrecherische Eingreifen in das Rad des Schicksals; wenn irgendwo, so erwog man in Florenz, wie eine Blutschuld unberechenbar weiter wirkt und wie wenig der Anstifter auch bei einem sogenannten nützlichen Verbrechen eines überwiegenden und dauernden Vorteils sicher ist. Nach dem Untergang der florentinischen Freiheit scheint der Meuchelmord, hauptsächlich der gedungene, rasch zugenommen zu haben, bis die Regierung Cosimos I. so weit zu Kräften kam, dass seine Polizei allen Missetaten gewachsen war.

Im übrigen Italien wird das bezahlte Verbrechen häufiger oder seltener gewesen sein, je nachdem zahlungsfähige hochgestellte Anstifter vorhanden waren. Es kann niemandem einfallen, dergleichen statistisch zusammenzufassen, allein, wenn von all den Todesfällen, die das Gerücht als gewaltsam herbeigeführt betrachtete, auch nur ein kleiner Teil wirkliche Mordtaten waren, so macht dies schon eine große Summe aus. Fürsten und Regierungen gaben allerdings das schlimmste Beispiel: sie machten sich gar keine Bedenken daraus, den Mord unter die Mittel ihrer Allmacht zu zählen. Es bedurfte dazu noch keines Cesare Borgia; auch die Sforza, die Aragonesen, später auch die Werkzeuge Karls V. erlaubten sich, was zweckmäßig schien.

Die Phantasie der Nation erfüllte sich allmählich dergestalt mit Voraussetzungen dieser Art, dass man bei Mächtigen kaum mehr an einen natürlichen Tod glaubte. Freilich machte man sich von der Wirkungskraft der Gifte bisweilen fabelhafte Vorstellungen. Wir wollen glauben, dass jenes furchtbare weiße Pulver der Borgia auf bestimmte Termine berechnet werden konnte, und so mag auch dasjenige Gift wirklich ein venenum atterminatum gewesen sein, welches der Fürst von Salerno dem Kardinal von Aragon reichte mit den Worten: „in wenigen Tagen wirst du sterben, weil dein Vater, König Ferrante, uns alle hat zertreten wollen.“ Aber der vergiftete Brief, welchen Caterina Riario an Papst Alexander VI. sandte, würde diesen schwerlich umgebracht haben, auch wenn er ihn gelesen hätte; und als Alfons der Große von den Ärzten gewarnt wurde, ja nicht in dem Livius zu lesen, den ihm Cosimo de’ Medici übersandte, antwortete er ihnen gewiss mit Recht: höret auf, so töricht zu reden. Vollends hätte jenes Gift nur sympathetisch wirken können, womit der Sekretär Piccininos den Tragstuhl des Papstes Pius II. nur ein wenig anstreichen wollte. Wie weit es sich durchschnittlich um mineralische oder Pflanzengifte handelte, lässt sich nicht bestimmen; die Flüssigkeit, mit welcher der Maler Rosso Fiorentino (1541) sich das Leben nahm, war offenbar nur eine heftige Säure, welche man keinem andern hätte unbemerkt beibringen können. — Für den Gebrauch der Waffen, zumal des Dolches, zu heimlicher Gewalttat hatten die Großen in Mailand, Neapel und anderswo leider einen unaufhörlichen Anlass, indem unter den Scharen von Bewaffneten, welche sie zu ihrem eigenen Schutze nötig hatten, schon durch den bloßen Müßiggang hie und da sich eine wahre Mordlust ausbilden musste. Manche Gräueltat wäre wohl unterblieben, wenn der Herr nicht gewusst hätte, dass es bei diesem und jenem aus seinem Gefolge nur eines Winkes bedürfe.

Unter den geheimen Mitteln des Verderbens kommt — wenigstens der Absicht nach — auch die Zauberei vor, doch nur in sehr untergeordneter Weise. Wo etwa maleficii, malie u. dgl. erwähnt werden, geschieht es meist, um auf ein ohnehin gehasstes oder abscheuliches Individuum alle erdenklichen Schrecken zu häufen. An den Höfen von Frankreich und England im XIV. und XV. Jahrhundert spielt der verderbliche, tödliche Zauber eine viel größere Rolle als unter den höheren Ständen von Italien.

Endlich erscheinen in diesem Lande, wo das Individuelle in jeder Weise kulminiert, einige Menschen von absoluter Ruchlosigkeit, bei welchen das Verbrechen auftritt um seiner selber willen, nicht mehr als Mittel zu einem Zweck, oder wenigstens als Mittel zu Zwecken, welche sich aller psychologischen Norm entziehen.

Zu diesen entsetzlichen Gestalten scheinen zunächst auf den ersten Anblick einige Kondottieren zu gehören, ein Braccio von Montone, ein Tiberto Brandolino, und schon ein Werner von Urslingen, dessen silbernes Brustschild die Inschrift trug: Feind Gottes, des Mitleids und der Barmherzigkeit. Dass diese Menschenklasse im ganzen zu den frühesten völlig emanzipierten Frevlern gehörte, ist gewiss. Man wird jedoch behutsamer urteilen, sobald man inne wird, dass das allerschwerste Verbrechen derselben — nach dem Sinne der Aufzeichner — im Trotz gegen den geistlichen Bann liegt, und dass die ganze Persönlichkeit erst von da aus mit jenem fahlen, unheimlichen Lichte bestrahlt erscheint. Bei Braccio war diese Gesinnung allerdings so weit ausgebildet, dass er z.B. über psalmierende Mönche in Wut geraten konnte und sie von einem Turm herunterwerfen ließ, „allein gegen seine Soldaten war er doch loyal und ein großer Feldherr“. Überhaupt werden die Verbrechen der Kondottieren meist um des Vorteils willen begangen worden sein, auf Antrieb ihrer höchst demoralisierenden Stellung, und auch die scheinbar mutwillige Grausamkeit möchte in der Regel ihren Zweck gehabt haben, wäre es auch nur der einer allgemeinen Einschüchterung gewesen. Die Grausamkeiten der Aragonesen hatten, wie wir sahen, ihre Hauptquelle in Rachsucht und Angst. Einen unbedingten Blutdurst, eine teuflische Lust am Verderben wird man am ehesten bei dem Spanier Cesare Borgia finden, dessen Gräuel die vorhandenen Zwecke in der Tat um ein Bedeutendes überschreiten. Sodann ist eine eigentliche Lust am Bösen in Sigismondo Malatesta, dem Gewaltherrscher von Rimini erkennbar; es ist nicht nur die römische Kurie, sondern auch das Urteil der Geschichte, welches ihm Mord, Notzucht, Ehebruch, Blutschande, Kirchenraub, Meineid und Verrat, und zwar in wiederholten Fällen schuld gibt; das grässlichste aber, die versuchte Notzucht am eigenen Sohn Roberto, welche dieser mit gezücktem Dolche zurückwies, möchte doch wohl nicht bloß Sache der Verworfenheit, sondern eines astrologischen oder magischen Aberglaubens gewesen sein. Dasselbe hat man schon vermutet, um die Notzüchtigung des Bischofs von Fano durch Pierluigi Farnese von Parma, Sohn Pauls III., zu erklären. Wenn wir uns nun erlauben dürfen, die Hauptzüge des damaligen italienischen Charakters, wie er uns aus dem Leben der höheren Stände überliefert ist, zusammenzufassen, so würde sich etwa folgendes ergeben. Der Grundmangel dieses Charakters erscheint zugleich als die Bedingung seiner Größe: der entwickelte Individualismus. Dieser rei?t sich zuerst innerlich los von dem gegebenen, meist tyrannischen und illegitimen Staatswesen, und was er nun sinnt und tut, das wird ihm zum Verrat angerechnet, mit Recht oder mit Unrecht. Beim Anblick des siegreichen Egoismus unternimmt er selbst, in eigener Sache, die Verteidigung des Rechtes und verfällt durch die Rache, die er übt, den dunkeln Gewalten, während er seinen inneren Frieden herzustellen glaubt. Seine Liebe wendet sich am ehesten einem anderen entwickelten Individualismus zu, nämlich der Gattin seines Nächsten. Gegenüber von allem Objektiven, von Schranken und Gesetzen jeder Art hat er das Gefühl eigener Souveränität und entschließt sich in jedem einzelnen Falle selbständig, je nachdem in seinem Inneren Ehrgefühl und Vorteil, kluge Erwägung und Leidenschaft, Entsagung und Rachsucht sich vertragen.

Wenn nun die Selbstsucht im weiteren wie im engsten Sinne Wurzel und Hauptstamm alles Bösen ist, so wäre schon deshalb der entwickelte Italiener damals dem Bösen näher gewesen als andere Völker.

Aber diese individuelle Entwicklung kam nicht durch seine Schuld über ihn, sondern durch einen weltgeschichtlichen Ratschluss; sie kam auch nicht über ihn allein, sondern wesentlich vermittels der italienischen Kultur auch über alle anderen Völker des Abendlandes und ist seitdem das höhere Medium, in welchem dieselben leben. Sie ist an sich weder gut noch böse, sondern notwendig; innerhalb derselben entwickelt sich ein modernes Gutes und Böses, eine sittliche Zurechnung, welche von der des Mittelalters wesentlich verschieden ist.

Der Italiener der Renaissance aber hatte das erste gewaltige Daherwogen dieses neuen Weltalters zu bestehen. Mit seiner Begabung und seinen Leidenschaften ist er für alle Höhen und alle Tiefen dieses Weltalters der kenntlichste, bezeichnendste Repräsentant geworden; neben tiefer Verworfenheit entwickelt sich die edelste Harmonie des Persönlichen und eine glorreiche Kunst, welche das individuelle Leben verherrlichte, wie weder Altertum noch Mittelalter dies wollten oder konnten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 6. Buch