Der vollkommene Gesellschaftsmensch: Seine Liebschaft — Seine äußeren und geistigen Fertigkeiten — Die Leibesübungen — Die Musik — Die Instrumente und das Virtuosentum — Der Dilettantismus in der Gesellschaft

Für die Höfe, im Grunde aber noch viel mehr um seiner selber willen bildet sich nun der Cortigiano aus, welchen Castiglione schildert. Es ist eigentlich der gesellschaftliche Idealmensch, wie ihn die Bildung jener Zeit als notwendige, höchste Blüte postuliert, und der Hof ist mehr für ihn als er für den Hof bestimmt. Alles wohl erwogen, könnte man einen solchen Menschen an keinem Hofe brauchen, weil er selber Talent und Auftreten eines vollkommenen Fürsten hat und weil seine ruhige, unaffektierte Virtuosität in allen äußeren und geistigen Dingen ein zu selbständiges Wesen voraussetzt. Die innere Triebkraft, die ihn bewegt, bezieht sich, obwohl es der Autor verhehlt, nicht auf den Fürstendienst, sondern auf die eigene Vollendung. Ein Beispiel wird dies klar machen; im Kriege nämlich verbittet sich der Cortigiano selbst nützliche und mit Gefahr und Aufopferung verbundene Aufgaben, wenn dieselben stillos und* unschön sind, wie etwa das Wegfangen einer Herde; was ihn zur Teilnahme am Kriege bewegt, ist ja nicht die Pflicht an sich, sondern „l’honore“. Die sittliche Stellung zum Fürsten, wie sie im vierten Buch verlangt wird, ist eine sehr freie und selbständige. Die Theorie der vornehmen Liebschaft (im dritten Buche) enthält sehr viele feine psychologische Beobachtungen, die aber besserenteils dem allgemein menschlichen Gebiet angehören, und die große, fast lyrische Verherrlichung der idealen Liebe (am Ende des vierten Buches) hat vollends nichts mehr zu tun mit der speziellen Aufgabe des Werkes. Doch zeigt sich auch hier wie in der Asolani des Bembo die ungemeine Höhe der Bildung in der Art, wie die Gefühle verfeinert und analysiert auftreten. Dogmatisch beim Worte nehmen darf man diese Autoren allerdings nicht. Dass aber Reden dieser Art in der vornehmeren Gesellschaft vorkamen, ist nicht zu bezweifeln, und dass nicht bloßes Schöntun, sondern auch wahre Leidenschaft in diesem Gewande erschien, werden wir unten sehen.

Von den äußerlichen Fertigkeiten werden beim Cortigiano zunächst die sogenannten ritterlichen Übungen in Vollkommenheit verlangt, außerdem aber auch noch manches andere, das nur an einem geschulten, gleichmäßig fortbestehenden, auf persönlichstem Wetteifer begründeten Hof gefordert werden konnte, wie es damals außerhalb Italiens keinen gab; Mehreres beruht auch sichtlich nur auf einem allgemeinen, beinahe abstrakten Begriff der individuellen Vollkommenheit. Der Cortigiano muss mit allen edlen Spielen vertraut sein, auch mit dem Springen, Wettlaufen, Schwimmen, Ringen; hauptsächlich muss er ein guter Tänzer sein (wie sich von selbst versteht) ein nobler Reiter. Dazu aber muss er mehrere Sprachen, mindestens Italienisch und Latein besitzen, und sich auf die schöne Literatur verstehen, auch über die bildenden Künste ein Urteil haben; in der Musik fordert man von ihm sogar einen gewissen Grad von ausübender Virtuosität, die er überdies möglichst geheim halten muss. Gründlicher Ernst ist es natürlich mit nichts von allem, ausgenommen die Waffen; aus der gegenseitigen Neutralisierung des Vielen entsteht eben das absolute Individuum, in welchem keine Eigenschaft aufdringlich vorherrscht.


So viel ist gewiss, dass im XVI. Jahrhundert die Italiener sowohl als theoretische Schriftsteller wie als praktische Lehrer das ganze Abendland in die Schule nahmen für alle edleren Leibesübungen und für den höheren geselligen Anstand. Für Reiten, Fechten und Tanzen haben sie durch Werke mit Abbildungen und durch Unterricht den Ton angegeben; das Turnen, abgelöst von der Kriegsübung wie vom bloßen Spiel, ist vielleicht zu allererst von Vittorino da Feltre gelehrt worden, und dann ein Requisit der höheren Erziehung geblieben. Entscheidend ist dabei, dass es 1 kunstgemäß gelehrt wird; welche Übungen vorkamen, ob die jetzt vorwiegenden auch damals bekannt waren, können wir freilich nicht ermitteln. Wie sehr aber außer der Kraft und Gewandtheit auch die Anmut als Zweck und Ziel galt, geht nicht nur aus der sonst bekannten Denkweise der Nation, sondern auch aus bestimmten Nachrichten hervor. Es, genügt an den großen Federigo von Montefeltro zu erinnern, wie er die abendlichen Spiele der ihm anvertrauten jungen Leute leitete.

Spiele und Wettübungen des Volkes unterschieden sich wohl nicht wesentlich von den im übrigen Abendlande verbreiteten. In den Seestädten kam natürlich das Wettrudern hinzu und die venezianischen Regatten waren schon früh berühmt. Das klassische Spiel Italiens war und ist bekanntlich das Ballspiel, und auch dieses möchte schon zur Zeit der Renaissance mit viel größerem Eifer und Glänze geübt worden sein als anderswo in Europa. Doch ist es nicht wohl möglich, bestimmte Zeugnisse für diese Annahme zusammenzubringen.

An dieser Stelle muss auch von der Musik die Rede sein. Die Komposition war noch um 1500 vorherrschend in den Händen der niederländischen Schule, welche wegen der ungemeinen Künstlichkeit und Wunderlichkeit ihrer Werke bestaunt wurde. Doch gab es schon daneben eine italienische Musik, welche ohne Zweifel unserem jetzigen Tongefühl etwas näher stand. Ein halbes Jahrhundert später tritt Palestrina auf, dessen Gewalt sich auch heute noch alle Gemüter unterwerfen; wir erfahren auch, er sei ein großer Neuerer gewesen, allein ob er oder andere den entscheidenden Schritt in die Tonsprache der modernen Welt hinein getan haben, wird nicht so erörtert, dass der Laie sich einen Begriff von dem Tatbestand machen könnte. Indem wir daher die Geschichte der musikalischen Komposition gänzlich auf sich beruhen lassen, suchen wir die Stellung der Musik zur damaligen Gesellschaft auszumitteln.

Höchst bezeichnend für die Renaissance und für Italien ist vor allem die reiche Spezialisierung des Orchesters, das Suchen nach neuen Instrumenten, d. h. Klangarten, und — in engem Zusammenhang damit — das Virtuosentum, d. h. das Eindringen des Individuellen im Verhältnis zu bestimmten Zweigen der Musik und zu bestimmten Instrumenten.

Von denjenigen Tonwerkzeugen, welche eine ganze Harmonie ausdrücken können, ist nicht nur die Orgel frühe sehr verbreitet und vervollkommnet, sondern auch das entsprechende Saiteninstrument, das gravicembalo oder clavicembalo; Stücke von solchen aus dem Beginn des XIV. Jahrhunderts werden bekanntlich noch aufbewahrt, weil die größten Maler sie mit Bildern schmückten. Sonst nahm die Geige den ersten Rang ein und gewährte bereits große persönliche Zelebrität. Bei Leo X., der schon als Kardinal sein Haus voller Sänger und Musiker gehabt hatte und der als Kenner und Mitspieler eine hohe Reputation genoss, wurden der Jude Giovan Maria und Jacopo Sansecondo berühmt; ersterem gab Leo den Grafentitel und ein Städtchen; letzteren glaubt man in dem Apoll auf Raffaels Parnaß dargestellt zu sehen. Im Verlauf des XVI. Jahrhunderts bildeten sich dann Renommeen für jede Gattung, und Lomazzo (um 1580) nennt je drei namhaft gewordene Virtuosen für Gesang, Orgel, Laute, Lyra, Viola da Gamba, Harfe, Zither, Hörner und Posaunen; er wünscht, dass ihre Bildnisse auf die Instrumente selbst gemalt werden möchten. Solch ein vielseitiges vergleichendes Urteil wäre wohl in jener Zeit außerhalb Italiens ganz undenkbar, wenn auch fast dieselben Instrumente überall vorgekommen sein mögen.

Der Reichtum an Instrumenten sodann geht besonders daraus hervor, dass es sich lohnte, aus Kuriosität Sammlungen derselben anzulegen. In dem höchst musikalischen Venedig gab es mehrere dergleichen, und wenn eine Anzahl Virtuosen sich dazu einfanden, so ergab sich gleich an Ort und Stelle ein Konzert. (In einer dieser Sammlungen sah man auch viele nach antiken Abbildungen und Beschreibungen verfertigte Tonwerkzeuge, nur wird nicht gemeldet, ob sie jemand spielen konnte und wie sie klangen.) Es ist nicht zu vergessen, dass solche Gegenstände zum Teil ein festlich prachtvolles Äußeres hatten und sich schön gruppieren ließen. Auch in Sammlungen anderer Raritäten und Kunstsachen pflegen sie sich deshalb als Zugabe einzufinden.

Die Exekutanten selbst sind außer den eigentlichen Virtuosen entweder einzelne Liebhaber oder ganze Orchester von solchen, etwa als „Akademie“ korporationsmäßig zusammengestellt. Sehr viele bildende Künstler waren auch in der Musik bewandert und oft Meister. — Leuten vom Stande wurden die Blasinstrumente abgeraten aus denselben Gründen, welche einst den Alkibiades und selbst Pallas Athene davon abgeschreckt haben sollen; die vornehme Geselligkeit liebte den Gesang entweder allein oder mit Begleitung der Geige; auch das Streichquartett und, um der Vielseitigkeit willen, das Klavier; aber nicht den mehrstimmigen Gesang, „denn eine Stimme höre, genieße und beurteile man weit besser“. Mit anderen Worten, da der Gesang trotz aller konventionellen Bescheidenheit eine Exhibition des einzelnen Gesellschaftsmenschen bleibt, so ist es besser, man höre (und sehe) jeden besonders. Wird ja doch die Wirkung der süßesten Gefühle in den Zuhörerinnen vorausgesetzt und deshalb den alten Leuten eine ausdrückliche Abmahnung erteilt, auch wenn sie noch so schön spielten und sängen. Es kam sehr darauf an, dass der einzelne einen aus Ton und Gestalt harmonisch gemischten Eindruck hervorbringe. Von einer Anerkennung der Komposition als eines für sich bestehenden Kunstwerkes ist in diesen Kreisen keine Rede. Dagegen kommt es vor, dass der Inhalt der Worte ein furchtbares eigenes Schicksal des Sängers schilderte.

Offenbar ist dieser Dilettantismus, sowohl der vornehmeren als der mittleren Stände, in Italien verbreiteter und zugleich der eigentlichen Kunst näher verwandt gewesen als in irgendeinem anderen Lande. Wo irgend Geselligkeit geschildert wird, ist auch immer und mit Nachdruck Gesang und Saitenspiel erwähnt; Hunderte von Porträts stellen die Leute, oft mehrere zusammen, musizierend oder doch mit der Laute usw. im Arm dar, und selbst in Kirchenbildern zeigen die Engelkonzerte, wie vertraut die Maler mit der lebendigen Erscheinung der Musizierenden waren. Bereits erfährt man z. B. von einem Lautenspieler Antonio Rota in Padua († 1549), der vom Stundengeben reich wurde und auch eine Lautenschule drucken ließ.

In einer Zeit, da noch keine Oper den musikalischen Genius zu konzentrieren und zu monopolisieren angefangen hatte, darf man sich wohl dieses Treiben geistreich, vielartig und wunderbar eigentümlich vorstellen. Eine andere Frage ist, wie weit wir noch an jener Tonwelt teilhätten, wenn unser Ohr sie wieder vernähme.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 5. Buch