Vorbemerkung: Ausdehnung des Begriffs Renaissance — Das Altertum im Mittelalter — Sein frühes Wieder erwachen in Italien — Lateinische Poesie des XU. Jahrhunderts — Der Geist des XIV. Jahrhunderts

Auf diesem Punkte unserer kulturgeschichtlichen Übersicht angelangt, müssen wir des Altertums gedenken, dessen „Wiedergeburt“ in einseitiger Weise zum Gesamtnamen des Zeitraums überhaupt geworden ist. Die bisher geschilderten Zustände würden die Nation erschüttert und gereift haben auch ohne das Altertum, und auch von den nachher aufzuzählenden neuen geistigen Richtungen wäre wohl das meiste ohne dasselbe denkbar; allein wie das Bisherige so ist auch das folgende doch von der Einwirkung der antiken Welt mannigfach gefärbt, und wo das Wesen der Dinge ohne dieselbe verständlich und vorhanden sein würde, da ist es doch die Äußerungsweise im Leben nur mit ihr und durch sie. Die „Renaissance“ wäre nicht die hohe weltgeschichtliche Notwendigkeit gewesen, die sie war, wenn man so leicht von ihr abstrahieren könnte. Darauf aber müssen wir beharren, als auf einem Hauptsatz dieses Buches, dass nicht sie allein, sondern ihr enges Bündnis mit dem neben ihr vorhandenen italienischen Volksgeist die abendländische Welt bezwungen hat. Die Freiheit, welche sich dieser Volksgeist dabei bewahrte, ist eine ungleiche und scheint, sobald man z. B. nur auf die neulateinische Literatur sieht, oft sehr gering; in der bildenden Kunst aber und in mehreren anderen Sphären ist sie auffallend groß und das Bündnis zwischen zwei weit auseinander liegenden Kulturepochen desselben Volkes erweist sich als ein, weil höchst selbständiges, deshalb auch berechtigtes und fruchtbares. Das übrige Abendland mochte zusehen, wie es den großen, aus Italien kommenden Antrieb abwehrte oder sich halb oder ganz aneignete; wo letzteres geschah, sollte man sich die Klagen über den frühzeitigen Untergang unserer mittelalterlichen Kulturformen und Vorstellungen ersparen. Hätten sie sich wehren können, so würden sie noch leben. Wenn jene elegischen Gemüter, die sich danach zurücksehnen, nur eine Stunde darin zubringen müßten, sie würden heftig nach moderner Luft begehren. Dass bei großen Prozessen jener Art manche edle Einzelblüte mit zu Grunde geht, ohne in Tradition und Poesie unvergänglich gesichert zu sein, ist gewiss; allein das große Gesamtereignis darf man deshalb nicht ungeschehen wünschen. Dieses Gesamtereignis besteht darin, dass neben der Kirche, welche bisher (und nicht mehr für lange) das Abendland zusammenhielt, ein neues geistiges Medium entsteht, welches, von Italien her sich ausbreitend, zur Lebensatmosphäre für alle höher gebildeten Europäer wird. Der schärfste Tadel, den man darüber aussprechen kann, ist der der Unvolkstümlichkeit, der erst jetzt notwendig eintretenden Scheidung von Gebildeten und Ungebildeten in ganz Europa. Dieser Tadel ist aber ganz wertlos, sobald man eingestehen muss, dass die Sache noch heute, obwohl klar erkannt, doch nicht beseitigt werden kann. Und diese Scheidung ist überdies in Italien lange nicht so herb und unerbittlich als anderswo. Ist doch ihr größter Kunstdichter Tasso auch in den Händen der Ärmsten. Das römisch-griechische Altertum, welches seit dem XIV. Jahrhundert so mächtig in das italienische Leben eingriff, als Anhalt und Quelle der Kultur, als Ziel und Ideal des Daseins, teilweise auch als bewusster neuer Gegensatz, dieses Altertum hatte schon längst stellenweise auf das ganze, auch außeritalienische Mittelalter eingewirkt. Diejenige Bildung, welche Karl der Große vertrat, war wesentlich eine Renaissance, gegenüber der Barbarei des VII. und VIII. Jahrhunderts, und konnte nichts anderes sein. Wie hierauf in die romanische Baukunst des Nordens außer der allgemeinen, vom Altertum ererbten Formengrundlage auch auffallende, direkt antike Formen sich einschleichen, so hatte die ganze Klostergelehrsamkeit allmählich eine große Masse von Stoff aus römischen Autoren in sich aufgenommen und auch der Stil derselben blieb seit Einhard nicht ohne Nachahmung.

Anders aber als im Norden wacht das Altertum in Italien wieder auf. Sobald hier die Barbarei aufhört, meldet sich bei dem noch halb antiken Volk die Erkenntnis seiner Vorzeit; es feiert sie und wünscht sie zu reproduzieren. Außerhalb Italiens handelt es sich um eine gelehrte, reflektierte Benützung einzelner Elemente der Antike, in Italien um eine gelehrte und zugleich populäre sachliche Parteinahme für das Altertum überhaupt, weil dasselbe die Erinnerung an die eigene alte Größe ist. Die leichte Verständlichkeit des Lateinischen, die Menge der noch vorhandenen Erinnerungen und Denkmäler befördert diese Entwicklung gewaltig. Aus ihr und aus der Gegenwirkung des inzwischen doch anders gewordenen Volksgeistes, der germanisch-langobardischen Staatseinrichtungen, des allgemein europäischen Rittertums, der übrigen Kultureinflüsse aus dem Norden und der Religion und Kirche erwächst dann das neue Ganze: der modern-italienische Geist, welchem es bestimmt war, für den ganzen Okzident maßgebendes Vorbild zu werden.


Wie sich in der bildenden Kunst das Antike regt, sobald die Barbarei aufhört, zeigt sich z. B. deutlich bei Anlass der toskanischen Bauten des XII. und der Skulpturen des XIII. Jahrhunderts. Auch in der Dichtkunst fehlen die Parallelen nicht, wenn wir annehmen dürfen, dass der größte lateinische Dichter des XII. Jahrhunderts, ja der, welcher für eine Gattung der damaligen lateinischen Poesie den Ton angab, ein Italiener gewesen sei. Es ist derjenige, welchem die besten Stücke der sogenannten Carmina Burana angehören. Eine ungehemmte Freude an der Welt und ihren Genüssen, als deren Schutzgenien die alten Heidengötter wieder erscheinen, strömt in prachtvollem Fluss durch die gereimten Strophen. Wer sie in einem Zuge liest, wird die Ahnung, dass hier ein Italiener, wahrscheinlich ein Lombarde spreche, kaum abweisen können; es gibt aber auch bestimmte einzelne Gründe dafür. Bis zu einem gewissen Grade sind diese lateinischen Poesien der Clerici vagantes des XII. Jahrhunderts allerdings ein gemeinsames europäisches Produkt, mitsamt ihrer großen, auffallenden Frivolität, allein der, welcher den Gesang de Phyllide et Flora und das Aestuans interius usw. gedichtet hat, war vermutlich kein Nordländer, und auch der feine, beobachtende Sybarit nicht, von welchem Dum Dianas vitrea sero lampas oritur herrührt. Hier ist eine Renaissance der antiken Weltanschauung, die nur um so klarer in die Augen fällt neben der mittelalterlichen Reimform. Es gibt manche Arbeit dieses und der nächsten Jahrhunderte, welche Hexameter und Pentameter in sorgfältiger Nachbildung und allerlei antike, zumal mythologische Zutat in den Sachen aufweist und doch nicht von ferne jenen antiken Eindruck hervorbringt. In den hexametrischen Chroniken u. a. Produktionen von Guilielmus Appulus an begegnet man oft einem emsigen Studium des Virgil, Ovid, Lucan, Statius und Claudian, allein die antike Form bleibt bloße Sache der Gelehrsamkeit, gerade wie der antike Stoff bei Sammelschriftstellern in der Weise des Vinzenz von Beauvais oder bei dem Mythologen und Allegoriker Alanus ab Insulis. Die Renaissance ist eben nicht stückweise Nachahmung und Aufsammlung, sondern Wiedergeburt, und eine solche findet sich in der Tat in jenen Gedichten des unbekannten Clericus aus dem XII. Jahrhundert.

Die große, allgemeine Parteinahme der Italiener für das Altertum aber beginnt erst mit dem XIV. Jahrhundert. Es war dazu eine Entwicklung des städtischen Lebens notwendig, wie sie nur in Italien und erst jetzt vorkam: Zusammenwohnen und tatsächliche Gleichheit von Adeligen und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Gesellschaft, welche sich bildungsbedürftig fühlte und Muße und Mittel übrig hatte Die Bildung aber, sobald sie sich von der Phantasiewelt des Mittelalters losmachen wollte, konnte nicht plötzlich durch bloße Empirie zur Erkenntnis der physischen und geistigen Welt durchdringen, sie bedurfte eines Führers, und als solchen bot sich das klassische Altertum dar mit seiner Fülle objektiver, evidenter Wahrheit in allen Gebieten des Geistes. Man nahm von ihm Form und Stoff mit Dank und Bewunderung an; es wurde einstweilen der Hauptinhalt jener Bildung. Auch die allgemeinen Verhältnisse Italiens waren der Sache günstig; das Kaisertum des Mittelalters hatte seit dem Untergang der Hohenstaufen entweder auf Italien verzichtet oder konnte sich daselbst nicht halten; das Papsttum war nach Avignon übergesiedelt; die meisten tatsächlich vorhandenen Mächte waren gewaltsam und illegitim; der zum Bewusstsein geweckte Geist aber war im Suchen nach einem neuen haltbaren Ideal begriffen, und so konnte sich das Scheinbild und Postulat einer römisch-italischen Weltherrschaft der Gemüter bemächtigen, ja eine praktische Verwirklichung versuchen mit Cola di Rienzo. Wie er, namentlich bei seinem ersten Tribunat, die Aufgabe anfasste, musste es allerdings nur zu einer wunderlichen Komödie kommen, allein für das Nationalgefühl war die Erinnerung an das alte Rom durchaus kein wertloser Anhalt. Mit seiner Kultur aufs neue ausgerüstet, fühlte man sich bald in der Tat als die vorgeschrittenste Nation der Welt.

Diese Bewegung der Geister nicht in ihrer Fülle, sondern nur in ihren äußeren Umrissen, und wesentlich in ihren Anfängen zu zeichnen ist nun unsere nächste Aufgabe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 3. Buch