Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 6. Buch

Sitte und Religion
Autor: Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Renaissance, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Italien, Baukunst, Malerei, Skulpturen, Sitten und Gebräuche, Religion, Reformation
Das Verhältnis der einzelnen Völker zu den höchsten Dingen, zu Gott, Tugend und Unsterblichkeit, lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grade erforschen, niemals aber in strenger Parallele darstellen. Je deutlicher die Aussagen auf diesem Gebiete zu sprechen scheinen, desto mehr muss man sich vor einer unbedingten Annahme, einer Verallgemeinerung derselben hüten.

Vor allem gilt dies von dem Urteil über die Sittlichkeit. Man wird viele einzelne Kontraste und Nuancen zwischen den Völkern nachweisen können, die absolute Summe des Ganzen aber zu ziehen ist menschliche Einsicht zu schwach. Die große Verrechnung von Nationalcharakter, Schuld und Gewissen bleibt eine geheime, schon weil die Mängel eine zweite Seite haben, wo sie dann als nationale Eigenschaften, ja als Tugenden erscheinen. Solchen Autoren, welche den Völkern gerne allgemeine Zensuren, und zwar bisweilen im heftigsten Tone schreiben, muss man ihr Vergnügen lassen. Abendländische Völker können einander misshandeln, aber glücklicherweise nicht richten. Eine große Nation, die durch Kultur, Taten und Erlebnisse mit dem Leben der ganzen neueren Welt verflochten ist, überhört es, ob man sie anklage oder entschuldige; sie lebt weiter mit oder ohne Gutheißen der Theoretiker. [Aus: Kapitel I.]

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Inhaltsverzeichnis
    Sechster Abschnitt. Sitte und Religion
  1. Die Moralität: Grenzen des Urteils — Bewusstsein der Demoralisation — Das moderne Ehrgefühl — Herrschaft der Phantasie — Spielsucht und Rachsucht — Verletzung der Ehe — Sittliche Stellung der Frau — Die vergeistigte Liebe — Der allgemeine Frevelsinn — Räuberwesen — Der bezahlte Mord — Die Vergiftungen — Die absoluten Bösewichter — Verhältnis der Sittlichkeit zum Individualismus
  2. Die Religion im täglichen Leben: Mangel einer Reformation — Stellung der Italiener zur Kirche — Hass gegen Hierarchie und Mönchtum — Die Bettelmönche — Die dominikanische Inquisition — Die höheren Orden — Gewöhnung an die Kirche und ihre Segnungen — Die Bußprediger — Girolamo Savonarola — Das Heidnische im Volksglauben — Der Reliquienglaube — Der Mariendienst — Schwankungen im Kultus — Große Bußepidemien — Deren -polizeiliche Regelung in Ferrara
  3. Die Religion und der Geist der Renaissance: Notwendige Subjektivität — Weltlichkeit des Geistes — Toleranz gegen den Islam — Berechtigung aller Religionen — Einwirkung des Altertums — Sogenannte Epikureer — Die Lehre vom freien Willen — Die frommen Humanisten — Mittlere Richtung der Humanisten — Anfänge der Kritik des Heiligen — Fatalismus der Humanisten — Ihre heidnischen Äußerlichkeiten
  4. Verflechtung von antikem und neuerem Aberglauben: Die Astrologie — Ihre Verbreitung und ihr Einfluss — Ihre Gegner in Italien — Picos Widerlegung und deren Wirkung — Verschiedene Superstitionen — Aberglauben der Humanisten — Gespenster von Verstorbenen — Dämonenglaube — Die italienische Hexe — Das Hexenland bei Norcia — Einmischung und Grenzen des nordischen Hexenwesens — Zauberei der Buhlerinnen — Der Zauberer und Beschwörer — Die Dämonen auf der Strafte nach Rom — Einzelne Zaubergattungen — Die Telesmata — Magie bei Grundsteinlegungen — Der Nekromant bei den Dichtern — Zauber geschickte des Benvenuto Cellini — Abnahme des Zauberwesens — Nebengattungen desselben — Alchimie
  5. Erschütterung des Glaubens überhaupt: Die Beichte des Boscoli — Religiöse Konfusion und allgemeiner Zweifel — Streit über die Unsterblichkeit — Der Heidenhimmel — Das homerische Jenseits — Verflüchtigung der christlichen Lehren — Der italienische Theismus
Um aber zu den entscheidenden Schlüssen über die Religiosität der Menschen der Renaissance zu gelangen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Aus der geistigen Haltung derselben überhaupt muss ihr Verhältnis sowohl zu der bestehenden Landesreligion als zu der Idee des Göttlichen klar werden.

Diese modernen Menschen, die Träger der Bildung des damaligen Italiens, sind religiös geboren wie die Abendländer des Mittelalters, aber ihr mächtiger Individualismus macht sie darin wie in anderen Dingen völlig subjektiv, und die Fülle von Reiz, welche die Entdeckung der äußeren und der geistigen Welt auf sie ausübt, macht sie überhaupt vorwiegend weltlich. Im übrigen Europa dagegen bleibt die Religion noch länger ein objektives Gegebenes, und im Leben wechselt Selbstsucht und Sinnengenuß unmittelbar mit Andacht und Buße; letztere hat noch keine geistige Konkurrenz wie in Italien, oder doch eine unendliche geringere.

Ferner hatte von jeher der häufige und nahe Kontakt mit Byzantinern und mit Mohammedanern eine neutrale Toleranz aufrecht erhalten, vor welcher der ethnographische Begriff einer bevorrechteten abendländischen Christenheit einigermaßen zurücktrat. Und als vollends das klassische Altertum mit seinen Menschen und Einrichtungen ein Ideal des Lebens wurde, weil es die größte Erinnerung Italiens war, da überwältigte die antike Spekulation und Skepsis bisweilen den Geist der Italiener vollständig.

Da ferner die Italiener die ersten neueren Europäer waren, welche sich schrankenlos dem Nachdenken über Freiheit und Notwendigkeit hingaben, da sie dies taten unter gewaltsamen, rechtlosen politischen Verhältnissen, die oft einem glänzenden und dauernden Siege des Bösen ähnlich sahen, so wurde ihr Gottesbewusstsein schwankend, ihre Weltanschauung teilweise fatalistisch. Und wenn ihre Leidenschaftlichkeit bei dem Ungewissen nicht wollte stehen bleiben, so nahmen manche vorlieb mit einer Ergänzung aus dem antiken, orientalischen und mittelalterlichen Aberglauben; sie wurden Astrologen und Magier. [Aus: Kapitel III.]

Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte

Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte